IMI-Standpunkt 2023/031 - in: junge welt, 21.8.2023

Verzweiflung im Land, Selbstschutz im Palast

Im Niger weckt der Machtwechsel Hoffnung auf neue Ansätze im Kampf mit den Dschihadisten. Ambitiöse Generäle nutzen das aus.

von: Pablo Flock | Veröffentlicht am: 22. August 2023

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(Dieser Artikel ist eine längere und unredigierte Fassung eines gestern unter dem Titel „Ambitionierte Generäle“ in der jungen Welt erschienen Artikels.)

Fast eine Woche nachdem das Ultimatum abgelaufen ist, das die ECOWAS den Putschisten im Niger stellte, wird eine militärische Intervention immer unwahrscheinlicher. Während sich im Powerhouse der Regionalorganisation, Nigeria, immer mehr Widerstand gegen einen teuren und verlustreichen Krieg im Nachbarland formiert, rekrutieren Freiwillige in Nigers Hauptstadt, Niamey, und den Grenzstädten zu Nigeria Bürgerwehren, um einen eventuellen Angriff der Nachbarn abzuwehren.1

Eine Wiedereinsetzung des gewählten Präsidenten, Mohamed Bazoum, erscheint nicht nur unwahrscheinlich, weil eine offizielle Einladung seinerseits, die völkerrechtlich für eine Intervention gebraucht würde, schnell zu seiner Verurteilung im schon laufenden Verfahren wegen Hochverrats und seiner Hinrichtung führen würde. Die Unterstützung der Putschisten in der Bevölkerung ist vermutlich zu groß. Ein Eingreifen würde nur als Angriff auf die Souveränität gesehen. Neben den wohl rund 30.000 Menschen, die ihre Unterstützung der Junta durch ein gemeinsames Runterzählen bis zum Ablauf des Ultimatums in einem Fußballstadion in Niamey bekundeten, legt dies eine vom englischen Economist beauftragte Studie nahe. Die schnell erstellte Umfrage ist zwar nicht repräsentativ, da gebildete Männer in der Hauptstadt überrepräsentiert seien, doch als Stimmungsbild hat sie es in sich. 79% der Befragten unterstützten demnach das Handeln der Junta. 12%, die sich eine schnelle Wiedereinsetzung Bazoums wünschen, stehen gegenüber 78%, die die Junta bis zur nächsten Wahl oder generell länger an der Macht sehen wollen. Von den 43%, die sich eine Militärintervention von Außen wünschen, hoffen die meisten (53%) auf eine Unterstützung der Putschisten durch Russland. Ein Eingreifen der USA (11%) oder der ECOWAS (6%) ist dagegen sehr unbeliebt. Russland genießt mit über 60% das größte Vertrauen als äußerer Akteur, weit über Frankreich und sogar der UN mit je unter 10%.2

Dies ist durchaus kein neues Phänomen. Seit einer Weile gibt es Demonstrationen gegen die französische Militärpräsenz auf denen auch russische Fahnen wehten. Im November 2021 eskalierte dies so weit, dass französische Soldaten auf nigrische Protestierende schossen, die einen Militärkonvoi der Barkhane Mission auf dem Weg nach Mali blockierten, und dabei drei Personen töteten und 18 weitere teils schwer verletzten. Kurz zuvor hatte ein umfassendes Gewerkschaftsbündnis, inklusive der größten Gewerkschaft des Landes, in einem Communiqué eine Diversifizierung der militärischen Partner und einen Abzug aller französischer Truppen gefordert.3

Die Politik Bazoums und seines Vorgängers, Mahamou Issoufou, immer mehr ausländisches Militär ins Land zu holen – von den USA mit ihrer Drohnenbasis, europäische Ausbildungsmissionen und zuletzt die französische Barkhane, stieß wohl auch im eigenen Militär nicht nur auf Zustimmung. Laut Informanten der Crisis Group, habe sich Salifou Modi, die Nummer zwei in der Putschistenhierarchie und bis zur Absetzung durch Bazoum Generalinspekteur der Streitkräfte, regelmäßig über zuviel Autonomie und zu wenig Rechenschaft der französischen Truppen beklagt. Er wurde im März abgesetzt, als er von einem Treffen mit der russlandnahen malischen Militärjunta zurückkehrte. Doch Bazoum hatte mit seinem durchaus demokratischen Ansatz, das Militär im Staat zu schwächen, die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Kürzlich hatte er per Dekret sechs Generäle in den Ruhestand versetzt. Laut dem Präsidenten nahestehenden Quellen, sei auch ein Dekret in Arbeit gewesen, um General Abdourahamane Tchiani, der Bazoum zu Anfang seiner Amtszeit vor einem Putsch rettete und den jetzigen Putsch nun anführte, von seinem Posten zu entheben.4

