IMI-Standunkt 2023/034 - in: Ausdruck September 2023

Editorial. Grenzen: unerwartet uneindeutig, oft blutig und in Bewegung

von: Christoph Marischka | Veröffentlicht am: 18. September 2023

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We didn’t cross the border, the border crossed us.

„Nicht wir sind über die Grenze gekommen, die Grenze ist über uns gekommen“. Diesen Satz hat die Künstlerin und Aktivistin Melanie Cervantes unter einem Foto angebracht, das einen jungen Mann in traditionell mexikanischer – eigentlich aztekischer – Kleidung zeigt, der 1969/70 an der Besetzung der Insel Alcatraz in der Bucht von San Francisco teilgenommen hat. Die berühmte Gefängnis-Insel hatte einst zu Mexiko gehört, bevor das Land im Krieg von 1846 bis 1848 über die Hälfte seiner Fläche an die USA verlor. Edward J. McCaughan beschreibt davon ausgehend die Geschichte des Dorfes Doña Ana im heutigen Bundesstaat New Mexico, dessen Einwohner sich damals entscheiden mussten, die US-Staatsbürgerschaft anzunehmen oder nach Mexiko „zurückzukehren“: Einige entschieden sich, über die neue Grenze zu ziehen und gründeten kurz dahinter die Siedlung Mesilla. Fünf Jahre später wurde auch dieses Gebiet von den USA „gekauft“. Zweimal kam die Grenze über die Einwohner*innen von Mesilla. Auch der französische Künstler Adrien Missika griff den Satz als Titel einer Bilderserie auf, die aus 16 Fotos von Saguaro-Kakteen besteht, welche in diesem Gebiet wachsen. „Diese Kakteen, die mehr als 150 Jahre alt werden, wuchsen auf mexikanischem Territorium und sind nun [US-]amerikanisch“, schreibt er hierzu.

Wodurch sich ein Staat definiere, war die (wenig einfallsreiche) erste Frage meiner mündlichen Abschlussprüfung zum Magister der Politikwissenschaft. Zum Glück erinnerte ich mich an die sog. Drei-Elemente-Lehre des österreichischen Staatsrechtlers Jellinek und antwortete entsprechend: „Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt“. Damit war die Frage beantwortet. Alle drei Begriffe beziehen sich auf etwas überwiegend symbolisches, wobei Grenzen vielleicht noch das konkreteste sind, auf das sie sich jeweils beziehen. Grenzen definieren die Staaten und werden entsprechend gerne statisch gedacht. Eine Ausnahme hiervon sind Imperien, die eine beständige Ausweitung ihres Herrschaftsbereichs anstreben, wobei aber auch hierbei die damit häufig entstehende Unklarheit der äußeren Grenzen als Symptom des bevorstehenden Niedergangs dieser Imperien gedeutet werden kann.

Grenzen verschieben sich, entstehen neu oder werden aufgehoben, dieser Prozess dauert bis heute an. 1989 wurde die Grenze zwischen der DDR und der BRD zunächst geöffnet und recht kurz danach aufgehoben. Im Gegenzug musste sich Deutschland im Zwei-Plus-Vier-Vertrag zum „endgültigen Charakter der Grenzen des vereinten Deutschland“ bekennen, die hier als „ein wesentlicher Bestandteil der Friedensordnung in Europa“ bezeichnet werden (Artikel 1). Auch Artikel 2 enthält eine Bestimmung, die für alle Ewigkeit gelten sollte, spätestens 1999 aber bereits klar verletzt wurde: „Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik erklären, daß das vereinte Deutschland keine seiner Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen.“

Verletzt wurde letztere Bestimmung natürlich mit der Beteiligung am völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien. Bereits zuvor hatte unter anderem (und in Europa führend) die Bundesregierung die früheren jugoslawischen Teilrepubliken Kroatien und Slowenien als unabhängige Staaten anerkannt, obwohl diese ihre Unabhängigkeit keineswegs friedlich, sondern im Falle Kroatiens durchaus auch militärisch durchgesetzt hatten. Über die Legitimität dieser Sezession soll damit kein Urteil gefällt werden, friedlich und in Übereinstimmung mit der UN-Charta war sie nicht.

Noch immer in Bewegung

Die jüngste international anerkannte Grenze verläuft seit 2011 zwischen dem Sudan und dem Südsudan. Ihr Verlauf ist bis heute nicht eindeutig geklärt, aber sie konstituiert einen neuen Staat. Das ist unumstritten, während es sich beim Kosovo um ein sehr umstrittenes Gebilde handelt. Nicht einmal alle Staaten der EU und der NATO haben ihn als souveränen Staat anerkannt, die maßgebliche Resolution des UN-Sicherheitsrates, welche die Stationierung der NATO dort autorisierte, bekennt sich hingegen zur territorialen Integrität Serbiens und betrachtet den Kosovo als Teil derselben.

