IMI-Standpunkt 2022/021

Wir sind am 24. Februar nicht in einer anderen Welt aufgewacht

Geostrategie und der Weg in die Eskalation in der Ukraine

von: Jens Wittneben | Veröffentlicht am: 30. Mai 2022

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Haben wir Friedensbewegte geglaubt, es gäbe nie wieder eine Konfrontation mit Russland? „Nach dem Untergang der Sowjetunion war das Riesenreich kollabiert. Der Staat zahlte keine Renten und Gehälter mehr. Die berüchtigten Oligarchen, die nichts anderes waren als Mafia-Paten, rissen mittels Mord und Terror das Volkseigentum an sich. 1998 raubte die Rubel-Krise den Russen die letzten Ersparnisse. Im Jahr darauf vollzog die Nato ihre erste Osterweiterung.“ (1) Vielleicht bin ich nach dieser Entwicklung in Russland insgeheim und besonders nach den Kriegen in Jugoslawien und Georgien davon ausgegangen, dass sich der Kreml alles gefallen lässt.

Die Annektion der Krim durch Moskau hatte ich mir dann 2014 durch russische maritime Geostrategie erklärt und gehofft, dass Moskau sich mit dem durch die Annexion territorial abgesicherten einzigen eisfreien russischen Hafen Sewastopol und Zugang zum Mittelmeer zufrieden gibt und Donezk und Luhansk nur Randkonflikte an der Flanke zur Krim seien. Andreas Buro schrieb dazu: „Die Sicherung des Flottenstützpunktes Sewastopol dürfte […] ein zentrales Interesse der russischen Politik sein. Wenn die hier dargestellten Grundkonstellationen zutreffen, steht ein schwerer europäischer Konflikt ins Haus, nicht jedoch unbedingt ein Krieg, wie einige Medien befürchten.“ (2)

Dass wir heute dennoch am Rande eines Krieges zwischen der NATO und Russland stehen, hat vermutlich auch mit US-amerikanischer Geostrategie zu tun: aus Sicht dieser „einzigen Weltmacht“ (Zbigniew Brzeziński (1997): The Grand Chessboard: American Primacy and Its Geostrategic Imperatives) stellt die riesige Landmasse zwischen Brest, Wladiwostok und Shanghai – Eurasien – die entscheidende ökonomische und militärische Konkurrenz für den relativ dazu schmalen amerikanischen Kontinent dar, für den Polit-Strategen ist Eurasien ein „großes Schachbrett“. Der ehemalige Präsidenten-Berater formulierte „das Gebot, keinen eurasischen Herausforderer aufkommen zu lassen, der den eurasischen Kontinent unter seine Herrschaft bringen und damit auch für Amerika eine Bedrohung darstellen könnte.“ (3)

Wahrscheinlich deshalb haben die US-Administrationen schon ab den 1990er Jahren ganz gezielt versucht, die Ukraine in die EU und in die NATO zu ziehen und damit Maßnahmen gestartet, die den eurasischen Herausforderer Russland schwächen: „Die für Europa und Eurasien zuständige Abteilungsleiterin des US-Außenministeriums Victoria Nuland hat am 13. Dezember 2013 in Washington vor der „U.S.-Ukraine Foundation“ berichtet, die US-Regierung habe seit 1991 mehr als fünf Milliarden US-Dollar für eine „wohlhabende und demokratische Ukraine“ investiert. Mit dieser Summe sollten die Voraussetzungen geschaffen werden, die Ukraine der EU anzugliedern.“ (2) Die US-Finanzhilfen für die Ukraine gehen nach dem Angriffskrieg Russlands weiter: Washington überweist 2022 mindestens 800 Millionen Dollar für Militär und 500 Millionen Dollar an Wirtschaftshilfe – weitere Gelder sind beantragt. (4)

Zbigniew Brzeziński betonte im Februar 2014, „ohne die Ukraine könne Russland nie wieder Supermacht werden.“ Auf die Annexion der Krim hin „empfahl er, die NATO solle in Hochalarm versetzt werden.“ (3) Die Kriegsgefahr aufgrund geostrategischer Überlegungen ist in den etablierten Medien seit langem präsent gewesen. Sogar die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung kam 2015 nach der Krim-Annektion zu folgender alarmierender Einschätzung: Es „[…] prägt das von Konfrontation statt Kooperation gekennzeichnete Verhältnis zu Russland die internationalen Beziehungen in zerstörerischer Weise. “ (5)

„Laut Recherchen der mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) begann das Pentagon im Oktober 2018, Aufträge im Wert von insgesamt rund 1,1 Milliarden US-Dollar zum Bau von Raketen vor allem an US-Rüstungskonzerne zu vergeben – noch deutlich vor der offiziellen Kündigung des INF-Vertrags [zur Kontrolle von atomar bestückbaren Kurz- und Mittelstreckenraketen in Europa] Anfang Februar [2019]. Die New York Times berichtete […], in der NATO werde über Möglichkeiten nachgedacht, die Raketenabwehr in Europa auszubauen. Dies könne [durch…] einen Ausbau der bestehenden Abwehranlagen in Rumänien und Polen [Nachbarländern der Ukraine …] geschehen. (7) Moskau benutzt nun seit Anfang 2022 Donezk, Luhansk und die Krim als Aufmarschgebiet in Richtung Schwarzmeerküste und der restlichen Ukraine – wahrscheinlich, um sie als militärischen Puffer und ökonomische Ressource an Russland und seine eurasische Wirtschaftsunion zu binden.

Wir sind am 24. Februar 2022 also nicht in einer anderen Welt aufgewacht, sondern in einer weiteren Phase der Eskalation zwischen Russland und den USA: offener Krieg um die ökonomischen und militärischen Ressourcen der Ukraine und (Atom-)Kriegsgefahr in ganz Europa. Friedensbewegte haben davor gewarnt, dass nach 1914  und 1941 wieder eine Eskalation mit Russland droht. Wir haben deswegen gegen Aufrüstung, Manöver in Osteuropa (6) und Atomwaffen in der Bundesrepublik mobilisiert – und kämpfen weiter dafür, dass Europa und Asien nicht wie Zbigniew Brzeziński es nennt, ein „Schachbrett“ (3) ist, auf dem Geostrategen mit Bauernopfern spielen.

Anmerkungen

(1) Frankfurter Rundschau 09.08.2019  Das Zeitalter Putin

(2) http://www.grundrechtekomitee.de 12.03.2014 Überlegungen zum Ukraine-Konflikt von

Andreas Buro – eine Diskussionsvorlage

(3) https://de.wikipedia.org/wiki/Zbigniew_Brzezi%C5%84ski

(4) Frankfurter Rundschau  22.04.2022  Mehr Geld von den USA

(5) FAZ 29.05.2018 Nato : Zerstörerische Retter? Dieser Artikel rezensiert Florian Böller, Steffen Hagemann, Anja Opitz, Jürgen Wilzewski (Hg.): Die Zukunft der transatlantischen Gemeinschaft. Externe und interne Herausforderungen. Nomos Verlag, Baden-Baden 2017.

(6) IMI-Mitteilung 25. November 2021 Manöver als Brandbeschleuniger. Bericht vom Kongress der Informationsstelle Militarisierung

und: IMI-Analyse 2020/02 vom  10. Januar 2020 Großmanöver Defender 2020. Mit Tempo in den Neuen Kalten Krieg

(7) Junge Welt 06.07.2019: Trump will Eskalation. INF-Vertrag: NATO setzt Russland unter Druck. Keine Einigung bei Verhandlungen. Protest gegen Atomwaffen in Büchel