Zwar stimmt die Begründung der Putschisten, wegen der „Verschlechterung der Sicherheitslage“ im Land die Macht zu ergreifen, nicht, denn laut dem Armed Conflict Data Mapping Project (ACLED) sanken die Angriffe auf Zivilisten und die Opferzahlen mit der Zunahme der militärischen Aktionen seit 2021.5 Doch mit dem vom Außenministerium oft beschworenen „Stabilitätsanker“ im Sahel ist es wohl trotzdem vorbei. Zu lange hat man auf das Vertrauen der Regierung gesetzt und die Stimmung in der Bevölkerung außen vor gelassen.

Wie Aoife McCullough, die im Rahmen einer Forschung über die Militarisierung des Nigers der London School of Economics zwischen Januar und Mai 2022 Interviews in der Gegend machte, in der Washington Post schreibt, hatten selbst die Menschen in Gebieten mit islamistischen Terrorattacken Zweifel am „wahren Zweck der westlichen Truppen in ihrem Gebiet.“ Und „diese Zweifel beruhten nicht auf russischer Propaganda, sondern auf direkten Erfahrungen.“ So hätte sich die Sicherheitslage in der Tahoua-Region beispielsweise enorm verschlechtert, seit die Bundeswehr dort 2018 ein Trainingszentrum im Rahmen der EUTM errichtete. Es sei ein strategisches Gebiet, in welchem der Islamische Staat in der Großsahara (ISGS) schon aktiv war. Zuvor hätte es jedoch keine Angriffe gegeben. Das zeitliche beieinander liegen der Eröffnung des Trainingszentrums und des Beginns von Angriffen auf Zivilisten, werde dann als Kausalitätskette in Verschwörungstheorien gepackt. Da die lokale Bevölkerung wohl nicht wusste, dass der lokale Ableger des Islamischen Staats (IS) mittlerweile auch Drohnen vor Angriffen nutze, machte sich das Narrativ breit, die Franzosen gäben Informationen an den IS weiter, der dann angreife, als es nach Überflügen zu Attacken kam. Andere waren zumindest überrascht und verzweifelt, dass es nach einem Notruf wegen eines solchen Falles so lange dauerte, bis die Gendarmerie eintraf und warum die Europäer mit ihrer überlegenen Technik die Bevölkerung nicht effektiver schützten. Ein robusteres Vorgehen so wie in Mali, wo russische Söldner an der Seite der nationalen Armee die Dschihadisten bekämpft, erscheine deswegen verheißungsvoll – und das obwohl man von den Vorwürfen der Menschenrechtsverbrechen dieser Allianz gehört habe. Diese würden entweder als westliche Propaganda abgetan, odermit den Worten entschuldigt: „Wir müssen zwischen dem Schlechten und dem Schlimmeren wählen.“6

Die Dschihadisten haben ihr Abwarten derweil beendet und nutzen das Machtvakuum für erneute Angriffe. Am Mittwoch, 17. August töteten sie in der besonders heimgesuchten Tillaberi-Region 17 Soldaten und verwundeten 24.

Anmerkungen:

1 Mednick, Sam: First major jihadi attack since coup kills 17 and wounds dozens in Niger, fueling Western fears. apnews.com 16.08.2023

2 After Niger’s coup, the drums of war are growing louder. economist.com 12.08.2023

3 Flock, Pablo: IMI-Standpunkt 2021/063 Wi(e)der die Kolonialmacht? 17.12.2021

4 The Attempted Coup in Niger: Avoiding Armed Conflict. crisisgroup.org 07.08.2023

5 Nsaibia, Héni: Fact Sheet: Military Coup in Niger. acleddata.com 03.08.2023

6 McCullough, Aoife: Why are people in West Africa waving Russian flags? washingtonpost.com 28.10.2022