IMI-Analyse 2023/45 in: Ausdruck September 2023

Checkpoint Management

Israels industrielle Reservearmee in den besetzten palästinensischen Gebieten

von: Lena Schmailzl | Veröffentlicht am: 26. September 2023

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Die israelischen Grenzanlagen werden meist unter dem Aspekt der „Sicherheit“ diskutiert. Es lässt sich berechtigterweise fragen, um wessen Sicherheit und welche Art von Sicherheit es hier geht. Dieser Artikel setzt einen anderen Fokus: Anhand des Checkpoints Nilin im besetzten Westjordanland wird die Rolle der Sperranlage in der israelischen Besatzung umrissen.

„Das Haus dort ist meines“, erklärt Hamza mir lachend, während er auf ein mehrstöckiges Gebäude auf dem gegenüberliegenden Hügel deutet. Es ist noch nicht fertig, mehrere Kräne und Baustellenfahrzeuge stehen noch auf der Baustelle, doch es ist schon zu erkennen, dass es ein großes und modernes Gebäude werden wird. Es steht in einem Block mit mehreren anderen, identischen Häusern. In den nächsten Monaten werden sie fertig werden. Als ich das erste Mal nach Bilin kam, war der Hügel noch unbebaut, jetzt erstreckt sich dort ein ganzes Viertel, mit Spielplätzen und neuen Straßen. Es ist nur einige hundert Meter von uns entfernt – und trotzdem eine völlig andere Welt. Das Haus – Hamzas Haus – steht auf der anderen Seite der Mauer. Es ist Teil eines Neubaugebiets der Siedlung „Modiin Ilit“, gelegen etwa auf halbem Weg zwischen Ramallah und Tel Aviv, gebaut auf dem Land der palästinensischen Dörfer Bilin, Safa, Kharbatha und Deir Quaddis. Und natürlich ist es nicht wirklich sein Haus, es ist das Haus, in dem er zurzeit als Bauarbeiter eingesetzt wird. Er ist einer von tausenden palästinensischen Arbeiter:innen, die täglich auf die andere Seite der Mauer pendeln, um dort ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Ein sehr großer Teil von ihnen arbeitet im Bau, weitere in Landwirtschaft und Industrie.1 Die große Mehrheit sind Männer, wobei die Zahl der Frauen zunimmt.

Das ist keine Grenze

Der tägliche Arbeitsweg dieser Arbeiter:innen führt über einen Checkpoint. Auch Hamza muss, um zu „seinem Haus“ zu gelangen, mehr als 20 Kilometer zum nächsten Checkpoint fahren, obwohl die Baustelle nur etwa einen Kilometer von seinem Wohnort entfernt ist. Palästinensische Arbeiter:innen dürfen nicht jeden Checkpoint nutzen, um die Mauer zu überwinden, die meisten Übergänge sind ausschließlich Siedler:innen, der Armee oder Inhaber:innen der israelischen Staatsangehörigkeit oder Internationalen vorbehalten. Wer die Arbeiter:innen auf ihrem Arbeitsweg begleiten will, muss deshalb früh aufstehen. Zwischen drei und vier Uhr morgens machen sich die ersten auf den Weg. Bevor die Sonne aufgeht, beginnt die Rushhour auf den kleinen, schlecht asphaltierten Straßen. Alle Autos haben nur eine Richtung: nicht Richtung Ramallah, Sitz der Autonomiebehörde und wirtschaftliches Zentrum, sondern Richtung Nilin, zum nächsten Checkpoint. Auto nach Auto fährt vorbei, jedes vollbesetzt mit Männern in Arbeitskleidung. Am Straßenrand stehen weitere Arbeiter:innen, die auf eine Mitfahrgelegenheit hoffen. Aus palästinensischer Richtung kommend ist ein riesiger, nicht asphaltierter Parkplatz das erste sichtbare Zeichen des Checkpoints. Um 5.30 Uhr morgens stehen die Parkplätze vor dem Checkpoint Nilin schon weitgehend voll.

