IMI-Analyse 2023/44 in: Ausdruck September 2023
Interviews
Statewatch, Border Ecologies Network und migration-control.info sprechen über Grenzen
von: 22. September 2023
Statewatch
1. Mit welchen (zwischenstaatlichen) Grenzen beschäftigen Sie sich derzeit hauptsächlich?
Unsere Arbeit befasst sich allgemein mit den Grenzen europäischer Staaten, insbesondere jedoch mit denen der EU und des Vereinigten Königreichs. Das bedeutet zwar, dass wir teilweise die Grenze als geografischen Ort oder als Abgrenzung zwischen zwei (oder mehr) Gebieten betrachten, aber unsere Arbeit befasst sich auch damit, wie mobil die Grenze ist. So bedeutet beispielsweise der Einsatz biometrischer Datenban-ken und Identifizierungstechnologien, dass Geflüchtete und Migrant*innen überall auf dem Staatsgebiet identifiziert werden können – die Grenze folgt ihnen. Außerdem befinden sich die EU-Institutionen und die Mitgliedstaaten in einem langfristigen Prozess der Externalisierung von Grenzen, bei dem andere (Nicht-EU-)Staaten die Grenzkontrollen für sie übernehmen.
2. Wie und zu welchem Zeitpunkt sind diese Grenzen gezogen worden? Sind sie umstritten?
Jedes Mal, wenn jemand eine Grenze unbefugt über-schreitet, stellt er sie in Frage. In dieser Hinsicht sind alle Grenzen häufig angefochten.
3. Wie offen sind diese Grenzen und welche Unterschiede halten sie aufrecht?
Im Allgemeinen sind die Grenzen der EU und des Vereinigten Königreichs offen für die reiche Welt und geschlossen für die arme Welt. Das bedeutet auch, dass diese Grenzen häufiger für Menschen offen sind, die als weiß rassifiziert werden, und für Menschen, die als nicht-weiß rassifiziert werden, geschlossen sind. Aber selbst diejenigen, die in die EU oder das Vereinigte Königreich einreisen dürfen, müssen oft erhebliche Mengen an Informationen über sich selbst, ihre Familien und ihr Privatleben preisgeben (z.B. um ein Visum oder eine Reisegenehmigung zu erhalten).
4. Was möchten Sie noch über Grenzen im Allgemeinen sagen?
Was sich an den Staatsgrenzen abspielt und wie sich diese Grenzen durch neue Technologien und staatliche Praktiken verändern, ist eine entscheidende Frage für Menschenrechte, bürgerliche Freiheiten und Demo-kratie im 21. Jahrhundert. Wir möchten alle Gruppen, Organisationen und Einzelpersonen ermutigen, darüber nachzudenken, was die heutigen Grenzen und Grenz-praktiken für ihre Arbeit bedeuten, und das Thema miteinzubeziehen.
Border Ecologies Network
1. Mit welchen (zwischenstaatlichen) Grenzen beschäftigt ihr Euch gerade und warum?
Das Border Ecologies Network ist ein Kollektiv von Forscher*innen, Aktivist*innen, Künstler*innen und anderen Akteuren, die die Beziehungen zwischen Natur und Grenzen untersuchen. Unsere Arbeit erforscht diese Beziehung von einer Vielzahl von Ansätzen aus und jedes Mitglied hat ein eigenes Spezialgebiet und eine eigene Praxis, aber unsere Forschung untersucht hauptsächlich die Art und Weise, wie Grenzen für politische Macht konstruiert und durchgesetzt werden.
Ein Großteil unserer Arbeit befasst sich mit den Auswirkungen von Grenzsicherungsprojekten auf Menschen und die natürliche Umwelt, mit der Art und Weise, wie die Natur als Waffe eingesetzt wird, um Grenzen zu sichern (zusammen mit der kolonialen, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Geschichte), sowie mit der Wechselwirkung des Zusammenlebens mehrerer Arten und dem Einfluss der Kategorisierung in „heimische“ und „invasive“ Arten.
Als internationales Kollektiv, dessen Arbeit sich mit Grenzen weltweit befasst, haben wir Mitglieder, die sich auf die Erfahrungen an bestimmten Grenzen konzentrieren, oder aber auch auf das Konzept in einer allgemeineren und abstrakteren Weise. In den letzten Jahren gab es Projekte, die sich mit der mexikanisch-US-amerikanischen Grenze und den Verflechtungen von humanitärer Hilfe, Naturschutz und Grenzsicherung im Grenzgebiet zwischen Sonora und Arizona befassten. Auch die Europäische Union und ihre Reaktionen auf die derzeitige „Migrationskrise“ wurden untersucht, wobei der Schwerpunkt auf den Grenzen zwischen dem Vereinigten Königreich, Frankreich und Belgien lag, wo die Reaktion eher auf Versicherheitlichung und Durchsetzung der Grenze als auf humanitären Aspekten beruhte. Darüber hinaus befasste sich ein Projekt mit den komplexen Netzwerken des verschleierten neokolonialen Projekts des Kajaki-Staudamms am Helmand-Fluss in Afghanistan, das aus der Perspektive der durch Handlungen zentralisierter Regierungstätigkeit hervorgerufenen Umweltgewalt untersucht wurde, die dem Land als Grenzland, zusammen mit Praktiken, hydrologische Infrastruktur als Waffe zu nutzen, aufgezwungen werden.
