IMI-Standpunkt 2023/009
Beim Militär nichts verloren: Minderjährige in der Bundeswehr
von: Ali Al-Dailami | Veröffentlicht am: 13. März 2023
Das ambitionierte Ziel der Bundeswehr, bis 2031 die Zahl der Soldatinnen und Soldaten von gegenwärtig 183.000 auf 203.000 aufzustocken, entfacht in Kreisen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik die Diskussionen über die Frage, wie diese Aufgabe denn bewerkstelligt werden soll. Schließlich wächst der Personalkörper der Bundeswehr nicht, sondern stagniert seit zehn Jahren, auch weil jährlich rund 20.000 Soldatinnen und Soldaten aus Alters- und Verpflichtungsgründen die Bundeswehr verlassen. Nun ist es nicht so, dass wir uns über zu wenige Soldaten in der Gesellschaft beklagen würden, doch die Tatsache, dass die Bundeswehr wachsen will und dabei auf die Unterstützung der Ampel zählen kann, führt dazu, dass die Debatte um die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine nicht abreißt.
Zuletzt kamen entsprechende Forderungen erneut aus der SPD. Verteidigungsminister Boris Pistorius hatte die Aussetzung der Wehrpflicht 2011 durch die schwarz-gelbe Koalition jüngst als „einen Fehler“ bezeichnet. Seine Parteikollegin, die Wehrbeauftragte Eva Högl, legte im Februar dieses Jahres nach und forderte, die Debatte müsse neu geführt werden – „auch über die Frage, wie viel Zwang, wie viel Freiwilligkeit nötig ist“. Gleichzeitig bedauerte sie im Zusammenhang mit „dem fürchterlichen Ukraine-Krieg“, dass es noch Jahre dauern werde, bis es Konzepte für eine neue Wehrpflicht geben würde – und lässt dabei offen, was das eine denn mit dem anderen zu tun habe.
Dass man sich im Jahr 2023 immer noch mit der Wehrpflicht beschäftigt, zeigt einmal mehr, dass statt einer Aussetzung eine Streichung des Paragraphen der richtige Weg gewesen wäre. Parallel zu der Aussetzung muss jedoch auch konstatiert werden, dass es seither zu aggressiven Werbekampagnen der Bundeswehr mit der Zielgruppe Jugendliche gekommen ist. Dabei stehen Soldaten längst nicht mehr nur im Klassenzimmer und auf Jobmessen. Auch in Shoppingmalls werden Kinder und Jugendliche über Pop-up-Stores gezielt angeworben. Mit ihren riesigen „Karrieretrucks“ ziehen sie durchs Land und werben auch auf Jugend- und Sportveranstaltungen gezielt um die Jüngsten.
Die Bundeswehr ist hier nah am Zahn der Zeit und holt die Jugendlichen in ihren Alltagswelten ab: Auf der Spielemesse Gamescom präsentiert sie sich martialisch im Stile beliebter Ballerspiele. Es gibt Podcasts, Instagram-Stories und auf YouTube eine regelrechte Flut BW-eigener Videoformate, in denen der Dienst an der Waffe als Actionspektakel stilisiert wird: „Marketinginstrumente, die sich abheben“, schreibt die Bundeswehr stolz auf ihren Seiten. Dass es hier final darum geht, im Ernstfall auf Menschen zu schießen, wird fahrlässig und unverantwortlich banalisiert. Und auch dass der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes die Bundesregierung bereits 2014 aufforderte, „alle Formen von Werbekampagnen für die deutschen Streitkräfte, die auf Kinder abzielen, zu verbieten“, scheint im Bendlerblock niemanden ernsthaft zu interessieren.
Während in über 150 Staaten weltweit auf die Rekrutierung Minderjähriger verzichtet wird, hält die Bundesregierung an dieser Praxis fest – trotz einer Rüge aus Genf und der Aufforderung des UN-Kinderrechtsausschusses, wonach das Rekrutierungsalter ausnahmslos auf 18 Jahre angehoben werden soll. In den zwölf Jahren seit der Aussetzung der Wehrpflicht 2011 traten insgesamt 17.599 Minderjährige den Dienst bei der Bundeswehr an, das sind im Schnitt fast 1.500 pro Jahr, mehr als jeder zwölfte Rekrut also. 2022 war der Anteil minderjähriger Rekruten mit 9,4 Prozent so hoch wie nie seit 2011. Beim Blick auf die Zahlen der Dienstabbrechenden einzusehen in der Antwort des Verteidigungsministeriums auf meine parlamentarische Frage vom Februar – fällt eines deutlich ins Auge: Soldaten, die zum Zeitpunkt ihrer Rekrutierung minderjährig waren, brechen ihren Dienst im Verhältnis deutlich häufiger ab als Volljährige. So war etwa im Jahr 2020 der Anteil minderjähriger Abbrechender fast doppelt so hoch wie ihr Anteil an den Rekruten in diesem Jahr. Im Fünfjahreszeitraum 2018–2022 brach fast jeder dritte Minderjährige seinen Dienst vorzeitig ab (31 Prozent), während es bei den Volljährigen nur jeder Fünfte war.
Diese Entwicklung ist insbesondere auch im Hinblick auf die psychische Gesundheit besorgniserregend. So zeigen Studien aus dem britischen Militär, dass unter minderjährigen Rekrutinnen und Rekruten psychische Traumata wie posttraumatische Belastungsstörung, Mobbing und Selbstverletzungen bis hin zum Suizid deutlich öfter auftreten als bei Erwachsenen. Nach ihrem Ausscheiden aus dem Dienst besteht für sie ein erhöhtes Risiko für Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit oder Alkoholismus. Auch sind minderjährige Rekrutinnen häufiger sexuellen Belästigungen und Übergriffen ausgesetzt als ihre volljährigen Kameradinnen.
Es ist von der Bundesregierung unverantwortlich, derart fahrlässig die psychische Gesundheit von Minderjährigen aufs Spiel zu setzen und auf ihrem Rücken das Ziel der geplanten Aufstockung der Bundeswehr auszutragen. Daher müssen die Maßgaben der UN endlich respektiert und ausnahmslos keine Minderjährigen zum Wehrdienst rekrutiert werden. Außerdem muss der Debatte um die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht einen Riegel vorgeschoben werden, indem die Wehrpflicht vollständig abgeschafft wird.