Grenzen verschieben sich und das ist kein Relikt vergangener Zeiten, das in „Europa“ längst überwunden wäre. Ganz im Gegenteil zeichnet sich die EU als ein Raum überlappender Befugnisse, Entscheidungskompetenzen und Rechte aus, der zu ausgefransten Rändern führt: Die Bewegungsfreiheit im Schengenraum ist nicht deckungsgleich mit den Entscheidungsstrukturen der Währungsunion oder im Rat der Außen- und Verteidigungsministerien. Mit der beständigen Erweiterung rechtlich nicht gleichgestellter Staaten und Territorien nimmt auch die Zahl der ungelösten Grenzkonflikte an den „Rändern“ zu: in Zypern, an den Grenzen zum Kosovo, in der Arktis und der Karibik und vielleicht bald auch mit der Integration einer unvollständigen Ukraine.

Zum politischen, geopolitischen oder völkerrechtlichen Verständnis sei noch hinzuzufügen, dass ein Großteil der Grenzen überhaupt erst im letzten Jahrhundert gezogen und in den letzten Jahrzehnten tatsächlich definiert und markiert wurde. Zwischenstaatliche Grenzen waren lange eine abstrakte Randerscheinung. Im „Atlas der Unordnung“, der „60 Karten über sichtbare, unsichtbare und sonderbare Grenzen“ enthält, wird u.a. festgestellt: „Nur wenige Grenzen stammen aus der Zeit vor 1800. Die meisten davon liegen in Europa… . 1914 gab es 24 Staaten, 1920 schlossen sich 48 Länder zum Völkerbund zusammen… . In dem Maße, wie Reiche zerfielen und der Ostblock auseinanderbrach, ist die Zahl der Grenzen seit 1945 geradezu explodiert… . Mehr als zehn Prozent der heutigen Grenzen entstanden nach 1990… . In Afrika [sic] zum Beispiel sind fast zwei Drittel der Grenzen noch gar nicht festgelegt und markiert“.

Erstaunlich unkritisch wird in diesem Buch auch „[d]er Geograph Friedrich Ratzel“ zitiert – der auch als Vordenker der nationalsozialistischen Ideologie des „Lebensraums“ gilt: „Der Grenzsaum ist das Wirkliche, die Grenzlinie die Abstraktion davon.“ Darin steckt eine Wahrheit, die man unabhängig vom politischen und historischen Kontext anerkennen oder gar in diesen einordnen kann. Die Vorstellung der Grenze als Linie ist tatsächlich eine völkerrechtliche Abstraktion und europäisch geprägt.

Beispiel Sahel

Das führt zu einer interessanten Widersprüchlichkeit, die oft aufscheint, wenn es um Grenzen oder „Afrika“ geht. Häufig wird dann in kritischer Intention darauf verwiesen, dass die Grenzen dort von Europa aus „mit dem Lineal gezogen wurden“. Das ist richtig und wichtig, entspringt aber einem ganz besonderen, wiederum typischen europäischen Blick auf die Dinge, nämlich demjenigen auf die Karte. Vor Ort, in der Sahara und dem Sahel z.B., sieht man keine Linie und auch kaum einen Schlagbaum, sondern einen ungefurchten Raum. Es gibt vielleicht Gendarmerie-Posten an den Ausfallstraßen kleinerer Orte und ein lokales Wissen darüber, ab wo man Ärger bekommen kann, wenn man keinen guten Grund hat, sich dort aufzuhalten. Mit der konkreten Linie auf einer Karte hat das aber nur bedingt zu tun. Ähnliches wie für Wüsten und Savannen gilt in anderen Teilen des Kontinents und der Welt auch für Gebirge und Wälder. Obwohl die Grenzen im Sahel tatsächlich mit dem Lineal gezogen wurden, waren und sind sie erstaunlich unumstritten und wenig kontrolliert. Eine aus Europa schwer nachvollziehbare Gleichgültigkeit gegenüber ihrem Verlauf war für einige Staaten dieser Region eine gute Ausgangsbedingung für eine recht unblutige Unabhängigkeit und (unvollständige) Dekolonisierung. Kriege wurden dort kaum geführt, um Grenzen zu verschieben, typischer ist der Putsch in der Hauptstadt. Die Präsenz bewaffneter Gruppen aus den Nachbarstaaten oder den ehemaligen Kolonialmächten ist keine Seltenheit, wird geduldet und instrumentalisiert. Wichtiger als die Souveränität im Sinne der Drei-Elemente-Lehre sind hier grenzüberschreitende Netzwerke zwischen Fraktionen der staatlichen Militärs und anderen (bewaffneten) Gruppen, über welche auch die Machtverhältnisse in den (Haupt-)Städten moderiert werden. Es erscheint naheliegend, dass die Konflikte in der Region und das Scheitern der EU bei einer „Stabilisierung“ in ihrem Sinne auch damit zusammenhängt, dass sie hier ein Souveränitätsverständnis durchsetzen wollte, das die Grenzen aufwertet und dadurch den (politischen) Raum restrukturierte.