Es gab eine Ausstellung von Samen aus der ganzen Welt, welche Konzepte von Erdung und Entwurzelung, Zugehörigkeit und Verlust, von Hoffnung und Verbindungen durch die globale Zirkulation von Waren, Lebensmitteln und Traditionen, vor dem Hintergrund untersuchte, dass Menschen mit ihren Samen reisen. Schließlich gab es auch eine Recherche über die Verbindungen zwischen Fotografie und Botanik, die die Fähigkeit, Natur zu konstruieren, hervorhebt und den Begriff der „einheimischen“ Art in Frage stellt.
2. Wie und zu welchem Zeitpunkt sind diese Grenzen gezogen worden? Sind sie umstritten?
Als Kollektiv, das an einer Vielzahl unterschiedlicher Grenzgebiete weltweit arbeitet, fällt es uns schwer, eine solche Frage zu beantworten. Es stimmt jedoch, dass Grenzen, wie wir sie heute kennen, in der Regel von Menschenhand geschaffen wurden und während ihrer gesamten Existenz stark umstritten waren. Die mexikanisch-US-amerikanische Grenze in ihrer heutigen Form nahm Mitte des 19. Jahrhunderts Gestalt an, ihre Durchsetzung begann jedoch nicht vor Anfang des 20. Jahrhunderts. Europas Grenzen wurden im Laufe der Jahre immer wieder neu gezogen, wobei es im 20. Jahrhundert infolge von Kriegen und/oder Verhandlungen zu erheblichen Veränderungen kam. In unserer Arbeit befassen wir uns vor allem mit den vom Menschen geschaffenen Grenzen und den Methoden, die zu ihrer Durchsetzung und Verteidigung eingesetzt werden. Die Befestigung von Grenzen erfolgt oft vorrangig zur Landesverteidigung auf Kosten von Flora und Fauna und sogar von Menschenleben.
Die Grenzverteidigung als Priorität für die Aufrechterhaltung des Nationalstaates in den Mittelpunkt zu stellen, zwingt zu einer zunehmenden Militarisierung der Grenzen, was wiederum die Vorstellung von Land als „strategisches und umkämpftes Medium und nicht als passiver Hintergrund“ verstärkt.1 Folglich werden Grenzen zu Orten des Aufbegehrens und der Beherrschung, um Mobilität und Sichtbarkeit zu kontrollieren. Beispiele dafür gibt es zuhauf: die Beseitigung von Bäumen entlang der nach Calais (Frankreich) führenden Autobahnen zum Zwecke der Überwachung, die Überflutung der Umgebung des Eurotunnels, um den Zugang zu verhindern, der Bau von Elektrozäunen und Mauern mit bewaffneten Grenzschutzbeamten in Polen, Ungarn, Kroatien, Griechenland, Serbien und außerhalb Europas in Libyen, Marokko, Sudan und Tunesien sowie die zahlreichen Fälle von „Push-Backs“ auf dem gesamten Kontinent.
3. Wie offen sind sie und welche Unterschiede halten diese Grenzen aufrecht?
Im letzten Jahrhundert erfolgte eine globale Ausweitung der Grenzsicherung. Diese Versicherheitlichung hat seitdem immer weiter zugenommen und sich in den letzten Jahrzehnten sogar noch beschleunigt. Grenzzonen sind heute militarisierte Gebiete, in denen Sicherheitsinfrastrukturen eingesetzt werden, wobei natürliche Ökosysteme sowohl instrumentalisiert als auch verändert werden, um die menschlichen Bewegungen einzuschränken. Sowohl auf materieller als auch auf diskursiver Ebene verwandelt die Militarisierung Grenzlandschaften in Agenten des „Migrationsmanagements“. Als ideologische Praxis unterstreicht sie eine produzierte nationale Einheit, die Kriminalisierung und Illegalisierung des „Anderen“ durch die Verbreitung nationalistischer, migrationsfeindlicher Gefühle – und mobilisiert und versichert Gesellschaften gegen einen vermeintlichen kollektiven „invasiven“ Feind. Durch die Arbeit des „Migrationsmanagements“ halten die Grenzen die Vorstellungen von nationalen Unterschieden und der imaginierten kollektiven Gemeinschaft des modernen Staates aufrecht und setzen sie durch.
