IMI-Analyse 2022/01

Schifffahrt in der Arktis

Herausforderungen, Konkurrenz und das Ringen um Einfluss

von: Ben Müller | Veröffentlicht am: 17. Januar 2022

Drucken

Hier finden sich ähnliche Artikel

Die weltweite Klimaerwärmung ist insbesondere in der Arktis deutlich erkennbar mit Rekordtemperaturen, schmelzenden Gletschern und auftauenden Permafrostböden. Das Meereis, das in den Sommern der 1970er Jahre noch eine durchschnittliche Ausdehnung von sieben Millionen km² hatte, bedeckt in heutigen Sommern nur noch etwa vier oder fünf Millionen km² der Meeresfläche. Das Minimum lag im Jahr 2012 bei knapp 3,3 Mio. km².

Dieser Trend bietet aber auch zeitweise eisfreie Meere für die Schifffahrt und die Aussicht auf kürzere Seewege zwischen Europa und Asien. Die Verbindung zwischen Rotterdam und Schanghai würde sich durch die Arktis z.B. um fast 4.000km verkürzen, die zwischen London und Yokohama sogar um mehr als 7.000km.[1] Außerdem würden über diese Routen potentiell kritische Engstellen wie der Suezkanal oder die Straße von Malakka vermieden, was der Schifffahrt durch die Arktis auch eine geostrategische Bedeutung gibt.

Meereisbildung im Arktischen Ozean

In dieser Untersuchung soll es um Schifffahrt in der Arktis gehen und um die Herausforderungen, denen Schiffe unter arktischen Bedingungen ausgesetzt sind. Aufgrund der geopolitischen Bedeutung der arktischen Seepassagen wird aber auch die zwischenstaatliche Konkurrenz und das Ringen um Einfluss eine Rolle spielen. Dabei lohnt sich auch ein Blick darauf, wie sich die Anrainerstaaten des Arktischen Ozeans auf eine Zunahme des Schiffsverkehrs vorbereiten. Zum Einstieg sollen aber zunächst die Eisbedingungen in der Arktis genauer betrachtet werden.

Mit einer Größe von ca. 14 Mio. km² und einer durchschnittlichen Tiefe von rund 1.000m ist der Arktische Ozean der kleinste und flachste der fünf Ozeane. Er wird von den Kontinenten Europa, Asien und Nordamerika umgeben. Die einzige Verbindung zum Pazifik ist die Beringstraße mit einer Breite von 85km und einer Tiefe von 30-50m. Zum Atlantik gibt es mehrere Verbindungen, die auch breiter und tiefer sind und einen Austausch der Wassermassen ermöglichen.[2] Vor der Küste des amerikanischen Kontinents liegt Grönland, die größte Insel der Welt, sowie ca. 36.000 große oder kleine Inseln, die den kanadischen Archipel bilden. Auch vor der Küste der eurasischen Landmasse sind einige Inseln oder Inselgruppen, die verschiedene Nebenmeere abgrenzen.

Während der langen Polarnacht kommt es in weiten Teilen der Arktis zur Bildung von Meereis. Nur die Barentssee und der Südwesten Grönlands, die von Ausläufern des Golfstroms beeinflusst sind, bleiben traditionell eisfrei. Die größte Ausdehnung des Eises wird zum Ende des Winters Mitte März erreicht, die geringste Ausdehnung gegen Mitte September. Meereis, das die Schmelze während des Sommers übersteht, wird als „mehrjähriges Eis“ bezeichnet. Im Gegensatz zu „einjährigem Eis“, das wegen häufiger Luft- und Salzwassereinschlüsse sehr porös ist und oft nur eine Dicke zwischen 30 und 120cm erreicht, kann mehrjähriges Eis sehr hart und mehrere Meter dick werden.[3] Für die Schifffahrt stellt es eine besondere Herausforderung dar.

Aber auch einjähriges Eis kann sich durch Meereisdrift aufgrund von Winden oder Meeresströmungen zu mehrlagigen Stapeln auftürmen. Zum Beispiel sorgen zyklische Wirbel über der Beaufortsee dafür, dass dickeres Eis entsteht, das dann als Treibeis oder Packeis in Richtung der Küsten driftet. Auch durch gefrierenden Schnee kann das Eis sein Volumen vergrößern. Und schließlich können Eisberge aus abbrechendem Landeis sich unter das Meereis mischen.

