IMI-Analyse 2023/31

Öffentliche Gelöbnisse nach der „Zeitenwende“

Zur Komplizenschaft von Militär und „ziviler“ Gesellschaft

von: Markus Euskirchen | Veröffentlicht am: 6. Juli 2023

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Mehrere hundert Rekrutengelöbnisse finden jährlich statt. Zentraler Bestandteil der feierlichen Veranstaltung innerhalb der Kaserne oder auf einem öffentlichen Platz ist die Gelöbnisrede eines höheren militärischen Führers oder einer öffentlichen Person. In diesen Reden mischt sich die verpflichtende Ansprache an die Rekruten mit geschichts- und sicherheitspolitischen Setzungen und Behauptungen sowie rüstungspolitischen Forderungen. Das war vor der „Zeitenwende“ so und ist seitdem nicht anders. Hervorhebenswerter Zweck der Gelöbnisveranstaltung ist die Verpflichtung der Rekruten auf ihr Handwerk: Das Töten und Sich-töten-lassen auf Befehl. Aber auch der Charakter des dominierenden zivil-militärischen Verhältnisses in der Gesellschaft lässt sich daran ablesen.

Gelöbnisformel anstelle von Eid oder Schwur

Am 23. März 2023 hielt Generalmajor Wolfgang Ohl die Gelöbnisrede beim öffentlichen Gelöbnis auf dem Marktplatz in Kandel.1 Der Generalmajor hebt vor der Truppe und der Stadtbürgerschaft ausführlich noch einmal hervor, worum es geht, indem er die Gelöbnisformel komplett vorträgt. Die Bundeswehrrekruten geloben, der „Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen“. Drei Dimensionen dieses Gelöbnisses will ich hier besonders hervorheben:
1. Der Gehorsamsadressat der Eidesformel ist die Bundesrepublik Deutschland. Warum, so gilt es zu fragen, fand die viel konkretere, einer Parlamentsarmee angemessenere Formulierung „ich gelobe, das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland zu wahren“ in den Beratungen des Bundestages 1956 keine Mehrheit? Nur wenn der ausdrückliche Gehorsamsadressat hinreichend abstrakt, unbestimmt und diffus ist, gelingt durch die Gelöbnisveranstaltung die Gehorsamsverpflichtung auf den jeweiligen militärischen Vorgesetzten bzw. die Befehlsinstanz.
2. Verteidigungsgüter sind „Recht und Freiheit des deutschen Volkes“. Das Vaterland schied ebenfalls schon 1956 aus (allerdings eher aufgrund taktischer Erwägungen: Dresden, Stettin und Saarbrücken hätten ja erst erobert werden müssen, um sie verteidigen zu können). So wurde neben dem fehlenden Verfassungsbezug die deutsch-völkische Konnotation zum zweiten ›Geburtsfehler‹ des Bundeswehrgelöbnisses.
3. Das Gelöbnis enthält die Verpflichtung auf die „Bundesrepublik Deutschland“ und darüber hinaus auf „Recht und Freiheit“. Hier ließe sich der Bezug zur „Armee in der Demokratie“ konstruieren. In diesem Zusammenhang gilt jeder einzelne Soldat als „Staatsbürger in Uniform“, zentraler Grundsatz sei die „Innere Führung“, d.h. die Freiheit der Bundeswehrler, mitzudenken und mit eigenen Rechten ausgestattet, (selbst)verantwortlich die Rollen des Bürgers und des Soldaten im Dienst zu vereinen. Die Rückbindung im weiteren Gelöbnistext an die zentralen soldatischen Tugenden „Treue“ und „Tapferkeit“ konterkariert diese republikanisch-demokratischen Vorsätze.
Der Generalmajor fährt fort in seiner Rede beim Gelöbnis in Kandel, so wörtlich: „Wenn Sie in wenigen Minuten feierlich Ihren Eid [sic!] leisten, so ist dies ein Treueversprechen auf Gegenseitigkeit. Sie schwören, [sic!] unserem Land treu zu dienen. Und sie dürfen umgekehrt erwarten und sich darauf verlassen…“ 2
Aber als hoher Dienstgrad weiß der Generalmajor sicherlich, dass die Rekruten beim öffentlichen Gelöbnis gerade keinen Eid schwören. Denn bei der Gründung der Bundeswehr hatte sich der Bundestag – insbesondere mit Blick auf den personalisierten Führereid des Dritten Reiches – für die Einführung einer abgeschwächten und systemgebundenen Variante des militärischen Treueeides entschieden.3 Die Bundeswehr begeht offiziell eben keine feierliche Vereidigung sondern ausdrücklich ein feierliches Gelöbnis. Wenn der General das hier dennoch so prominent behauptet, dann tut er das um des Effektes willen bei Leuten, die das weniger gut wissen als er. Er tut dies risikolos, denn die Formulierung muss ja qua Form der Veranstaltung unwidersprochen stehen bleiben und kann so ihre volle Wirkung entfalten.

