IMI-Analyse 2023/41 in: Ausdruck September 2023

Zwischen Kaschmir und Koch Bihar

Landgrenzen und Grenzkonflikte in Südasien

von: Ben Müller | Veröffentlicht am: 18. September 2023

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Zu Südasien zählt man meistens das Gebiet der heutigen Staaten Afghanistan, Pakistan, Indien, Nepal, Bhutan und Bangladesch sowie die Inselstaaten Sri Lanka und Malediven. Im Norden ist das Gebiet von den hohen Gebirgsketten des Himalaja, Karakorum und Hindukusch umgeben. Außerdem ist es von großen Flüssen mit ihren Zuflüssen wie Indus, Ganges und Brahmaputra geprägt. Doch diese natürlichen Grenzen waren schon im Altertum nicht unüberwindbar. Vor allem aus Nordwesten sind immer wieder Menschen auf die indische Halbinsel eingewandert, oft auch in kriegerischer Absicht.

Südasien war im Laufe der Geschichte von großen Regionen mit religiösen, kulturellen und sprachlichen Gemeinsamkeiten geprägt, die keine eindeutigen geografischen Abgrenzungen hatten. In einzelnen Epochen wurden auch mehrere Regionen unter einem Großreich vereinigt, was angesichts der Ausdehnung mit verwaltungstechnischen Herausforderungen verbunden war. Die meisten der heutigen Staatsgrenzen gehen auf Grenzziehungen durch die Briten im 19. und 20. Jahrhundert zurück.

Britische Kolonisierung

Seit der Entdeckung des Seewegs nach Indien 1498 verschrieben sich europäische Kaufleute dem Transport von Waren von Südostasien nach Europa und gründeten an der Küste Südasiens nach und nach portugiesische, niederländische, britische, dänische und französische Handelsposten. Die britische Ostindien-Kompanie, eine private Handelsgesellschaft, erhielt von der britischen Krone dafür ein Handelsmonopol und zahlreiche Privilegien, darunter auch das Recht, gegen die „Ungläubigen“ Krieg zu führen.i Ihre erste Niederlassung gründete sie 1612 in Surat.

Durch diplomatisches Geschick gewannen die Briten schon bald die Unterstützung des indischen Mogulkaisers, der einem von 1526 bis 1858 bestehenden Großreich vorstand. Sie rekrutierten Soldaten aus der ansässigen Bevölkerung und konnten sich gegen ihre europäischen Konkurrenten weitgehend durchsetzen. Bis Mitte des 18. Jahrhunderts stieg die britische Ostindien-Kompanie so zu einer Militärmacht in Indien auf, die auch politischen Einfluss auf das Mogulreich ausüben konnte. Von der Region Bengalen ausgehend dehnte sie ihr Territorium immer weiter aus. Dabei setzte sie in manchen Regionen auf direkte Machtübernahme und in anderen auf indirekte Herrschaft über lokale Könige oder Fürsten, während alle Regionen formal noch zum indischen Mogulreich gehörten.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts begannen die Briten mit der geodätischen Kartierung von Südasien, was die Festlegung exakter Landgrenzen vereinfachte. Die heutigen Staatsgrenzen zwischen Indien und Nepal sowie zwischen Indien, Bangladesch und Myanmar wurden durch Expansionskriege der britischen Ostindien-Kompanie 1816 und 1826 erstritten. Die Eroberungen verliefen aber nicht ohne Widerstand. Ein größerer Aufstand 1857 führte zum Ende der Ostindien-Kompanie. Der Aufstand wurde durch britische Truppen niedergeschlagen, und die Besitzungen wechselten als Kolonie unter die direkte Kontrolle der britischen Krone. An der Expansionspolitik änderte sich dadurch allerdings nichts. Die größte Ausdehnung erfuhr Britisch-Indien gegen Anfang des 20. Jahrhunderts.

Die Grenzen im Nordwesten wurden unter strategischen Überlegungen festgelegt, um einen eventuell drohenden russischen Einmarsch zu erschweren. Dazu zählt die „Durand-Linie“, die die heutigen Staaten Afghanistan und Pakistan trennt. Sie wurde 1893 auf britischen Druck vereinbart und verläuft mitten durch die Siedlungsgebiete der Paschtunen und Belutschen. Auch bei der Nordostgrenze von Kaschmir waren strategische Überlegungen im Spiel. Anstelle der „Ardagh-Johnson-Linie“, die noch heute von Indien als seine rechtmäßige Außengrenze betrachtet wird, wurde 1899 die weiter südlich verlaufende „Macartney-MacDonald-Linie“ als Grenze empfohlen, um eine größere chinesische Pufferzone zum russischen Reich zu schaffen.

