IMI-Analyse 2023/33

Militärische Landnahme

Ein raumgreifender Prozess

von: Christopher Schwitanski | Veröffentlicht am: 6. Juli 2023

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Im östlichen Sachsen-Anhalt an der Grenze zu Brandenburg liegt das kleine Örtchen Magdeburgerforth, umgeben von weitläufigen Waldgebieten. Wenn man südlich des Ortes den Wald durchquert, stößt man unweigerlich auf einen stacheldrahtbewehrten Zaun, der in regelmäßigen Abständen von Schildern gesäumt ist, die mit folgender Aufschrift die Grenze des öffentlich zugänglichen Teils des Waldes deklarieren: „Militärischer Sicherheitsbereich. Grenze des Truppenübungsplatzes. Schieß- und Übungsbetrieb. Blindgänger Lebensgefahr! Unbefugtes Betreten des Platzes ist verboten und wird strafrechtlich verfolgt. Die Kommandantin/Der Kommandant.“

Militärische Landnahme

An diesem Schild beginnt, für jeden ersichtlich, militärisches Sperrgebiet. Während es sich in der Gegend südlich von Magedburgerforth um den ca. 90km² großen Truppenübungsplatz Altengrabow handelt, finden sich im ganzen Bundesgebiet in ähnlicher Weise abgesperrte und mit Warnhinweisen versehene Gebiete der Bundeswehr. Nach eigenen Angaben verfügt sie über knapp 11.500 Liegenschaften im In- und Ausland, welche allein in Deutschland eine Fläche von ungefähr 2.630 km² umfassen. Zieht man die Flächennutzung ausländischer Streitkräfte in den alten Bundesländern – allen voran die der US-amerikanischen – von ca. 620 km² hinzu, so machen militärisch kontrollierte Flächen knapp ein Prozent des Gebiets der Bundesrepublik aus. Nach aktuellen Trends dürfte die Ausdehnung dieser Fläche in den kommenden Jahren nicht weniger werden, wahrscheinlich sogar mehr. Denn bereits 2019 verkündete das Verteidigungsministerium die acht Jahre zuvor beschlossene Schließung mehrerer Bundeswehrstandorte rückgängig zu machen. 2011 war zunächst beschlossen worden, im Zuge einer Reduzierung der Streitkräfte diverse Liegenschaften zu schließen. Einige „Trendwenden“ in den Folgejahren führten dazu, dass mehrere Standortschließungen rückgängig gemacht wurden oder erneuten Überprüfungen unterzogen werden.

Diese Prozesse erweitern das militärisch kontrollierte Gebiet in Deutschland, welches in unterschiedlicher Form über seine stacheldrahtbewehrten Grenzen hinaus in sein Umland hineinwirkt. Mitunter kommt es zu ökonomischen Verflechtungen und Abhängigkeiten in räumlicher Nähe zu Militärstandorten. Diese können zugleich die Legitimität selbiger fördern, indem die Bundeswehr primär als Arbeitgeberin, Kundin, Konsumentin oder Teil der Nachbarschaft erlebt wird. So erfährt das Militär eine Normalisierung, in der Krieg und Gewalt nicht länger als sein essentieller Bestandteil stattfinden. Die tatsächliche ökonomische Bedeutung von Militärstandorten ist allerdings umstritten und dürfte je nach Lage und Art der Liegenschaft erheblich variieren.1 Das gilt auch für das Ausmaß der Akzeptanz selbiger bei der benachbarten Bevölkerung, wobei Unstimmigkeiten und Protest gerne in der Militär-PR ausgeblendet werden. So schmückt sich mitunter die lokale Politik mit einem militaristischen Selbstverständnis, welches etwaige Widersprüche einebnet. Dies spiegelt sich in fröhlichen Pressemeldungen wie der folgenden wider, die sich auf zwei Munitions- und Materiallager im baden-württembergischen Neckar-Odenwald-Kreis bezieht. Beide wurden 2022 von der Bundeswehr wieder in Betrieb genommen: „Vizelandrat Björn-Christian Kleih sagte, die Wiederbelegung der Lager sei eine frohe Nachricht für den Landkreis, dessen Bevölkerung hinter der Truppe stehe.“2 Eine solche Gegenkonversion3 erweitert das unmittelbar militärisch kontrollierte Gebiet. Dabei bilden die Liegenschaften der Bundeswehr in Deutschland nur das augenfälligste Momentum der militärischen Kontrolle über und der Einflussnahme auf (vormals) zivile Räume. Denn die militärische Nutzung beschränkt sich nicht auf jene Gebiete, die der Armee exklusiv zugewiesen und den Bürger*innen als solche ausgewiesen sind. Auch die vordergründig zivile Infrastruktur abseits militärischer Sperrgebiete und ihres unmittelbaren Umlands bildet einen wesentlichen Bestandteil der militärischen Erschließung des öffentlichen Raums.

