IMI-Standunkt 2023/035

Taurus: Meinungsmache vs. Verfassungsrecht

Stimmungsmache und blinde Flecken in der Berichterstattung

von: Bernhard Klaus | Veröffentlicht am: 28. September 2023

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Seit Wochen wird in Deutschland etwas niederschwelliger eine Debatte nach bekanntem Muster geführt. Wieder geht es um ein Waffensystem, das die Ukrainische Regierung von Deutschland einfordert, diesmal um den Marschflugkörper Taurus. Wieder wird dem Kanzler von Medien und Politiker*innen Zögern vorgeworfen und auf verbündete Regierungen verwiesen, welche (vermeintlich) ähnliche Waffensysteme bereits an die Ukraine geliefert hätten.1 Ende September wurde die Debatte um eine Facette reicher, nachdem angedeutet worden war, dass der Marschflugkörper sein Ziel auf der Grundlage von Geodaten ansteuert, die man dann ebenfalls der Ukraine zur Verfügung stellen müsse – oder die Zielprogrammierung müsse durch Bundeswehrsoldaten erfolgen. In diesem Zusammenhang wurde dann auch die Fragestellung aufgeworfen, ob die Lieferung der Taurus-Raketen nicht ein Bundeswehrmandat voraussetzen würde, da es sich damit um einen „Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte im Ausland“ handeln könnte. Damit würde, so die Befürchtung, die Schwelle zur offiziellen Beteiligung Deutschlands am Krieg in der Ukraine vollends überschritten.

Die technischen Voraussetzungen sind kompliziert. Viele Medien suggerieren eher beiläufig, man könne im entsprechenden Datensatz einfach das Territorium der Ukraine isolieren, und die Marschflugkörper mit diesem eingeschränkten Datensatz liefern. Genau zu wissen, ob das funktioniert, scheint jedoch niemand in der schreibenden Zunft. Die FAZ, welche die Frage um die Mandatspflichtigkeit – dankenswerter Weise – am 21.9.2023 unter dem Titel „An der Grenze zur Konfliktpartei“ wesentlich mit angeschoben hatte, versuchte sie mit dem Verweis auf anonyme „[f]ranzösische Sicherheitsfachleute“ wenige Tage später wieder entschärfen. Diesmal unter dem Titel „Kein Verständnis für das deutsche Zögern“ wird dort verlautbart: „Die Ukraine verfüge bereits über alle relevanten Geodaten und äußerst agile Programmierer, heißt es in Paris“.2 Diese vage Behauptung gilt dann vielen beim Tanz auf Messers Schneide der Kriegsbeteiligung als völlig ausreichend. Für andere scheinen verfassungs- und völkerrechtliche Fragen ohnehin hinter den Forderungen des ukrainischen Militärapparates völlig in den Hintergrund zu treten.

Eine Suche in den mir zugänglichen Printpublikationen vom 27.9.2023 zu den Begriffen „Taurus“, „Mandat“ und „Geodaten“ jedenfalls liefert ein trauriges Bild der hierzu bestehenden Meinungsvielfalt. Von den 22 Treffern tragen 17 den Titel „Nur eine Frage der Zeit“ und weitere vier den Titel „Kiew braucht die Taurus-Raketen“. In beiden Fällen handelt es sich um nahezu inhaltsgleiche Leitartikel desselben Autors, Holger Möhle, der u.a. vom Bonner Generalanzeiger und der Rheinischen Post als Berlin-Korrespondent genannt wird. Sein Leitartikel erschien darüber hinaus u.a. in der Nordwest-Zeitung, der Saarbrücker Zeitung, dem Wiesbadener Kurier, der Oberhessischen Zeitung usw. Der Tenor ist so simpel, wie einfallslos: weil „die Vereinigten Staaten der Ukraine wohl auch Raketen vom Typ ATACMS“ liefern wollen, „wächst der Druck auf die Bundesregierung, Marschflugkörper vom Typ Taurus freizugeben“. Dann wird auch hier sehr holzschnittartig das Problem mit den Geodaten und der Mandatspflichtigkeit angesprochen, um zu schließen: „Die rote Linie zur Kriegsbeteiligung soll nicht überschritten werden. Doch für die Lieferung spricht: Damit könnten die ukrainischen Streitkräfte hinter russische Linien reichen und den Nachschub abschneiden. Was also soll der Zauber? Deutschland wird Taurus liefern, es ist nur eine Frage der Zeit. Wenn damit der Krieg verkürzt und vielen Menschen zusätzliches Leid erspart werden kann, ist die Entscheidung ohnehin richtig“.3

