IMI-Standunkt 2023/034 in: Ausdruck September 2023
Eine Grenze, die verbinden soll
Der „Whisky-Krieg“ um die arktische Hans-Insel ist beendet
von: Ben Müller | Veröffentlicht am: 21. September 2023
In der Sprache der indigenen Bevölkerung heißt die Insel „Tartupaluk“, was „in Form einer Niere“ bedeutet. Als glatter Fels ragt sie aus dem meist vereisten Meer zwischen den Inseln Ellesmere und Grönland. Ihre Größe beträgt nur 1,3km². Bis ins 19. Jahrhundert war sie für Menschen aus Europa völlig unbekannt. Bei ihrer ersten Kartierung 1872 erhielt sie den Namen „Hans-Insel“ nach dem grönländischen Führer der Expedition.
Als Kanada und Dänemark 1973 ihre gemeinsame Seegrenze zwischen Grönland und den kanadischen Inseln festlegten, stellte sich heraus, dass Tartupaluk genau auf der Grenze liegt. Zu beiden Ufern beträgt der Abstand 18km, auch wenn frühere kanadische Karten die Insel näher an Kanada verzeichneten.1 Um einen Streit zu vermeiden, wurde in der Seegrenze von 1973 eine Lücke gelassen. An der Stelle, an der sich Tartupaluk befindet, wurde keine Grenze festgelegt.
Die Inuit nutzen Tartupaluk seit langem als Zwischenstation auf der Jagd. Außerdem war die kanadische Firma Dome Petroleum Anfang der 1980er Jahre für Forschungsarbeiten auf der Insel. Aber aus wirtschaftlicher oder geostrategischer Sicht hat die Insel überhaupt keine Bedeutung. Selbst wenn Bodenschätze vorhanden sein sollten, würde sich der kommerzielle Abbau nicht lohnen.2 Dennoch entwickelte sich Tartupaluk ab 1984 zu einem Streitobjekt zwischen Dänemark und Kanada.
Dieser Streit wurde einerseits scherzhaft ausgetragen. So hinterließen die dänischen Soldaten, die auf der Insel immer wieder ihre Flagge hissten und ein Schild „Willkommen auf der dänischen Insel“ aufstellten, auch jeweils eine Flasche Schnaps für ihre kanadischen Kollegen. Und die Soldaten aus Kanada tauschten nicht nur die Flagge und das Schild aus, sondern deponierten für die Dänen auch immer eine Flasche kanadischen Whiskys, weswegen oft vom „Whisky-Krieg“ gesprochen wurde. Andererseits reagierten die Staaten aber auch mit ernsten diplomatischen Protestnoten gegen das Flaggehissen der Gegenseite. Und auch Prominenz wie der dänische Grönland-Minister Tom Høyem (1984) oder der kanadische Verteidigungsminister Bill Graham (2005) zeigte sich auf der Insel, um den jeweiligen Gebietsanspruch zu untermauern.
Seit 2005 übten sich Dänemark und Kanada aber in Zurückhaltung und verzichteten auf gegenseitige Provokationen, um an der Beilegung des Grenzstreits zu arbeiten. Am 14. Juni 2022 präsentierten sie ihre Lösung3 und tauschten noch einmal symbolisch Spirituosen aus. Seitdem ist Tartupaluk zweigeteilt. Es ist die nördlichste zwischenstaatliche Landgrenze, die dritt-kürzeste Landgrenze überhaupt und die einzige Landgrenze von Grönland. Angesichts des Kriegs in der Ukraine bezeichneten die Akteure ihre Einigung als klares Signal an Russland, dass man Territorialkonflikte auch friedlich lösen könne. Obwohl beide Streitparteien demselben Militärbündnis angehören und der Streitgegenstand klein und unbedeutend ist, hat es bis zur Beilegung allerdings rund 50 Jahre gedauert.
Das Abkommen sichert den Inuit ihren historischen und traditionellen Zugang sowie Bewegungsfreiheit auf Tartupaluk zu. Auch wenn sich das nur auf die 1,3km² der Insel bezieht und nicht auf das umgebende Wasser bzw. Eis, so ist das doch eine symbolische Anerkennung eines unteilbaren Inuit-Territoriums für die Menschen aus Avanersuaq (im Norden von Grönland) und Nunavut (im Nordosten von Kanada).4 Der grönländische Regierungschef Múte B. Egede sieht die Grenze auf Tartupaluk daher als Zeichen der engen Verbindung zwischen den Ländern, den Menschen und der Kultur. Und auch der dänische Außenminister Jeppe Kofod hofft, diese Grenze werde die Menschen näher zusammenführen.5 Aluki Kotierk, Vertreterin der Inuit in Nunavut ergänzt, der Grenzdisput sei niemals ein Problem für die Inuit gewesen.
Der dänische Journalist Martin Breum, der 2018 mit einer Expedition auf Tartupaluk war, geht davon aus, dass Grönland auch zum europäischen Schengen-Raum gehöre und die neue Grenze somit eine Schengen-Außengrenze darstelle. Und er vermutet, dass selbst die EU-Kommission wahrscheinlich von Grenzkontrollen auf Tartupaluk absehen werde. Auch wenn Grönland in Wirklichkeit vom Schengen-Abkommen ausgenommen ist, beschreibt diese Mutmaßung ganz gut die Absurdität der Grenzziehung auf der kleinen Felsinsel.
Anmerkungen
1 P. Whitney Lackenbauer, Rasmus Leander Nielsen: „Close, like-minded partners committed to democratic principles“: Settling the Hans Island/Tartupaluk Territorial Dispute, arcticyearbook.com 2022
2 Martin Breum: Canada, Denmark agree on a landmark deal over disputed Hans Island, arctictoday.com 13.6.2022
3 Die Einigung ist Teil eines Abkommens zwischen Kanada und Dänemark unter Beteiligung Grönlands über die 4.000 km lange gemeinsame Seegrenze von der Lincoln-See im Norden bis zur Labrador-See im Süden.
4 Apostolos Tsiouvalas, Endalew Lijalem Enyew: The Legal Implications of the 2022 Canada-Denmark/Greenland Agreement on Hans Island (Tartupaluk) for the Inuit Peoples of Greenland and Nunavut, thearcticinstitute.org 24.1.2023
5 Martin Breum a.a.O.