IMI-Standpunkt 2023/010

Rezension: Die Grünen. Von der Protestpartei zum Kriegsakteur

von: Yasmina Dahm und Pablo Flock | Veröffentlicht am: 13. März 2023

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Das am 9.1.2023 im Hintergrund-Verlag erschienene Buch »Die Grünen. Von der Protestpartei zum Kriegsakteur« von Matthias Rude lädt interessierte, irritierte und frustrierte Leser*innen ein zu einem lehrreichen Spaziergang über den Friedhof der Grünen-Ideale.

Rude macht auf nur 80 Seiten deutlich, dass die Grundsätze der Partei Bündnis 90/die Grünen, die sich anlässlich des Krieges in der Ukraine als die Partei hervortaten, die am vehementesten deutsche Waffenlieferungen forderte, nicht erst seit gestern begraben liegen. Detailreich wird hier nachgezeichnet, dass bei den Grünen kein plötzlicher Gesinnungswandel nach der letzten Bundestagswahl stattfand, wie derzeitige Medienberichte glauben machen. Vielmehr handelte es sich bei der Verdrängung antimilitaristischer und antikapitalistischer Positionen aus der Partei um einen langwierigen Prozess, in dem die sogenannten Realos, allen voran der Karrierist Joschka Fischer, in den ’90er Jahren die Überhand gewannen und die Partei im Namen der Regierungs- und Koalitionsfähigkeit auf den (Kriegs-)Kurs der etablierten Parteien brachten.

Besonders für jüngere Leser*innen interessant, dürfte Rudes Dokumentation der Anfänge der damaligen Protest- und Sammelpartei sein, die als Fusion der Öko- und der Friedensbewegung, lokaler Bürgerinitiativen, kommunistischer Studierendengruppen bis hin zu Akteuren aus anthroposophischen und völkischen Milieus versammelte. Mit dem Austritt konservativer und rechter Mitglieder nach der Gründung der ÖDP 1981 war die linksalternative Partei, für die sie heute noch viele halten, konsolidiert. Emanzipatorische Akteur*innen in der frühen Partei wie die Ökofeministin Petra Kelly, die die Grünen als Antiparteien-Partei und parlamentarischen Arm der Friedensbewegung verstanden, prägten dann das Bild der basisdemokratischen, ökologischen, gewaltfreien und sozialen Partei.

In ihrem ersten Bundesprogramm verlangte diese noch nach „einer grundlegenden Alternative für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft“ und schlug mit Forderungen wie der „Abschaffung der BRD und de[r] Austritt Westdeutschlands aus der Nato“[1], dem Abbau der Bundeswehr, die „Schaffung einer waffenfreien Zone in Ost-und Westeuropa“, ein „Verbot des Waffenhandels“[2], sowie die „Anprangerung aller Politiker, die Waffensysteme unterstützen“ durchaus noch systemkritische Töne an, die den transatlantischen Konsens der westdeutschen Parteien im Parlament in Frage stellten. Ironischerweise wurde der Partei, trotz des antisowjetischen Kurses sogar der kommunistisch eingestellten Strömungen, wegen dieser Friedenspolitik gerne eine Nähe zu Russland unterstellt.

Mit dem Einzug in die Parlamente und der ersten rot-grünen Koalition in Hessen 1985 begann dann das Selbstverständnis der ökologisch-gewaltfreien Partei zu bröckeln. Wie im Brennglas ist die Entwicklung der Grünen an der Biographie des ehemals militanten Sponti-Autonomen Joschka Fischer zu sehen, der 1983 das erste grüne Landesministeramt innehatte und 15 Jahre später Vizekanzler wurde. Er und andere, heutige Minister wie etwa Winfried Kretschmann arbeiteten seit den 80ern daran,  antikapitalistische und antimilitaristische Positionen in der Partei zu verdrängen. Der Zusammenschluss mit Bündnis 90, welches einen 1989 in der DDR gebildeten Zusammenschluss oppositioneller Bewegungen darstellte, beschleunigte dann die Verabschiedung von antimilitaristischen Positionen noch mehr – dauerte jedoch trotzdem eine Weile an. In den vier Kapiteln von „Hitlers Wiedergänger“, über „Salamitaktik“ bis hin zu „Menschenrechtskriegern“ verliert sich Rudes chronologische Erzählung etwas und es ist Eigenleistung gefordert, um zu bemerken, dass die entscheidenden ’90er Jahre in verschiedenen diskursiven Elementen und Taktiken dargestellt werden, die von den Grünen bis heute gerne wiederverwendet werden.

