IMI-Analyse 2022/03

Säbelrasseln gegen Russland

Das Großmanöver Defender Europe 2022

von: Claudia Haydt | Veröffentlicht am: 15. Februar 2022

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Manöver sollen Stärke und Kampfbereitschaft demonstrieren. In einer zugespitzten politischen Lage können Manöver von einer Übung zur konkreten Kriegsvorbereitung mutieren – oder wenigstens als solche verstanden werden. Im Folgenden soll die Bedeutung des nun zum dritten Mal stattfindenden Manövers „Defender Europe“ beschrieben werden. Wobei Defender 2022 besonders vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Kriegsgefahr rund um die Ukraine im wahrsten Sinn des Wortes brandgefährlich ist.

Ziele der Militärstrategen

Mit Defender Europe, einem Großmanöver der US-Armee, soll „Readiness, deterrence and interoperabilty“[1] (Bereitschaft, Abschreckung und Zusammenarbeit) demonstriert werden. Konkret geht es um die Bereitschaft für den Aufmarsch an die Ostgrenze des NATO-Bündnisses, Abschreckung durch Einüben von Abläufen und die Vertiefung der Kooperation mit den Bündnispartnern innerhalb und außerhalb der NATO. Dieses Zusammenspiel mit Partnern außerhalb der NATO spielt militärisch eine immer größere Rolle, das gilt für die Ukraine genauso wie für nordische Staaten wie Schweden und Finnland, die bisher nicht Mitglieder der NATO sind. Noch ist es in diesen Staaten gesellschaftlich nicht durchsetzbar NATO-Mitglied zu werden. Die militärische Kooperation ist jedoch so eng, dass es praktisch kaum noch einen Unterschied macht, ob sie formal NATO-Mitglieder sind oder nicht. Gemeinsame Rüstungsprojekte und gemeinsame Manöver tragen zu dieser faktischen Integration ins Bündnis bei. Die Notwendigkeit der engen Kooperation wird mit der angeblich zunehmenden Gefahr aus Russland begründet. Mit dem Verweis einer Gefährdung von Nachbarstaaten wie Finnland, dem Baltikum oder Polen durch das militärische Potential Russlands, wird die eigene Aufrüstung massiv vorangetrieben.

Die Beschreibung eines Konfliktes ist jedoch nur dann vollständig, wenn auch die Perspektive des jeweiligen Gegners mit einfließt. Aus russischer Sicht bedeutet die NATO-Osterweiterung und damit deren Heranrücken an die russische Grenze ebenfalls eine Bedrohung. Trotz gegenteiliger Zusicherungen im Zwei-plus-Vier-Vertrag ist die NATO mit der „Enhanced Forward Presence“ (aktuell noch rund 5.000 Soldaten, ein Ausbau ist aber bereits auf dem Weg) de facto permanent in Osteuropa und damit dicht an der russischen Grenze präsent. Durch die „Very High Readiness Joint Task Force“ sind innerhalb von 3 bis 5 Tagen 5.000 Angehörige der NATO Landstreitkräfte (insgesamt sogar 20.000) mobilisierbar. Mit der „NATO Response Force“ können innerhalb von 5 bis 15 Tagen nochmal 40.000 Soldaten dazu kommen, ergänzt um weitere Streitkräfte im Rahmen der „NATO Readiness Initiative“ innerhalb von 30 Tagen.

Mobilmachung gegen Russland

Der Aufmarsch Richtung Osten soll aus Sicht der US-Regierung aber nicht allein als Bereitschaft auf dem Papier stehen. Personal und Material sollen tatsächlich möglichst schnell und reibungslos zu ihrem Einsatzgebiet gebracht werden, um dort auch möglichst sofort handlungsfähig sein. In diesem Kontext haben Defender Europe und angegliederte Manöver die Aufgabe sowohl die Transport- und Lagerlogistik einzuüben als auch die Zusammenarbeit der verschiedenen nationalen Militärverbände zu erproben.