Der Klimawandel führt zu einer Verkleinerung des Eisvolumens in der Arktis. Besonders sichtbar ist das an der Entwicklung des jährlichen Eis-Minimums im September. Die fünf Sommer mit der geringsten Eisausdehnung waren 2012, 2020, 2019, 2007 und 2016.[4] Im Winter bedeckt das Eis zwar noch fast die gleiche Fläche wie in den letzten Jahrzehnten, es wird aber dünner. Viele Prognosen gehen davon aus, dass noch in diesem Jahrhundert das arktische Meereis im Sommer ganz verschwinden wird. Danach wäre auch kein mehrjähriges Eis mehr anzutreffen. In den Wintern wird sich auf absehbare Zeit aber weiterhin Meereis bilden, was dann auch zu Beginn des Sommers noch zu Eisdrift und Packeis auf den Schifffahrtswegen führen kann.

Mit dem Rückgang des Eises wird der Klimawandel weiter beschleunigt. Durch seine helle Oberfläche kann das Meereis viel Sonnenlicht reflektieren (Albedo), ohne das Meer zu erwärmen. Trifft das Licht dagegen direkt auf die dunklere Meeresoberfläche, wird mehr Energie absorbiert, sodass sich das Meerwasser erwärmt und dann im Herbst erst später wieder gefriert. Auch Seen aus Schmelzwasser auf dem Eis können die Eisschmelze beschleunigen.

Anforderungen an Schiffe in polaren Gewässern

Die Internationale Seeschifffahrts-Organisation der Vereinten Nationen (IMO) hat einen Katalog von verbindlichen Vorschriften und Empfehlungen für die Schifffahrt in polaren Gewässern entwickelt. Dieser „Polar Code“[5], der 2017 in Kraft trat, soll sowohl die Sicherheit der Schiffe als auch den Schutz der fragilen polaren Ökosysteme gewährleisten. Dabei richten sich die Regeln nicht nur gegen die Herausforderungen durch Meereis, das die Fahrt blockieren oder sogar die Stabilität des Schiffsrumpfs beeinträchtigen kann. Auch die Auswirkungen der Kälte auf das Funktionieren der Maschinen und die Handlungsfähigkeit der Mannschaft werden berücksichtigt, sowie die Herausforderungen durch Dunkelheit, beeinträchtigte Kommunikations- und Orientierungsmöglichkeiten in hohen Breitengraden und die spärlich vorhandene Infrastruktur, was Häfen oder Such- und Rettungsstationen betrifft.

Zur Zertifizierung von Schiffen, die für polare Einsätze geeignet sind, hat die Internationale Vereinigung von Klassifizierungs-Gesellschaften 2006 die einheitliche Norm der „Polarklasse“ aufgestellt. Zertifiziert wird einerseits die Struktur und Stabilität der Schiffshülle und andererseits die Leistungsfähigkeit des Schiffsantriebs auch unter der Gefahr der Vereisung. Die Unterscheidung reicht von Polarklasse 1, die Schiffe für ganzjährigen, uneingeschränkten Betrieb in allen polaren Gewässern befähigt, bis zu Polarklasse 7 für den sommerlichen Betrieb in dünnem Eis (30-70cm).[6] Da diese Norm nur für Schiffe anwendbar ist, die seit 2007 gebaut wurden, und da außerdem verschiedene nationale Normen für die „Eisklasse“ eines Schiffes gelten, sind Schiffe nach diesem Standard aber nur schwer vergleichbar.

Alle Schiffe, die die Arktis befahren, müssen über eine Eisklasse passend zu ihrer Aufgabe verfügen. So gibt es z.B. eisgehärtete Handelsschiffe, Tanker und Kreuzfahrtschiffe. Besonders entscheidend ist die Eisklasse für Eisbrecher, deren Aufgabe es ist, andere Schiffe durch das Eis zu eskortieren. Die Breite des Eisbrechers legt dabei auch die Breite der Fahrrinne für die eskortierten Schiffe fest, so dass möglichst große Eisbrecher erstrebenswert sind. Die stärksten Eisbrecher sind zurzeit die nuklear angetriebenen russischen Schiffe „Arktika“ und „Sibir“ mit einer Breite von jeweils 34m. Sie können Eis bis zu einer Dicke von 4m durchbrechen.[7] In einer Werft bei Wladiwostok wird aber bereits an einem noch größeren Eisbrecher mit einer Breite von über 47m gebaut, der ab 2027 in See stechen soll.[8]

Die arktischen Passagen

Für die Durchquerung der Arktis kommen im Prinzip drei unterschiedliche Routen in Frage: die Nord-West-Passage, die Nördliche Seeroute und die transpolare Route. Die transpolare Route führt direkt über den Nordpol und ist damit die kürzeste Verbindung. Zurzeit ist sie allerdings noch durch mehrjähriges Eis blockiert und wird sich voraussichtlich auch bei fortgesetzter Klimaerwärmung nur für kurze Zeitfenster im Sommer öffnen.