Die verdiente Spitzenpolitiker*innenriege hatte erkannt, wie es Rude mit Jutta Ditfurths Zitat ausdrückt, dass sie nicht an die Regierungsmacht kommen könne „ohne mit grundlegenden linken Positionen zu brechen: Sie muss den Antikapitalismus abwerfen und der NATO die Treue schwören“[3] und begann die ehemalige Anti-Parteien-Partei in eine neoliberale Reformpartei zu verwandeln.

Die Basis, kann man dem Buch entnehmen, war von diesen Wendungen nicht so schnell begeistert und entschied sich zumindest bis 1999 weiterhin in ihren Partei- und Wahlprogrammen, das Bekenntnis zur Gewaltfreiheit beizubehalten und auch die NATO-Osterweiterung zu verurteilen und immer noch die Auflösung der NATO zu fordern. Die Militarisierung der Grünen gipfelte dann dennoch in dem unsäglichen Versuch Joschka Fischers die militärische Intervention im Jugoslawienkrieg mithilfe von NS-Vergleichen als humanitäre Intervention zu kaschieren, was von mehreren Auschwitz-Überlebenden wie der Antifaschistin Esther Bejerano in einem offenen Brief mit dem Titel: „Gegen eine neue Art der Auschwitz-Lüge“ kritisiert wurde.

Während dieser Politik in den folgenden Kapiteln mit Bezug auf den aktuellen Völkerrechtsbruch Russlands der Prozess für die offensichtliche Doppelmoral gemacht und gezeigt wird, wie auch in den Oppositionsjahren zwischen 2005 und 2021 die Politik der militärischen Intervention und der Blockkonfrontation beibehalten und ausgebaut wurde, bleiben die Entwicklungen an der Basis der Grünen in den letzten 20 Jahren etwas unterbelichtet. Was geschah mit der Parteibasis, die 1999 noch hehre Ideale in ihren Programmen festhielt und deren Mitglieder und Wähler nun energischer nach Waffenlieferungen rufen als alle anderen?

Trotzdem bleibt Rudes Buch, das durch sein Erscheinen in der Reihe „Wissen Kompakt“ natürlich mit Recht solche komplexen Fragen ausklammert, ein äußerst übersichtliche und gerade für Antimilitarist*innen und Friedensbewegte hilfreiche Zusammenfassung und Argumentationshilfe. Durch kurze Kapitel und die vermehrte Verwendung illustrierender Zitate entsteht ein guter Lesefluss, der es Leser*innen ermöglicht, sich in kurzer Zeit einen soliden Überblick über Akteur*innen und Meilensteine im Wandel der Agenda der Grünen zu verschaffen.

Auf meist nüchterne und nie zu sarkastische Art und Weise schafft es der Autor durch das bloße Kontextualisieren, Zitieren und Anführen konkreter Schlüsselereignisse eine vernichtende Kritik der Grünen in ihren eigenen Worten zu formulieren – ohne  ihre Sozialpolitik, oder ihr Mitwirken an ökologischen Katastrophenprojekten wie dem Abbaggern von Lützerath, der Rodung des Dannenröder Waldes für mehr Autobahnen oder neue fossile Energieprojekte im globalen Süden, beispielsweise in Namibia oder Nigeria, auch nur zu thematisieren.

Wähler*innen der Grünen, die vor deren Realpolitik der letzten Jahren die Augen verschlossen hielten, dürften bei der Lektüre ins Schlucken geraten, da die von Rude angeführte Beweislast für die Erosion sämtlicher Ideale der Partei erdrückend ist. Ein Buch mit dem Potential allen, die die Militarisierung der Grünen immer noch für eine plötzlich aufgetretene Fatamorgana halten, den Staub aus den Augen zu wirbeln. Es bleibt die Frage, wie es die Grünen immer noch schaffen, sich als öko-soziale Partei zu profilieren.

Anmerkungen

[1] Die Grünen: Entrüstet euch. Analysen zur atomaren Bedrohung, Wege zum Frieden, Bonn 1981, S.105, S.107.

[2] Die Grünen: Das Bundesprogramm, Bonn 1980, S.19

[3] Jutta Ditfurth: Krieg, Atom, Armut. Was sie reden, was sie tun: Die Grünen, Berlin 2011, S.137.