Vereinnahmung der Infrastruktur

Ein wesentliches Element militärischer Landnahme bildet neben der Versorgung die Transportinfrastruktur, welche essentiell ist für die Verlegung von Truppen und Material an mögliche Fronten. Welche Fronten man da in militärischen und politischen Planungsstäben zuletzt im Blick hatte, wird zusammengefasst unter dem Schlagwort „Militärische Mobilität“ deutlich: Seit 2014 treiben NATO und EU Bemühungen voran, die Mobilitätsinfrastruktur in Form von Straßen, Bahnschienen, Brücken und Tunneln auf ihre Kompatibilität mit militärischem Großgerät zu überprüfen und entsprechend auszubauen, um eine schnelle Verlegung von Material Richtung Osten zu ermöglichen.4

Dem Schienenverkehr kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu, da die Bahn dem Seeweg und der Straße an Geschwindigkeit überlegen ist und zugleich das Transportvolumen eines Flugzeugs bei weitem übersteigt. Diese Relevanz zeigt sich beispielsweise bei Infrastruktur-Großprojekten wie einer Hochgeschwindigkeitsbahntrasse, die aktuell zwischen Polen und den baltischen Staaten gebaut wird (mit potentieller Anbindung an Berlin), explizit auch zur schnellen Verlegung von militärischem Material.5 Auch die Bundeswehr sicherte sich Anfang 2019 über einen Rahmenvertrag mit der Bahn Vorrang vor dem zivilen Schienenverkehr, um eine schnelle Materialverlegung auf der Schiene zu ermöglichen. Hintergrund ist das Kommando der Bundeswehr über eine schnelle NATO-Eingreiftruppe, die im Kriegsfall in kürzester Zeit an die (Ost-)Front verlegt werden soll.6

Nun soll nicht der Eindruck entstehen, es handele sich bei Infrastrukturplanung und -bau um einen einseitig determinierten Prozess zugunsten des Militärischen (in dem Fall gäbe es aktuell vermutlich keinen Nachbesserungsbedarf zu beanstanden). Vielmehr sind diese Entwicklungen als ein wechselseitiger Prozess zu verstehen. Wie dieser aussieht, wenn sich Militär nach den gegebenen infrastrukturellen Bedingungen richtet, kann man aktuell beim Rüstungsunternehmen Rheinmetall nachvollziehen. Dieses bewirbt auf seiner Webseite den neuen Kampfpanzer Panther KF51 mit dem Verweis, dass dessen Maße auf die üblichen Tunnelprofile angepasst sind und er folglich ohne vorherigen Umbau mittels bestehender Infrastruktur verlegt werden kann.7

Von der Infrastruktur bis zur Architektur

Die titelgebende militärische Landnahme ist also ein Prozess, der sich nicht auf die Vereinnahmung und Kontrolle von exklusiven militärischen Flächen beschränkt. Vielmehr ist sie über die militärische Kontrolle hinaus ein raumgreifendes Projekt, welches tief in die vordergründig zivile Infrastruktur eingeschrieben ist und somit die Möglichkeiten militärischer Expansion und Kriegsführung weit über die Grenzen militärischer Sperrgebiete und die eigenen Landesgrenzen hinaus ausdehnt. Während hier das Beispiel der Transportinfrastruktur umrissen wurde, ließen sich ebenso Bebauung und Architektur miteinbeziehen: Etwa, wenn beim Bau ziviler Einrichtungen und Wohngebäude angeregt wird, die Bausubstanz zukünftig zu „härten“, um sie widerstandsfähiger zu machen, „insbesondere gegen extreme hochdynamische Belastungen wie sie z. B. durch Explosionen und Waffeneinwirkungen entstehen können“.8

Untersuchungen von Militarisierungsprozessen müssen sich folglich nicht auf die Betrachtung soziologischer Aspekte beschränken, sondern können darüber hinaus fruchtbar infrastrukturelle, geographische und architektonische Gegebenheiten miteinbeziehen und nachvollziehen, wie sich hier in einem wechselseitigen Einflussverhältnis militärische Planung und Kriegsvorbereitung einschreiben.

Anmerkungen:

1 Vgl. Woodward, Rachel: Military Geographies, Blackwell Publishing, 2004, S. 44-47.

2 Augsburger Allgemeine: Bundeswehr reaktiviert Logistik-Einheiten im Südwesten, 9.5.2022

3 Kleiß, Alexander: Konversion rückwärts: Wiederaufrüstung in Baden-Württemberg, IMI-Studie 2018/03.

4 Kropp, Victoria: Kriegslogistik und Militärische Mobilität. Wie NATO und EU die Infrastruktur kriegstauglich machen wollen, IMI-Analyse 2020/07.

5 Wagner, Jürgen: Rail Baltica. Die militärisch-geopolitische Dimension eines EU-Eisenbahnprojektes, IMI-Analyse 2020/37.

6 Haydt, Claudia: Bahn frei für die Bundeswehr. Der Rahmenfrachtvertrag für internationalen Schienentransport zwischen Bundeswehr und Bahn, IMI-Analyse 2019/01.

7 Rheinmetall: Kampfpanzer KF51 „Future tanknology“ – Die Zukunft des Kampfpanzers, rheinmetall.com, 2023.

8 So der Wortlaut in der „Konzeption Zivile Verteidigung“ des Innenministeriums, in der die Vorbereitung eines Angriffs- oder Katastrophenfalls durchgespielt wird.