Die wievielte Waffe ist dies nun eigentlich, von der ein schnelleres Ende des Krieges erwartet wird und was spricht dafür, dass durch Marschflugkörper „vielen Menschen zusätzliches Leid erspart“ werden könne. Solche Behauptungen basieren letztlich auf der Vorstellung eines schnellen Durchmarsches der ukrainischen Armee bis zum vollständigen Rückzug der russischen Armee – ein Szenario, das letztlich so gut wie niemand als auch nur halbwegs realistisch einstuft. Vielmehr gehen auch westliche Regierungen und Denkfabriken offen davon aus, dass es sich längst um einen Abnutzungskrieg handelt, der noch sehr lange dauern könnte und wahrscheinlich auch wird. Die langfristige Perspektive scheint tatsächlich darin zu bestehen, Russland auf Dauer zu ruinieren. Dazu könnten die Taurus einen bescheidenen Beitrag leisten – auf Kosten vieler Menschenleben auf beiden Seiten und einer weiterhin steigenden Eskalationsgefahr. A Propos Menschenleben: Die Verluste der eigenen Armee gelten in der Ukraine als Staatsgeheimnis. Nahezu alle westlichen Medien und Politiker*innen unterwerfen sich dieser Informationsblockade völlig ohne Zwang – und Vernunft. Deshalb existieren keine seriösen Schätzungen über die Verlustrate, die ein entscheidendes Kriterium dabei ist, die „Erfolgsaussichten“ in einem Abnutzungkrieg kalkulieren zu können.

Zurück zu den Taurus: herausragendes Merkmal dieser ist nicht nur ihre große Reichweite und Nutzlast, sondern ihre Fähigkeit, sehr niedrig und über Umwege ins Ziel zu fliegen. Sie ist dadurch sehr schwer, abzufangen. Die niedrige Flughöhe wird durch ganz spezielle Geodaten ermöglicht, die sich die Bundesregierung (und damit die Steuerzahler*innen) einiges hat kosten lassen. 2010 schickten das Deutsche Zentrum Luft- und Raumfahrt (DLR) und Airbus mit Tandem-X gemeinsam zwei Satelliten in den Orbit, die nahe beieinander fliegend Aufnahmen der Erdoberfläche machten und somit jenes digitale Höhenmodell der Erde erstellten, das Taurus nutzt, um tief fliegen zu können. Das Projekt wurde damals mit 300 Mio. Euro vom Bundeswirtschaftsministerium gefördert – die erstellten Datensätze zur militärischen Nutzung wurden dann später wiederum für 475 Mio. Euro Steuergelder von Airbus und dem DLR eingekauft.

Wo genau dieser Datensatz liegt, ist der Presseberichterstattung nicht zu entnehmen. Vorstellungen einzelner Kommenator*innen, dass sich ein entsprechend auf die Ukraine reduzierter Datensatz mal eben per USB-Stick an die Ukraine übergeben ließe, erscheinen wenig realistisch. Falls die Daten in irgendeinem Rechenzentrum des DLR oder von Airbus in Deutschland liegen, wäre die Sache deutlich heikler. Dann müsste dem ukrainischen Militär hier ein Zugang gegeben werden oder eben deutsches Personal selbst eingebunden werden. In beiden Fällen würde man damit einer unmittelbaren deutschen Kriegsbeteiligung deutlich näher kommen. Dies zu recherchieren, wäre Aufgabe eines Qualitätsjournalismus, wie ihn deutsche Leitmedien gerne für sich reklamieren (und monopolisieren), während sie sich stattdessen lieber auf plumpe Stimmungsmache konzentrieren. Dazu gehört im Falle der Taurus auch, dass weitgehend ausgeblendet oder allenfalls beiläufig angesprochen wird, ob diese unter das Raketentechnologie-Kontrollregimes (MTCR) fallen – ein Teil der internationalen Bemühungen, die Verbreitung von Atom- und anderen Massenvernichtungswaffen über die Einschränkung von Trägersystemen zu verhindern. Mit der Lieferung von Taurus würde sich ganz nebenbei auch von diesen Bemühungen abgewendet.

Nachtrag: Ein Leser hat uns darauf aufmerksam gemacht, dass auch Angaben existieren, wonach Storm Shadow/Scalp eine vergleichbare Reichweite hätten, wie Taurus. Das würde das zentrale Argument der Argumentation von David Axe in Fußnote 1 entkräften. Eine dieser Quellen findet sich z.B. bei popularmechanics.com und en.wikipedia.org. Deutlich mehr Quellen gehen jedoch wie Axe von einer geringeren Reichweite der französischen und bristischen Marschflugkörper aus, konkret meist von 150-155 Meilen (ca 250km).

Anmerkungen

1 David Axe beschreibt bei Forbes die Unterschiede zwischen den deutschen Taurus und den bislang von Großbritannien und Frankreich gelieferten Marschflugkörpern vom Typ Storm Shadow bzw. Scalp: David Axe: There’s A Very Good Reason Ukraine Wants German Taurus Missiles – They Fly Farther, forbes.com, 8.8.2023.

2 Johannes Leithäuser, Michaela Wiegel: Kein Verständnis für das deutsche Zögern, faz.net, 25.9.2023.

3 Holger Möhle: „Kiew braucht die Taurus-Raketen“, diverse Tageszeitungen am 27.9.2023, online unter https://www.pressreader.com.