Die Nord-West-Passage (NWP) verläuft an der Nordküste Amerikas durch den kanadischen Archipel sowie die Beaufortsee und Tschuktschensee bis zur Beringstraße. Dabei handelt es sich nicht um eine feste Route, sondern um mehrere mögliche Wege, die sich durch ihre Wassertiefe und Eisbedingungen unterscheiden. Ein Bericht der Meeresschutz-Arbeitsgruppe im Arktischen Rat zählt sechs verschiedene Routen auf, von denen vier nur für Schiffe mit einem Tiefgang von weniger als 10m geeignet sind.[9] Abhängig von Jahr und Klimaverhältnissen sind die Routen von Ende Juli bis Mitte Oktober eisfrei schiffbar, wobei die beiden tieferen Routen häufiger durch Packeis blockiert sind.[10] Entlang der NWP gibt es keine größeren Häfen. Die kanadische Regierung hat aber den Bau eines Tiefwasserhafens am Eingang der NWP in der Baffin-Bai angekündigt.[11]

Als Nördliche Seeroute (NSR) werden verschiedene Schifffahrtswege an der Nordküste Russlands von der Karasee über die Laptewsee, Ostsibirische See und Tschuktschensee zur Beringstraße bezeichnet. In Verbindung mit der meist eisfreien Barentssee ergibt sich daraus eine Nord-Ost-Passage. An der NSR liegen mehrere ausgebaute Häfen und Russland verfügt über eine große Eisbrecher-Flotte, um Schiffe bei Bedarf durch das Eis zu eskortieren. Die NSR ist häufig von Juli bis Anfang November eisfrei. Ende Oktober 2021 wurden allerdings viele Schiffe im östlichen Abschnitt der NSR von früher Eisbildung überrascht und eingeschlossen.[12]

Transit-Fahrten durch die Arktis machen allerdings nur einen kleinen Teil des arktischen Schiffsverkehrs aus. 2021 wurden lediglich fünf Transits durch die NWP[13] und 85 Transits durch die NSR[14] registriert. Den größten Anteil der Schiffe in der Arktis stellen Fischerboote.[15] Hinzu kommen zahlreiche Versorgungsfahrten in die Arktis und Fahrten zum Abtransport von Rohstoffen. Seit 1978 wird die Verbindung von Dudinka am Jenissej-Fluss nach Murmansk ganzjährig befahrbar gehalten, um Erze wie Nickel und Palladium aus Norilsk zu transportieren. Seit 2015 werden jeden Sommer bis zu 3,5 Mio. Tonnen Eisenerz von der kanadischen Baffinland-Mine abtransportiert. Und seit 2017 fahren eisgehärtete LNG-Tanker verflüssigtes Erdgas von der Jamal-Halbinsel nach Europa und Südostasien.

Russland möchte den Transitverkehr über die NSR gerne ausweiten und auch mehr Containerfracht transportieren. Da eisgehärtete Frachtschiffe in der Anschaffung teurer sind und aufgrund ihres Gewichts mehr Treibstoff verbrauchen, sollen sie nur entlang der NSR eingesetzt werden. Zum Umladen der Container von herkömmlichen Schiffen auf eisgängige und wieder zurück, sollen bei Murmansk und auf der Kamtschatka-Halbinsel Umschlagterminals gebaut werden, finanziert über ein Abkommen zwischen der russischen Staatsfirma Rosatom und dem Logistikunternehmen DP World aus den Vereinigten Arabischen Emiraten.[16] Neben China, das Schiffsverkehr durch die Arktis als Teil seiner „Neuen Seidenstraße“ sieht, hat auch Südkorea Interesse am Containertransport über die NSR gezeigt.[17]

Kampf um die „Freiheit der Schifffahrt“

Die Anrainerstaaten des Arktischen Ozeans USA, Kanada, Dänemark als Vertretung für Grönland, Norwegen und Russland sind sich darin einig, dass das Seerechtsübereinkommen (SRÜ)[18] der Vereinten Nationen in der Arktis anzuwenden ist. Über die genaue Interpretation dieses Abkommens gibt es aber abweichende Meinungen. Die USA und einige andere Länder stellen sich gegen Kanada und Russland und betrachten deren Auflagen für die Schifffahrt in den arktischen Passagen als Verstoß gegen das SRÜ.

