IMI-Standpunkt 2023/026 - in: junge welt, 13.7.2023
»Anspruch auf Weltmachtrolle ist omnipräsent«
von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 13. Juli 2023
BRD und Frankreich wollen europäischen Rüstungskomplex dominieren. Minister bejubeln Panzerprojekt MGCS. Ein Gespräch mit Jürgen Wagner
Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius und sein französischer Amtskollege Sébastien Lecornu haben am Montag das deutsch-französische Kampfpanzersystem »Main Ground Combat System« bejubelt. Ab 2035 soll es den »Leopard 2« und den »Leclerc« ablösen. Was ist zu befürchten?
Neben dem Luftkampfsystem FCAS ist das Kampfpanzersystem MGCS das wichtigste Projekt zum Aufbau eines deutsch-französisch dominierten europäischen Rüstungskomplexes. Die Idee dahinter: Künftig soll es in wesentlichen Bereichen nur noch ein europaweites Standardsystem geben. Die »Konsolidierung« kann zu Fusionen und Übernahmen führen, an deren Ende primär einige wenige deutsche und französische Rüstungsgroßkonzerne stehen. Von einer solchen Position aus soll den USA auf den weltweiten Exportmärkten »besser« Konkurrenz gemacht werden können. Das MGCS soll nicht nur aus einem Panzer, sondern auch aus zahlreichen Begleitsystemen – insbesondere Drohnen – bestehen, die auf »künstliche Intelligenz«, KI, setzen und so die Automatisierung der Kriegführung weiter vorantreiben.
Es gab im Vorfeld Streit, in den auch der Rüstungskonzern Rheinmetall verwickelt war. Wie ordnen Sie diesen ein?
Rheinmetall versucht mit aller Macht, Anteile am Bau des MGCS zu ergattern. Damit ist aber bereits die deutsch-französische Holding KNDS betraut, die dies zu verhindern sucht. Ein Einstieg Rheinmetalls würde die Balance in dem Projekt deutlich verschieben, weshalb sich auch die deutsche Regierung hierfür ausspricht. Zugleich versucht Rheinmetall mit dem KF51 »Panther« ein Konkurrenzprodukt in Stellung zu bringen, falls der angestrebte MGCS-Einstieg nicht in der gewünschten Form gelingt.
Weshalb ist das deutsch-französische Kampfpanzersystem außerhalb des Kriegsbündnisses NATO geplant?
Zunächst ist das NATO-Budget selbst viel zu klein, um derlei Rüstungsprojekte anzuschieben. Den Grund dafür, weshalb die Europäer hier und bei einer Reihe anderer Rüstungsprojekte auf Eigenentwicklungen setzen, statt von der Stange bei den USA zu kaufen, was viel billiger wäre, sehe ich vorrangig darin: Man möchte in Schlüsselbereichen möglichst nicht in Abhängigkeit zu einer anderen Großmacht geraten – auch nicht zu den USA. Dies kommt unter dem Begriff »strategische Autonomie« daher.
Am Dienstag begann der NATO-Gipfel in Vilnius. Dort wird es auch um den deutschen Bundeswehr-Einsatz in Litauen gehen. Wie will sich die deutsche Brigade aufstellen?
Das neue NATO-Streitkräftemodell sieht vor, 100.000 Soldaten und Soldatinnen innerhalb von zehn Tagen, weitere 200.000 bis Tag 30 und zusätzliche 500.000 bis Tag 180 mobilisieren zu können: Deutschland hat für den ersten Bereitschaftsgrad bis 2025 eine voll ausgestattete Division von 15.000 zugesagt, 2027 soll ein zweiter und bis 2030 ein dritter dieser schweren Großverbände folgen. Es soll regionale Zuständigkeiten geben, Deutschland für die Ostseeregion verantwortlich sein. Die nun angekündigte Aufstockung der Präsenz in Litauen auf Brigadegröße 4.000 Soldaten und Soldatinnen bildet hier sozusagen die Vorhut. Neu ist hier vor allem der dauerhafte Charakter. Sie werden für Jahre dort stationiert bleiben, mitsamt Familien, Kindergärten, Schulen, Supermärkten. Solche Militärbasen kennt man sonst nur von den USA.
In der Politik wird der deutsche Führungsanspruch im Militärbündnis reklamiert – allen voran von der Rüstungsindustrielobbyistin Marie-Agnes Strack-Zimmermann von der FDP. Was bezweckt diese Rhetorik?
Der Anspruch auf eine Weltmachtrolle ist inzwischen in den deutschen Führungsetagen ebenso omnipräsent wie die damit verknüpfte Forderung, dies bedürfe zwingend einer militärischen »Führungsverantwortung«. Besonders problematisch finde ich, dass diese Sichtweise inzwischen auch in höchstem Maße in die SPD eingesickert ist, etwa in das Papier »Sozialdemokratische Antworten auf eine Welt im Umbruch«, das im Dezember auf dem SPD-Parteitag verabschiedet werden soll.
Müssen wir dies als reale Kriegsvorbereitungen deuten?
Wenn man das kürzlich fertiggestellte Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages ansieht, spricht vieles dafür, dass sich die NATO bereits im Krieg mit Russland befindet. Die Stimmen der Antikriegsbewegung müssen also lauter und zahlreicher werden.