Anleitung zum militärischen Gehorsam

Das Gelöbnis schließt eine mehrwöchige militärische Grundausbildung ab, vereint die dort angewandten Disziplinierungsmechanismen in sich und trägt dazu bei, die Bedingungen für die Ersetzung ziviler durch militärische Normen zu schaffen. Die körperliche Unterwerfung und der Drill der vergangenen Wochen waren kein Selbstzweck. Ziel der militärischen Sozialisation ist die Gehorsamsproduktion. Die Zertrümmerung individuellen Eigensinnes durch physische und psychische Gewalt ermöglicht die Institutionalisierung von Disziplin und Gehorsam in der militärischen Ordnung.4
„Das öffentliche Gelöbnis ist eine würdevolle Veranstaltung und nur mit einem schlichten militärischen Zeremoniell verbunden. Die Symbolkraft hoheitlicher Elemente (z.B. Eides- u. Gelöbnisformel, Feststellung des Kommandeurs, Truppenfahne, Nationalhymne) soll die Soldaten auch emotional an ihre soldatischen Pflichten binden.“5 Ziel ist die Bindung der einzelnen Soldaten und ihre Eingliederung in den Truppenkörper. Dort sollen sie verfügbar sein: „Diese Rituale werden gezielt eingesetzt, um die innere Bindung der Rekruten an den Staat zu fördern und die Soldaten dienstwillig und verfügbar zu machen, und das ist für alle Machthaber der entscheidende Punkt: die Verfügbarkeit über Menschen, die fraglos parieren.“6
Loyalität wird mit der Verwendung religiöser Kulturelemente („Schwur“) aus dem metaphysischen Sicherheitsbedürfnis und Verantwortungs- bzw. Pflichtgefühl der Einzelnen abgeleitet. Sie ist „auf dem Alltagsglauben an die Heiligkeit von jeher geltender Traditionen und die Legitimität der durch sie zur Autorität Berufenen gegründet.“7
Der Loyalitätsproduktion innerhalb des Militärs dient die Legitimitätsproduktion nach außen hin. Zentral ist hier die „Integration der Bundeswehr in die Gesellschaft“. Bis vor einigen Jahren – als die Bundeswehr sich noch offener, massenhafter Kritik ausgesetzt sah („GelöbniX“) – stand die „Integration der Bundeswehr in die Gesellschaft“ mit deren zivilisierender, kontrollierender Wirkung auf das Militär im Vordergrund. Der demokratische Anspruch8 der Bundeswehr wurde hervorgehoben. Die militarisierende Wirkung in der umgekehrten Richtung wurde fast durchweg übersehen oder unterschlagen. Der schon vor einem Vierteljahrhundert offensichtlich gewordene Widerspruch zwischen dem Konzept des „Staatsbürgers in Uniform“ und dem faktischen Trend vom „Diplomaten in Uniform“ zum „Soldaten im Feuer“, dem wiederbelebten Soldatenbild des Kriegers9, mündete in eine gesamtgesellschaftliche Komplizenschaft, die die „Integration der Bundeswehr in die Gesellschaft“ heute aus einem gemeinsamen Interesse heraus begründet: Der einstige Widerspruch löst sich auf in der hinreichend abstrakten Imagination der „Verteidigung der Freiheit“ mit militärischen Mitteln: Die Bundeswehr ist im weltweiten Einsatz für die Interessen von Staat und Kapital.
Der Staat verlangt der Bevölkerung die Mittel ab zur Alimentierung von Krieg und Rüstungswirtschaft. Diese macht mehrheitlich mehr (Presse, Grüne Partei) oder weniger (nennenswerte Teile der „gesellschaftlichen Linken“) begeistert mit. Das Kapital bekommt Gelegenheit, seinem Zweck (Mehrwertvermehrung) risikolos gerecht zu werden: Neue Kalte Kriege (gegen Russland und am Horizont auch gegen China) werden ausgerufen. Damit einher drehen sich die profitablen Rüstungsspiralen. In den Worten des Generalmajors – er zitiert die Premierministerin des anti-russischen Frontstaates Estland: „Die Freiheit muss besser bewaffnet sein als die Tyrannei.“