1. Mit welchen (zwischenstaatlichen) Grenzen beschäftigt ihr Euch gerade und warum?
Migration-Control.info ist ein kollaboratives Projekt, das als Teil der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration (FFM e.V.) seit 2019 die Auslagerung (Externalisierung) der europäischen Außengrenzen und ihrer Migrationskontrolle dokumentiert. Wir tun dies auf unserer Info-Seite mit einem Wiki über Länder, Regionen, Institutionen des Grenzregimes und solidarische Gegenstrukturen sowie mit einem Blog und einem Archiv. Jeden Monat veröffentlichen wir auf Englisch eine Presseschau mit dem Fokus auf Externalisierung. Ab Juli wird unsere Website in neuer Aufmachung erscheinen.
Der Schwerpunkt unserer Arbeit liegt auf Flucht- und Migrationsbewegungen und Externalisierungspolitik in Nordafrika und der Sahel-Region, aber natürlich interessieren uns auch die Migrationsbewegungen und die Abwehr unerwünschter Migrant*innen in Westasien, in Osteuropa und auf dem Balkan durch EUropa.
Wir versuchen, unser Projekt zunehmend „transmediterran“ zu gestalten – in Arbeitsgruppen, in denen auch Personen aus Ost-, West- und Nordafrika beteiligt sind. Wir bemühen uns, zumindest Teile unserer Dokumentation viersprachig zu präsentieren: neben Englisch und Deutsch auch auf Französisch und Arabisch.
Warum machen wir das? Das himmelschreiende Unrecht der Abwehr von (flüchtenden) Menschen, die Massaker, das Ertrinkenlassen, die Hot-Spots in Griechenland, sind in Europa meist nur eine Randnotiz wert. Niemand soll aber später behaupten können, er oder sie habe von all dem nichts gewusst. Unsere Onlinedokumentation soll Aktivist*innen, Initiativen, Arbeitskreisen in Gewerkschaften oder Parteien Material an die Hand geben für ihre Arbeit und Diskussionen. Zugleich soll unser Material es politischen Gruppen jenseits des Mittelmeers ermöglichen, ihre Erfahrungen in einem breiteren Zusammenhang zu reflektieren und sich über die dortigen Grenzen hinweg zu verständigen.
2. Wie und zu welchem Zeitpunkt sind diese Grenzen gezogen worden? Sind sie umstritten?
Mit Beginn der 1990er Jahre hat die EU begonnen, ihre Grenzen im Innern zu öffnen und sich nach Außen abzuschotten. Die Externalisierung der Grenzen bekam einen starken Schub durch die Zunahme der Migration nach der Arabischen Revolution 2011 und nach der großen Migrationsbewegung von 2015. In den letzten Jahren hat sich die europäische Migrationspolitik zunehmend informalisiert, unter Umgehung internationaler rechtlicher Bestimmungen. Dabei spielen Agenturen wie FRONTEX, GIZ oder ICMPD eine Rolle, aber auch die geheimdienstliche und militärische Zusammenarbeit mit lokalen Strukturen, insbesondere auch mit Warlords und Milizen, wird trickreich und unterschwellig vorangetrieben.
Wie sollte all dies nicht umstritten sein? Eine humanitäre Kritik der Zustände an der Grenze muss sich vorwerfen lassen, dass die Entrechtung der Menschen bei einer solchen Argumentation Nicht mehr thematisiert wird. Juristische Einsprüche sind gelegentlich erfolgreich, können aber die zunehmende Verschärfung des Grenzregimes nicht aufhalten. Politischer Widerstand gegen das Grenzregime ist in Europa nicht mehrheitsfähig. Widerstand kommt hauptsächlich von den Migrant*innen selbst: Wir begreifen schon die Migration selbst als einen Akt des Widerstands und wir sehen die Selbstorganisation der Migrant*innen und ihre Vernetzung mit europäischen Initiativen und Bewegungen als wichtigsten Faktor in diesem Kampf, den Harsha Walia (2013) als „Undoing Border Imperialism“ bezeichnet hat.
3. Wie offen sind sie und welche Unterschiede halten diese Grenzen aufrecht?
Wir dürfen nicht vergessen, dass es sich bei der Südgrenze der EU um eine postkoloniale Grenze handelt mit einer langen Geschichte von Versklavung, Rassismus, Ausbeutung und Plünderung, aber auch Aufständen und anhaltenden Migrationsbewegungen. Heute hält diese Grenze ein Einkommensgefälle von 1:100 aufrecht und schützt die hiesige „imperiale Lebensweise“. Sie dient der Abwehr und ist zugleich „Sortiermaschine“ der Immigration.
4. Was wollt ihr zum Thema Grenzen noch sagen?
No Border, No Nation, Stop Deportation.
Anmerkungen
1 Stuart Elden, “Legal Terrain – the political materiality of territory,” London Review of International Law, Volume 5, Issue 2, 2017, 199–224: 202.