Landnahme statt Sicherheit

Wenn sich in Grenzen die Teilung eines Raumes in ein Hier und ein Dort materialisiert, dann stellt sich immer auch die Frage, was es eigentlich ist, dass durch die Grenze voneinander abgegrenzt oder abgeschnitten wird. Die Mauer. Auch Zaun, Sperranlage, Sicherheitszaun genannt. Während wir auf „Hamzas Haus“ schauen, können wir die Sicherheitsarchitektur gut überblicken. Unmittelbar hinter der Anlage verläuft ein „Sicherheits“streifen, eine kleine Straße, die vom Militär genutzt wird, um schnell von einem Ort der Mauer an einen anderen zu gelangen. Kameras, Armeeposten, kleine Öffnungen, durch die das Militär kommt, wenn sie Palästinenser:innen verhaften. Doch nach dem Völkerrecht ist das hier keine Grenze. Auf beiden Seiten des Checkpoints ist palästinensisches Gebiet, die sogenannte grüne Linie verläuft mehrere Kilometer entfernt. Die Sperranlage verläuft in Schlaufen und annektierte so de facto mehr als 5000 km² des Westjordanlandes, fast 10% der Gesamtfläche.2 Palästinenser:innen wurden durch die Anlage von ihrem eigenen Land getrennt. Ihres Landes und ihrer Produktionsmittel beraubt, erhöhte sich der Druck auf Palästinenser:innen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen – zur Not auch an dieselbe Besatzungsmacht, die für den Landraub verantwortlich ist. Auch Hamzas Haus steht auf Land, was seiner Familie gehörte, bevor darauf eine Siedlung errichtet wurde. Die Arbeiter:innen erbauen buchstäblich die Städte, die auf ihrem gestohlenen Land stehen. Der Scherz, wem welches Haus gehört, ist bitter. Obwohl wir gemeinsam lachen, wissen wir genau: Es wäre lebensgefährlich für sie, diese Siedlung außerhalb des Arbeitskontextes zu betreten.

Genauso wenig wie die Mauer eine Grenze zwischen zwei völkerrechtlichen Gebieten darstellt, markiert sie eine Grenze zwischen zwei getrennten Ökonomien. So etwas wie eine eigenständige palästinensische Wirtschaft gibt es nicht. Umgekehrt ist die Realität der Besatzung in vielfacher Hinsicht zentraler Bestandteil der israelischen Ökonomie.3 Der Checkpoint und die Grenzlinie, an der er errichtet ist, markieren nicht etwa die Grenze zwischen zwei ökonomischen Räumen, sondern sind selbst Kristallisationspunkte einer Ökonomie der Besatzung. Die Hierarchie der Besatzung wird im Checkpoint in Beton und Stahl gegossene bauliche Realität. Oben entlang führt die Straße, auf der Autos mit israelischen Kennzeichen fahren dürfen. Es ist eine israelische Straße, neu asphaltiert, beleuchtet. Gebaut, um israelische Siedlungen untereinander und mit dem israelischen „Kernland“ zu verbinden. Diese Straße trennt den Parkplatz in zwei Teile und obwohl es zum allergrößten Teil palästinensische Arbeiter:innen sind, die diesen Checkpoint nutzen, gibt es keine asphaltierten Wege vom Parkplatz zum Checkpoint, keinen Fußgängerübergang über die viel befahrene Straße, noch nicht einmal eine Unterbrechung der Fahrbahntrennung, sodass alle Arbeiter über eine halbmeterhohe Betonabgrenzung müssen, um den Fußgängerzugang zum Checkpoint zu erreichen. Es ist nur eine Kleinigkeit, die sinnbildlich für die Funktionsweise des Checkpoints ist. Es sind palästinensische Arbeiter:innen, von denen dieser Checkpoint am meisten genutzt wird. Doch der Checkpoint ist nicht für sie gebaut. Seine gesamte Infrastruktur ist darauf ausgelegt, den Durchgang für israelische Siedler:innen so schnell und komfortabel wie möglich zu gestalten. Für sie soll der Checkpoint möglichst unsichtbar werden. Es gibt direkte Busverbindungen aus der Siedlung nach Tel Aviv, die Siedler:innen können in ihren Autos mit israelischen Kennzeichen die Checkpoints durchqueren. Ein paar Worte auf Hebräisch, ein Blick ins Auto, weiß genug sein und der Checkpoint liegt hinter ihnen. Palästinenser:innen mit einem Ausweis aus dem Westjordanland dürfen den Checkpoint dagegen ausschließlich zu Fuß überqueren. Vor dem Checkpoint steht daher eine Reihe israelischer Autos, die Arbeiter:innen an ihre Einsatzstellen bringen soll. Direkt vor dem Checkpoint halten sie, die Palästinenser:innen steigen aus, um den Checkpoint zu Fuß zu überqueren.