Das Gewissens muss zurückstehen

Die doppelte rhetorische Grenzverletzung des Generalmajors – vom Gelöbnis zum Eid, vom Geloben zum Schwören – fällt live wohl kaum jemandem auf, zielt aber auf eine Wirkung. Indem sich die militärische Führungsperson hier an entscheidender Stelle der religiös konnotierten Autorität von Eid und Schwur bedient, verstärkt sie den disziplinierenden Zugriff auf die Gewissen der Rekruten (und ihres familiären Umfeldes). Gemäß der offiziellen Lesart „bindet“ das Gelöbnis das individuelle Gewissen des Gelöbnisgebers (Rekrut) an äußere, nämlich militärische Normen und Verhaltensweisen, die ihm der Gelöbnisnehmer (Staat/Militär) abverlangt bzw. auferlegt. „Im Gewissen ist eine sittliche Erfahrung ausgedrückt, in der ein Akt des Wissens von einer Norm verbunden ist mit einem Gefühl der Unlust oder des Schmerzes in Folge einer Abweichung von den Regeln einer Gemeinschaft.“10
Als ›Gewissen‹ kann man eine bis in die emotionale Ebene der Persönlichkeitsstruktur eingelassene Internalisierung gesellschaftlicher Normen bezeichnen. Das militärische Tötungs- und Sterbegebot konfligiert grundlegend mit der Norm des zivilen Gewaltverbotes, woraus ein schwerwiegendes Problem bei der Konstitution soldatischen Gewissens resultiert. Der Soldat gibt sein Gewissen „in dem Moment ab, wo er den Eid des Gehorsams ablegt. Danach kann er nicht mehr unter allen Umständen und jedesmal fragen: Kann ich es mit meinem Gewissen vereinbaren? Er darf das, aber er ist eigentlich gezwungen, das zurückzunehmen. Es wird ihm nahegelegt, nicht dauernd jeden Befehl zu überprüfen, außer in Extremfällen. Aber zunächst einmal erwartet der Staat oder die Befehlshaber, daß im Zweifel der Befehlshaber recht hat.“11
Damit Soldaten „auf Befehl hin Handlungen vor(nehmen), die allen übrigen Gesellschaftsmitgliedern schwerste Bestrafung einbringen würden“12, bedarf es mehr als einer Gewissensbindung. Der Soldat muss Anteil erhalten an der Legitimität des staatlichen Gewaltmonopols (Max Weber). Der völlig unbestimmte Freiheitsbegriff liefert diese Legitimität. Nur so kann der Widerspruch zwischen militärischem Gewaltauftrag und zivilem Gewaltverbot subjektiv ausbalanciert werden. Der militärische Grundauftrag – die Ausübung (tödlicher) physischer Gewalt – ist mit dem zivilen Gewissen nicht nur partiell, sondern prinzipiell unvereinbar. Soll das individuelle und kollektive soldatische Gewaltpotential nicht nur entfesselt, sondern unter einem planvollen Kommando gezielt und kontinuierlich eingesetzt werden, bedarf es der Ablösung der zivilen durch eine militärische Gewissensstruktur. Militär kann deswegen nur dann funktionieren, wenn das zivile Gewissen im Hinblick auf den militärischen Zweck suspendiert wird.
Hat der Soldat seinen Dienst getan, seinen mörderischen Befehl ausgeführt, bricht vielfach das zivile Gewissen nachträglich oder nach der Heimkehr, nach dem Ende des Einsatzes wieder durch. Oft ist dann der Konflikt zwischen unter Gewissenssuspendierung Erlebtem und Getanem nicht mehr mit dem wieder zur Geltung gekommenen zivilen Gewissen vereinbar. Der Einzelfall wird pathologisiert und sozial aussortiert. Die militärpsychologische Diagnose heißt Post Traumatic Stress Disorder (PTSD). Fernsehserien thematisieren den Mechanismus und kriegseinsatzbedingte Täter erscheinen uns als Opfer – richtig daran: Opfer von Gewissenstechnologien, die auch im Gelöbnis zum Einsatz kommen.
An der Gewissenssuspendierung hat das Gelöbnis einen wesentlichen Anteil. Es vermittelt die Auflösung der zivilen Identitäten der Individuen über die Erfahrung der kollektiven Truppenidentität. Symbolisch wird die neue staatlich-militärische Identität dargestellt und dabei für den Rekruten körperlich erfahrbar: Im Gelöbnis wird der Rekrut gegenüber der Öffentlichkeit als Teil der Staatsgewalt präsentiert. Er tritt uniformiert und entindividualisiert auf. Am Gelöbnisort wird der Rekrut räumlich so platziert, dass er der anwesenden zivilen Öffentlichkeit gegenüber steht. Während des Rituals wird der Rekrut nicht mit seinem zivilen Namen, sondern als Soldat oder Kamerad angerufen; er folgt dabei besonderen Codizes und Regeln, die nur für ihn, nicht aber für die anwesende Öffentlichkeit gelten. Indem die Abordnungen der Rekruten, stellvertretend für alle anwesenden Rekruten, beim Sprechen der Gelöbnisformel ihre Hand über die Nationalfahne strecken, erhalten sie quasi-körperlichen Anteil an dem wichtigsten nationalen Symbol.13