Zu den Beiträgen im Schwerpunkt

Verallgemeinern kann man diesen Befund allerdings nicht. Die Unabhängigkeit der Westsahara etwa verlief alles andere als unblutig und ist bis heute nicht durchgesetzt. Wie Pablo Flock in seinem Beitrag beschreibt, führt der andauernde Konflikt zu einer Durchfurchung der (von wenigen westlichen Regierungen anerkannten) Demokratischen Arabischen Republik Sahara mit Befestigungsanlagen, die keinerlei Deckungsgleichheit mit den völkerrechtlichen Grenzen aufweisen. Eine diesbezüglich ähnliche Konstellation beschreibt Lena Schmailzl für die ungleich dichter besiedelten besetzten palästinensischen Gebiete am Beispiel eines Checkpoints, der geradezu eine Zuspitzung der europäischen Vorstellungen einer Grenze darstellt – aber keine völkerrechtliche Bedeutung, sondern vielmehr eine Funktion zur Strukturierung des Arbeitsmarktes ausübt.

Dass die von Europa aus in den Kolonialgebieten gezogenen Grenzen durchaus auch zu heftigen Auseinandersetzungen und anhaltenden Konflikten führten, beschreibt Ben Müller am Beispiel der Landgrenzen in Südasien. Hier trifft die Antwort des „Atlas der Unordnung“ auf die Frage „Wie aber kommt es zur Entstehung von Grenzen?“ durchaus zu: „Meistens fließt dabei Blut“. In der Pauschalität ist das aber dann doch nicht ganz richtig. Vor allem Seegrenzen werden oft durch Verhandlungen und Kompromisse ausgehandelt oder vor internationalen Gerichten entschieden. Sie sind auch nach wie vor in Bewegung. Das gilt auch für das Südchinesische und das Ostchinesische Meer, geht aber dort mit einer umfassenden Militarisierung einher und droht sich zum globalen Konflikt zuzuspitzen, wie Andreas Seifert in seinem Beitrag über Chinas „fluiden Grenzraum“ beschreibt. In einem kurzen Beitrag über den Whisky-Krieg um die „Hans-Insel“ zeigt Ben Müller wiederum, dass es auch anders und friedlicher laufen kann – wenn keine wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen im Spiel sind.

So viel zur Geopolitik. Grenzen töten jedoch nicht nur in zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen um ihren Verlauf, sondern auch, wenn sie denjenigen verschlossen bleiben, die sie überwinden wollen oder müssen. Auch diesen Aspekt wollten wir hier behandeln und haben verschiedene migrationspolitische und Bürgerrechtsgruppen um ein kurzes Interview gebeten. Migration-Control.info, das Border Ecologies Network und Statewatch haben uns geantwortet und ihre Antworten stehen für sich. Statewatch stellte dabei die Prozesse der Externalisierung und Technologisierung in den Mittelpunkt, die auch in zwei jüngeren Publikationen, den „Sortiermaschinen“ von Steffen Mau und der 131. Ausgabe der Zeitschrift „Bürgerrechte & Polizei“ ausbuchstabiert werden, die wir hier gemeinsam rezensieren (und empfehlen).

Leerstellen

Vor dem Hintergrund der vielfältigen Perspektiven auf „Grenzen“ und eines dem Begriff fast schon innewohnenden Eurozentrismus ist es bedauerlich, dass wir (auch) für diesen AUSDRUCK-Schwerpunkt keine Autorin mit einer postkolonialen Perspektive gewinnen konnten. Einen weiteren Aspekt konnten wir leider nicht realisieren. Wir haben bei verschiedenen feministischen und antirassistischen Gruppen angefragt, ob sie einige Gedanken dazu formulieren könnten, dass Grenzen – die als zwischenstaatliche töten und Macht manifestieren – im Zwischenmenschlichen notwendig sind und schützen. Ein zweifellos kompliziertes Thema, zu dem wir gerne auch in späteren Ausgaben einen Beitrag abdrucken, falls sich jemand dem annehmen möchte. Vielleicht aber haben beide auch einfach gar nichts miteinander zu tun…?