Die industrielle Reservearmee

Die Arbeiter:innen, die von den Parkplätzen aus auf Trampelpfaden Richtung Checkpoint laufen, verdichten sich zu einem nicht abreißenden Strom, bestehend hauptsächlich aus Männern in Arbeitskleidung. In ihren Rucksäcken und Plastiktüten haben sie das Nötigste für den Tag. Auf ihren Pullis stehen auf Hebräisch die Namen der Bauunternehmen, für die sie Häuser errichten. Häuser, in denen sie selbst nicht wohnen dürfen. Die Arbeiter haben lediglich das „Glück“, Arbeitsgenehmigungen erhalten zu haben, um legal in Israel und den völkerrechtswidrigen Siedlungen arbeiten zu dürfen. Ein Recht auf einen dauerhaften Aufenthalt oder gar eine Niederlassungserlaubnis in Israel haben sie nicht.4 Je näher wir dem Checkpoint kommen, desto mehr Arbeiter:innen werden es. An den Gittern des Checkpoints stauen sich die Menschen. Eng aneinandergepresst schieben sie sich durch die Gitter des Checkpoints, während über ihnen der private Sicherheitsdienst patrouilliert, der diesen Checkpoint betreibt. Einige klettern über die Abgrenzungen, um schneller an die Drehkreuze zu gelangen. Andere rauchen erst noch in Ruhe eine Zigarette, bevor sie sich zu den anderen stellen, Teil der Masse werden, die durch Gitterstäbe und Drehkreuze geschoben wird. Der Begriff einer industriellen Reservearmee – morgens um 6 Uhr am Checkpoint von Nilin ist er greifbar.

Die Arbeiter:innen erfüllen zentrale Funktionen in der israelischen Ökonomie. Sie stehen ganz unten in der Hierarchie. Sie arbeiten in körperlich harten Jobs, sind massiven Gefahren am Arbeitsplatz ausgesetzt und arbeiten unter besonders prekären Bedingungen.5 Das Genehmigungssystem, in dem Arbeiter:innen ihre Genehmigungen häufig über israelische Arbeitgeber:innen beantragen müssen, drängt sie in eine enorme Abhängigkeit: Verliert ein:e Arbeiter:in den Job, ist damit häufig auch die Arbeitsgenehmigung verloren. In der Pandemie waren sie die ersten, die von einem Tag auf den anderen ihre Jobs verloren.6

Ökonomisch hat die palästinensische Arbeitskraft mehrere Vorteile gegenüber anderen importierten Arbeitskräften: Die Lebenshaltungskosten in den besetzten palästinensischen Gebieten sind deutlich geringer, daher sind auch die Löhne palästinensischer Arbeiter:innen niedriger. Da sie dennoch weit über dem Durchschnittslohn in Palästina liegen und die ökonomische Lage in den palästinensischen Gebieten sehr schwierig ist, ist ein ständiger Nachstrom gesichert. Ein Bauarbeiter in Israel verdient deutlich mehr als eine verbeamtete Lehrkraft an einer staatlichen weiterführenden Schule in Palästina.7

Anders als bei Arbeiter:innen, die dauerhaft in Israel leben, müssen auch die Reproduktionskosten der Arbeiter:innen als Klasse nicht durch den israelischen Staat gedeckt werden. Zahlreiche Investitionen wie Straßenbau, Schulbildung, Infrastrukturmaßnahmen und Gesundheitsversorgung werden durch Einrichtungen der Vereinten Nationen (etwa UNRWA in den Flüchtlingscamps) und internationale NGOs übernommen.8

Die wirtschaftliche Ergänzung der Osloer Verträge, die sogenannten „Paris Protokolle“ führen dazu, dass ein relevanter Teil der Löhne wieder in die israelische Ökonomie zurückfließt. In den Protokollen wird festgelegt, dass alle Außengrenzen – und damit auch der gesamte Im- und Export – vollständig von Israel kontrolliert wird. Das führte dazu, dass etwa 2005 73,9% aller Importe in die bpG aus Israel stammten.9 Die Löhne, die die Arbeiter in Israel verdienen, geben sie gezwungenermaßen zu einem großen Teil für israelische Produkte aus. Anders bei Arbeiter:innen aus dem Ausland, die den größten Teil ihrer Gehälter direkt an ihre Familien rücküberweisen.