Anmerkungen

1 Das ganze Gelöbnis ist in einer Amateuraufnahme bei Youtube zu verfolgen, hier: Teil 4/7 Gelöbnisrede Generalmajor Wolfgang Ohl- Gelöbnis 23.03.23 Kandel, https://www.youtube.com/watch?v=7BxB10_cfB0.

2 Ebd. ab 2:23min.

3 Markus Euskirchen: Das öffentliche Gelöbnis der Bundeswehr in der Diskussion, 1998, Berlin: Diplomarbeit Otto-Suhr-Institut für Politische Wissenschaften der Freien Universität Berlin, S. 36ff, sowie Klaus von Schubert: Wiederbewaffnung und Westintegration: Die innere Auseinandersetzung um die militärische und außenpolitische Orientierung der Bundesrepublik 1950-1952, Stuttgart 1972 degruyter.com, Martin Wengeler: „Remilitarisierung“ oder „Verteidigungsbeitrag“? Sprachthematisierung in den Diskussionen um die westdeutsche Wiederbewaffnung, in: Sprache und Literatur (64/1989), S. 39-57.

4 Ulrich Bröckling: Disziplin. Soziologie und Geschichte militärischer Gehorsamsproduktion, München 1997.

5 Thomas Flink: Notwendiger Rückhalt. Eid und feierliches Gelöbnis, in: Information für die Truppe (3/1998), S. 17f.

6 Heinrich Missalla: Militär und Katholizismus, in: GelöbNIX-Leporello, Berlin 1996, S. 5.

7 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen [zuerst 1921] 1972, S. 159.

8 Das formale Recht, einen Befehl verweigern zu können und zu müssen, sobald dieser gesetzes- oder völkerrechtswidrig ist, stellt tatsächlich einen formal-demokratischen Fortschritt im historischen Vergleich mit anderen deutschen Armeen und im internationalen Vergleich mit anderen Militärapparaten dar. In der Praxis kommt dieses Recht allerdings kaum zum Tragen, da der Untergebene schon von seiner Informationssituation her nicht in die Lage versetzt wird, seine Rechte wahrzunehmen und dem militärischen Führer und dessen Befehlen daher ›vertraut‹.

9 Vgl. Björn M. Tolksdorf: Editorial; in: ami, 28 (9/1998), S. 3f.

10 Heinz D. Kittsteiner: Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt/M. 1991.

11 Ekkehart Krippendorff: Interview mit dem Projekt Militärrituale am 18.2.2001; in: Markus Euskirchen: Materialband zur Dissertation „Militärrituale – Die Ästhetik der Staatsgewalt. Kritik und Analyse eines Herrschaftsinstruments in seinem historisch-systematischen Kontext“: Reden, Bilder, Interviews, Dienstvorschriften, Berlin 2003, S. 151. https://www.euse.de/wp/militarrituale/.

12 Ulrich Bröckling, a.a.O., S. 9.

13 Siehe Teil 6/7 Der Höhepunkt, die Vereidigung. Gelöbnis 23.03.23 Kandel, https://www.youtube.com/watch?v=p6pSDSrL2A0.