Teilung Indiens

1947 wurde Britisch-Indien in die Unabhängigkeit entlassen. Allerdings stand nicht das gesamte Territorium unter direkter britischer Kontrolle. Birma war bereits 1937 als eigenständige Kronkolonie von Indien abgespalten. Und das übrige Territorium bestand aus Gebieten unter direkter britischer Herrschaft, nominell unabhängigen Fürstenstaaten sowie einzelnen portugiesischen und französischen Besitzungen. Aufgrund bestehender Spannungen zwischen Hindus und Muslimen sah der Plan des britischen Genralgouverneurs Mountbatten vor, die britische Kolonie Indien entlang von ethnisch religiösen Linien auf zwei Staaten aufzuteilen. Die Fürstenstaaten sollten sich dann einem dieser Staaten anschließen oder unabhängig bleiben.

Der Londoner Rechtsanwalt Cyril Radcliffe, der Indien nie zuvor gesehen hatte, legte unter großem Zeitdruck den Grenzverlauf fest. Dabei wurden die Regionen Punjab und Bengalen zwischen den beiden entstehenden Staaten aufgeteilt. Der neue Staat Pakistan bestand aus zwei Gebieten, West- und Ostpakistan, die etwa 1.600 km voneinander entfernt waren. Die religiöse Gruppe der Sikh, die hauptsächlich im Punjab beheimatet war, beklagte, bei der Trennung nicht berücksichtigt worden zu sein. Und entlang der Grenze kam es zu einem großen Bevölkerungsaustausch und massiven Gewaltausbrüchen mit mehreren hunderttausend Toten. Die Grenzziehung war zudem inkonsequent, da etwa der Distrikt Ferozepur mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung wegen seiner militärischen und landwirtschaftlichen Bedeutung in letzter Minute der Indischen Union zugeschlagen wurde.2

Die meisten Fürstenstaaten schlossen sich ohne Schwierigkeiten entweder Pakistan oder der Indischen Union an. Nur Hyderabad und Kaschmir wollten unabhängig bleiben, was zu Konflikten führte. Hyderabad wurde 1948 von Indien in einer Militäraktion annektiert. Auch Goa und die anderen portugiesischen Gebiete wurden 1954 und 1961 durch indische Soldaten besetzt und annektiert; erst nach der Nelkenrevolution 1974 verzichtete Portugal auf seine Gebietsansprüche in Südasien. Die letzten französischen Besitzungen wurden 1954 nach Volksabstimmungen in die Indische Union integriert.

Kaschmir-Konflikt

Der Fürstenstaat Jammu und Kaschmir hatte eine mehrheitlich muslimische Bevölkerung und wurde von einem hinduistischen Maharaja regiert. Bei der Teilung Indiens wurde er auch von Gewaltausbrüchen zwischen Anhängern der beiden Religionen erfasst. Muslimische Kämpfer befürchteten die Annäherung von Jammu und Kaschmir an Indien, und Pakistan zeigte aus demografischen und strategischen Gründen Interesse an der Region. Der Maharaja sah sich dadurch mit starkem Druck und einer anhaltenden Rebellion gegen seine Herrschaft konfrontiert. Um Unterstützung durch indische Soldaten zu erhalten, erklärte er nach anfänglichem Zögern schließlich den Anschluss an Indien, was 1947 zum Ersten Indisch-Pakistanischen Krieg führte.

Der Krieg endete 1949 durch Vermittlung der Vereinten Nationen. Kaschmir wurde entlang der Waffenstillstandslinie de facto geteilt, und es sollte ein Referendum geben, um über die Zugehörigkeit zu Indien oder Pakistan zu entscheiden. Die Waffenstillstandslinie war allerdings nicht genau bestimmt und insbesondere in den nördlichen Hochgebirgsregionen, in denen kaum Kämpfe stattgefunden hatten, nicht zu erkennen. Erst 1972 nach dem Dritten Indisch-Pakistanischen Krieg wurde die dann „Line of Control“ genannte Demarkationslinie exakt vermessen und festgelegt.3 Sie wurde aber weder von Indien noch von Pakistan anerkannt. Beide beanspruchen bis heute den vom jeweils anderen Staat kontrollierten Teil Kaschmirs für sich. Es kam seitdem auch immer wieder zu Kämpfen auf dem am höchsten gelegenen Kriegsschauplatz der Welt, etwa seit 1984 auf dem Siachengletscher oder 1999 in der Kargil-Region.

Auch zwischen China und Indien besteht ein Konflikt in der Region Kaschmir. Die Grenze zwischen China und Indien ist in dieser Region umstritten, ebenso wie in Arunachal Pradesh im Nordosten Indiens. Das Gebiet in Arunachal Pradesh wird von Indien kontrolliert bis zur „McMahon-Linie“, die im britischen Tibetfeldzug 1903 erstritten aber von China nicht anerkannt wurde. China kontrolliert dagegen das Gebiet Aksai Chin in Kaschmir und konnte seine Ansprüche im Indisch-Chinesischen Grenzkrieg 1962 bekräftigen.4 1963 wurde außerdem ein Teil Kaschmirs von Pakistan an China übereignet; auch diese Grenzveränderung wurde von Indien nicht anerkannt.