Dazu gehört auch die Praxis des vorsorglichen Lagerns („pre-positioning“) von Militärgerät in der Nähe des Einsatzgebietes oder zumindest verkehrsgünstig für den Weitertransport. Solche modernen Waffenkammern (APS, „Army Prepositioned Stocks“) sind nicht neu.[2] Das US-Militär hat jedoch in den letzten Jahren das teils noch aus dem Kalten Krieg stammende und nur begrenzt einsatztaugliche Material ausgetauscht und modernisiert. General Edward Daly, der Leiter des „U.S. Army Materiel Command“, ist stolz darauf, dass etwa in den Materiallagern in Deutschland und Polen zwischenzeitliche die modernsten Vorräte liegen und dass diese nun regelmäßig bei Manövern wie Defender-Europe zum Einsatz kommen. Er führt weiter aus: „Wir wollen das Gerät während der Manöver verwenden, weil das ein Art Muskelgedächtnis schafft und schnelles Handeln ermöglicht, wenn wir es unter Zeitdruck oder unter Kampfbedingungen tun müssten.“[3] 

In anderen Worten: Kriege können schneller begonnen werden, wenn das dazu notwendige Kriegsgerät (Panzer und andere Waffensysteme) nicht erst über den Atlantik transportiert werden muss. Während des ersten Defender Großmanövers 2020 wurde zahlreiches Kriegsgerät aus den USA, über den Atlantik, durch die europäischen NATO-Staaten bis an die russische Grenze verlegt. Nicht jeder Ausrüstungsgegenstand wurde wieder in die USA zurücktransportiert. Einige Panzer, Militärtransporter, Munition und sonstiges Gerät wurde Teil der modernisierten Materiallager.

Die Defender-Manöver dienen somit ganz praktisch der Mobilmachung gegen Russland, was sich auch an weiteren Aspekten ablesen lässt.

Während der Schwerpunkt von Defender Europe 2020 auf dem Baltikum und Polen lag, verschob sich der Fokus bei Defender 2021 auf des Schwarze Meer. Dabei wurden unter anderem Landungen in feindlicher Umgebung und Nachtangriffe, aber auch verschiedene maritime Szenarien geübt, die keineswegs rein defensiv waren, sondern auch einen offensiven Charakter hatten. Das Schwarze Meer gilt als strategisches Rückgrat der Machtprojektion Russlands. Wie schnell sich aus Manövern heraus Situationen mit hohem Eskalationspotential ergeben, wurde im Juni 2021 sichtbar, als das britischen Kriegsschiff HMS Defender eine Konfrontation mit Schiffen der russischen Marine provozierte.

Bei den Defender Manövern geht es vor allem um den Transport von Kasernen in den USA zu US-amerikanischen Häfen („from fort to port“), von US-Häfen zu europäischen Häfen, z.B. nach Bremen oder Antwerpen, und von dort per Bahn oder auf dem Straßenweg (teils auch per Flugzeug und per Binnenschifffahrt) weiter Richtung Osten. Dabei spielt das NATO-Logistikkommando JSEC („Joint Support and Enabling Command“) in Ulm eine zentrale Rolle. Die Unterstützungsleistungen in Ulm sind dabei so bedeutend, dass wir durchaus von einem Mobilmachungskommando sprechen können (siehe auch den Beitrag von Martin Kirsch).

Defender Europe 2022

Details über das aktuelle Manöver Defender 2022 werden vom Pentagon nur spärlich veröffentlicht, doch einiges ist trotzdem bereits bekannt. Es sollen wohl 33.000 Soldaten beteiligt sein. Der Zeitrahmen für die Bewegung der Truppen aus 26 Ländern innerhalb Europas ist für Februar bis Mai 2022 angesetzt. Der Transport von Truppen und Material soll noch stärker als in den letzten Jahren auf der Schiene erfolgen,[4] ergänzt um Straßenkonvois, die vor allem nachts unterwegs sein sollen. Bremen wird als Hafen ebenfalls wieder eine Rolle als Transportdrehscheibe spielen und das JSEC in Ulm wird die Mobilmachung unterstützen.

Das eigentliche Manöver beginnt voraussichtlich am 8. Mai und dauert bis zum 16. Juni 2022. Demonstriert werden soll dabei, dass der Übergang vom Transport zu militärischen Handlungen fließend durchgeführt werden kann. Dazu gehört auch gemeinsames militärisches Training in der Oberlausitz. Schauplatz des Manövers sollen insgesamt 15 Länder sein, vom Hohen Norden bis zum Schwarzen Meer, wobei der Schwerpunkt wie 2020 erneut in Polen und dem Baltikum liegt. US-Truppenteile sollen während des Defender 2022 Manövers auch die Truppenrotation üben. Das kann durchaus so verstanden werden, dass hier Vorsorge dafür getroffen wird, in einem laufenden Konflikt Truppenteile auszuwechseln. Als „krönender“ Abschluss von Defender 2022 in Europa ist die Flussüberquerung einer ganzen Division (rund 20.000 Soldaten mit Gerät) geplant.