Die Mauer ist Realität und sie schafft Fakten. In den Dörfern um den Checkpoint wachsen zahlreiche Kinder auf, die noch nie am Meer waren, obwohl es nur wenige Kilometer entfernt liegt. „Das Meer hinter der Mauer“ nennen sie es. Etwa drei bis vier Stunden brauche er täglich für seinen Weg zur Arbeit, schätzt einer der Arbeiter, der Rückweg geht meist schneller. Seine Kinder sieht er so nur am Wochenende. Einige Arbeiter sparen sich diesen Weg gleich ganz und bleiben unter der Woche. Doch gleichzeitig ist die Grenze nicht so dicht, wie sie es nach der Sicherheitsargumentation sein müsste. „Bei uns gibt es keine Checkpoints“, erklärt mir eine freundliche Frau im Flughafen auf meinem Rückweg nach Deutschland. Und aus ihrer Perspektive stimmt das wahrscheinlich sogar. Für sie gibt es keine Checkpoints. Für die Bauarbeiter, die vielleicht auch das Haus errichtet haben, in dem sie wohnt, schon.

Anmerkungen

1 Adiv, Assaf (2023): Toward Equality for Palestinian Workers in Israel. In: New Labor Forum, Artikel 10957960231194013. DOI: 10.1177/10957960231194013 und Al`sanah, Riya (2021): Workers´ Rights in Crisis. Palestinian workers in Israel and the settlements. ituc-csi.org, S.9.

2 B`Tselem (2017): The separation Barrier. btselem.org.

3 So formuliert etwa der Ökonom Shir Hever eine „räumliche wirtschaftliche Unterscheidung zwischen den BPG und Israel [ist] weitgehend künstlich. Es gibt kein Gebiet in Israel/Palästina, das frei von israelischer Kontrolle ist und in dem andere wirtschaftliche Gesetze gelten“. (Hever, Shir (2014): Die Politische Ökonomie der israelischen Besatzung. Unterdrückung über die Ausbeutung hinaus. 1. Aufl., Dt. Erstausg. Köln, Karlsruhe: ISP., S. 16-17).

4 Heruti-Sover, Tali (2022): The Great Exploitation. Palestinians Forced to Pay Huge Sums to Work in Israel. In: Haaretz, 27.1.2022. haaretz.com.

5 Ida, Yoram; Talit, Gal (2023): Israeli Government Policy on Non-Israeli Construction Workers. In: MIGRATION LETTERS 20 (1), S. 101-112. DOI: 10.33182/ml.v20i1.2820, S.101-102..

6 Al-Sanah, Riya; Hanieh, Adam; Ziadah, Rafeef (2022): Working Palestine. Covid-19, Labour, and Trade Unions in the West Bank and Gaza Strip. Unter Mitarbeit von Abdulrahman Abunahel, Samira Abdulaleem, Zaid Shuaibi, Anan Quzmar und Hurriyah Ziada.

7 Abu Neama, Adel; Al-Mughrabi, Nidal (2022): Palestinians working in Israel strike over demand for bank accounts. In: Reuters, 21.8.2022 reuters.com.

8 Hever, Shir (2014): Die Politische Ökonomie der israelischen Besatzung. Unterdrückung über die Ausbeutung hinaus. 1. Aufl., Dt. Erstausg. Köln, Karlsruhe: IS,, S. 36-60).

9 Al-Sanah, Riya; Hanieh, Adam; Ziadah, Rafeef (2022): Working Palestine. Covid-19, Labour, and Trade Unions in the West Bank and Gaza Strip. Unter Mitarbeit von Abdulrahman Abunahel, Samira Abdulaleem, Zaid Shuaibi, Anan Quzmar und Hurriyah Ziada, S.18-19.