2019 verfügte Indien die Aufteilung des bisher mit besonderen Autonomierechten ausgestatteten Bundesstaats Jammu und Kaschmir in zwei zentralgesteuerte Unionsterritorien, wodurch unter anderem der Bau militärischer Infrastruktur in der Grenzregion erleichtert wurde. Eine Analyse der Stiftung Wissenschaft und Politik geht davon aus, dass diese Veränderung den Kaschmir-Konflikt sowohl zwischen Indien und Pakistan als auch zwischen Indien und China neu anheizen wird.5

Grenze zwischen Indien und Bangladesch

Das heutige Bangladesch bildete bis 1971 den östlichen Teil Pakistans. In einem blutigen Befreiungskrieg, in dem indische Truppen auf Seiten der Separatisten eingriffen, sagte es sich von West-Pakistan los. Aus Angst vor dem großen muslimischen Bevölkerungsanteil wollte Indien das Gebiet aber nicht annektieren, so dass der unabhängigen Staat Bangladesch entstehen konnte.

Der Verlauf der über 4.000 km langen Grenze zwischen Indien und Bangladesch führte dazu, dass Bangladesch landseitig fast vollständig von Indien eingeschlossen war. Insbesondere kontrollierte Indien die Oberläufe von Ganges, Brahmaputra und Meghna, was zu regelmäßigen Konflikten über die Wassernutzung führte. Indien klagte dagegen über illegale Einwanderung sowie Rinderschmuggel zur Schlachtung in Bangladesch. 1986 begann Indien deswegen mit dem Bau eines stacheldraht-bewehrten Grenzzauns, der 2021 die Grenze auf einer Länge von über 3.000 km versperrte.6

Im Distrikt Koch Bihar stellte der Grenzverlauf, wie er von der Radcliffe-Kommission festgelegt wurde, die komplizierteste Grenze der Welt dar. Es gab rund 200 Enklaven auf indischer und ost-pakistanischer Seite, von denen viele kleiner als ein Quadratkilometer waren. Es gab Enklaven innerhalb von Enklaven und sogar eine Enklave dritter Ordnung. Diese Enklaven konnten praktisch nicht bewohnt oder bewirtschaftet werden, da sich die Staaten gegenseitig am Zugang oder am Bau von Versorgungsleitungen hinderten. Deswegen einigten sich Indien und Bangladesch 2011 auf ein Grenzabkommen, das einen Gebietsaustausch vorsah und unklare Grenzabschnitte neu definierte. Insgesamt wurden 111 indische Enklaven gegen 51 bangladeschische getauscht, wodurch sich die Fläche von Bangladesch um ca. 40 Quadratkilometer vergrößerte.7

Schlussbemerkung

Das Beispiel Südasien zeigt, dass bei der Ziehung von Grenzen keine Rücksicht auf historisch entstandene Regionen oder Siedlungsgebiete genommen wurde. Auch die „Radcliffe-Linie“, die sich am Verhältnis von muslimischer zu hinduistischer Bevölkerung orientierte, war für die betroffenen Menschen eine Katastrophe. Bei den heutigen Grenzen findet man sichtbare Unterschiede: die Grenze zwischen Indien und Nepal ist teilweise umstritten, aber offen, die Grenze zwischen Indien und Bangladesch ist dagegen völkerrechtlich anerkannt, aber durch einen Grenzzaun versperrt. Für den Kaschmir-Konflikt zeichnet sich leider keine Lösung ab. Die beteiligten Staaten Indien, Pakistan und China verfügen alle über Atomwaffen und müssten wissen, dass sie diesen Krieg nicht gewinnen können. Der Grenzverlauf hat aber eine hohe symbolische Bedeutung, sodass sie von ihren Ansprüchen nicht abrücken wollen.

Anmerkungen:

1Britische Ostindien-Kompanie, de.wikipedia.org.

2 Michael Mann: Geschichte Südasiens 1500 bis heute, Darmstadt: 2010, S. 119f.

3 Die „Line of Control“ endet am Punkt NJ980420. Nördlich davon liegt der Siachengletscher, für den keine Grenzmarkierung existiert.

4 Seitdem kam es mehrfach zu kleineren militärischen Auseinandersetzungen an der indisch-chinesischen Grenze etwa 2017 in Doklam oder 2020 in Ladakh mit leichten Gebietsgewinnen für China.

5 Christian Wagner, Angela Stanzel: Kartenspiele in Kaschmir, swp-berlin.org, 30.10.2020.

6 Vishnu V V: India Bangladesh Border Is 76% Fenced; MHA To Use Tech Solutions To Complete The Rest, republicworld.com, 3.8.2021.

7 Ministry of External Affairs – Government of India: India & Bangladesh Land Boundary Agreement, mea.gov.in.