Auch in den USA selbst werden wichtige Element des Manövers durchgeführt werden. Dort soll im Rahmen von Global Defender 2022 das Thema „Project Convergence“ eine stärkere Rolle spielen. Dabei werden Entwicklungsprojekte im Bereich „Intelligence, Information, Cyber, Electronic Warfare and Space“[5] erprobt. Ziel ist es neue technische Entwicklungen im Manöverkontext einzubinden und damit die Kriegstauglichkeit disruptiver Entwicklungen auszutesten. Offensichtlich sollen dabei auch elektromagnetische Systeme getestet werden. Ob und welche Elemente davon in Europa ausgetestet werden, ist noch offen. Großbritannien wird explizit bei einer solchen „Capstone Exercise“ zur Erprobung neuer Generationen von Waffensystemen dabei sein. Das Verknüpfen von einerseits klassischen Manövern mit militärischer Hardware und andererseits neuen Technologien fand auch vor 2022 statt. So wurden im Zuge von Defender Europe 2020 Schallwaffen getestet und das Projekt Titan erprobt. Das taktische Weltraum-System TITAN („Tactical Intelligence Targeting Access Node“) und seine 100 taktischen sowie 13 operationellen Bodenstationen kann versteckte gegnerische Ziele aufspüren und dazu riesige Mengen an Daten erfassen und mit Hilfe künstlicher Intelligenz auswerten.

Es sind darüber hinaus zahlreiche Teilmanöver und Kommandoübungen geplant. Andere Manöver gehören nicht im engeren Sinne zu Defender 2022, sie ergänzen dieses jedoch und sind teils auch integraler Teil der Vorbereitung. Dies gilt zum Beispiel aktuell für das Manöver Saber Strike für das im Moment Truppen und Material durch Tschechien transportiert werden und das nach Übungen im Baltikum und in Polen Anfang April endet.

Manöver ohne Ende?

Das US-Militär plant die Defender Manöver auch über 2022 hinaus. 2023 wieder mit einem stärkeren Fokus auf die Pazifik-Region, 2024 dann wieder Europa und so weiter im jährlichen Wechsel. Wobei in jedem Jahr in beiden Regionen Manöver stattfinden sollen. Lediglich der Schwerpunkt verschiebt sich von Jahr zu Jahr, einmal wird intensiver die Konfrontation mit China vorbereitet, dann wieder die mit Russland. Woraufhin Russland und China wieder mit Manövern antworten. Von einer solchen Entwicklung profitiert nur die Rüstungsindustrie.

Die alte Weisheit, dass Sicherheit nur gemeinsam zu erreichen ist, scheint in Vergessenheit geraten zu sein. Immer mehr Manöver bringen nicht immer mehr Sicherheit, sondern machen Kriege wahrscheinlicher. Es wird deswegen auch 2022 nötig sein, den Protest gegen das Defender Manöver sichtbar zu machen – in Bremen, in Ulm oder in der Lausitz. Wo auch immer der Krieg vorbereitet wird, ist eine starke Stimme für den Frieden notwendig.

Anmerkungen


[1]             US Army insists next year’s Defender Europe is not canceled, defensenews.com, 11.10.2021.

[2]             Neben Standorten in Belgien, den Niederlanden, Italien und Polen befinden sich zwei dieser Material- und Waffenlager (APS) in Deutschland. Dabei handelt es sich um eine Einrichtung in Dülmen, zwischen Münster und Recklinghausen, wo u.a. das Material einer gesamten Artilleriebrigade eingelagert ist. (facebook.com) Zudem wird die Coleman Work Site in Mannheim u.a. für die Lagerung von Panzern als Übergangslager genutzt. Für die kommenden Jahre wurde bereits die Eröffnung und Bestückung weiterer APS in Europa angekündigt.

[3]             US Military Equipment Ready in Europe For Deploying Forces, defenseone.com, 2.2.2022.

[4]             Schweriner Volkszeitung, 10.2.2022.

[5]             Global Defender 22, army.mil, 29.10.2021.