Das SRÜ gibt Küstenstaaten das Recht, ein „Küstenmeer“ und eine „Ausschließliche Wirtschaftszone“ (AWZ) zu beanspruchen. Das Küstenmeer darf sich bis zu 12 Seemeilen vor der Küste erstrecken und die AWZ bis zu 200 Seemeilen. Anstatt von „Küste“ spricht das SRÜ allerdings von einer abstrakten „Basislinie“, die als Ausgangspunkt der Messung verwendet wird. Alle Gewässer innerhalb der Basislinie (z.B. Flussmündungen) zählen zu den „inneren Gewässern“ des Küstenstaates, erst dahinter beginnt das Küstenmeer. In bestimmten Fällen erlaubt das SRÜ auch „gerade Basislinien“ (Art. 7) zur Vereinfachung des Grenzverlaufs, so dass ganze Meeresbuchten oder Meeresabschnitte zwischen Küste und vorgelagerten Inseln zu den inneren Gewässern gezählt werden können.

Obwohl der Küstenstaat in seinem Küstenmeer volle Souveränität genießt, haben alle Schiffe anderer Staaten dort das Recht der „friedlichen Durchfahrt“ (Art. 17). In „Meerengen, die der internationalen Schifffahrt dienen“ gilt außerdem das Recht der „Transitdurchfahrt“ (Art. 38). Diese Durchfahrtsrechte erlauben im Wesentlichen nur die unverzügliche Durchfahrt und untersagen andere Tätigkeiten der Schiffe. In den inneren Gewässern können diese Durchfahrtsrechte grundsätzlich auch gelten, allerdings nur dann, wenn die Methode der geraden Basislinien dazu führt, dass „Gebiete, die vorher nicht als innere Gewässer galten, in diese einbezogen werden“ (Art. 8, Art. 35).

Kanada und Russland haben 1985 die Methode der geraden Basislinien auf ihre arktischen Küsten angewandt. Kanada hat gerade Basislinien um seinen gesamten Archipel in der Arktis gezogen und damit alle Wasserstraßen, die als Teil der NWP in Frage kommen, zu inneren Gewässern erklärt. Gleichzeitig hat Kanada betont, dass es sich um „historische innere Gewässer“ handele, so dass nach dem SRÜ kein Durchfahrtsrecht für fremde Schiffe besteht. Russland hat seine Inselgruppen Nowaja Semlja, Sewernaja Semlja und Neusibirische Inseln jeweils durch gerade Basislinien mit dem Festland verbunden. Dadurch werden insbesondere die Verbindungswege zwischen der Barents- und Karasee (Karastraße), zwischen der Kara- und Laptewsee (Wilkitzkistraße) sowie zwischen der Laptewsee und der Ostsibirischen See (Laptewstraße und Sannikowstraße) zu inneren Gewässern ohne Durchfahrtsrecht.[19]

Zusätzlich nutzen die beiden Staaten Artikel 234 des SRÜ, der in eisbedeckten Meeren Einschränkungen der Schifffahrt zum Schutz vor Meeresverschmutzung ermöglicht. Kanada verlangt von schweren Schiffen und Schiffen mit gefährlicher Fracht, dass sie eine Genehmigung einholen, bevor sie seine AWZ in der Arktis befahren, und dass sie täglich ihre Position melden. Auch Russland verlangt von kommerziellen Schiffen, dass sie vor dem Befahren der NSR eine Genehmigung einholen. Außerdem müssen sie für den russischen Eisbrecherbetrieb bezahlen und eine Versicherung vorweisen.

Die USA betrachten dagegen sowohl die NWP als auch die NSR als internationale Schifffahrtswege, die ohne Genehmigung durchfahren werden dürfen. Insbesondere wenn es gegen die Ansprüche Russlands geht, finden sie dafür auch leicht Unterstützung aus anderen Staaten. Die deutsche Politik verhält sich in dieser Frage allerdings diplomatisch zurückhaltend. Während sich die Arktisstrategie von 2013 noch „für die freie Durchfahrt von Schiffen in arktischen Gewässern (Nordost-, Nordwest- und Polarpassage)“[20] eingesetzt hat, formuliert die aktuelle Fassung von 2019: „für die freie Schifffahrt in arktischen Gewässern entsprechend den Regelungen des VN-Seerechtübereinkommens.“[21] Damit bleibt offen, ob die Regeln Kanadas und Russlands als durch das SRÜ gerechtfertigt betrachtet werden oder nicht. Selbst in ihrer Antwort auf eine kleine Anfrage zu geplanten Verschärfungen Russlands für die NSR wollte sich die Bundesregierung nicht festlegen.[22]

Die USA haben seit 1988 ein Abkommen mit Kanada, das den Status der kanadischen Gewässer nicht festlegt, in dem die USA aber versprechen, den Abschnitt der NWP durch den kanadischen Archipel nicht ohne vorherige Ankündigung zu befahren. Während der Trump-Administration wurden Auseinandersetzungen um die Schifffahrt in der Arktis aber wieder stärker in den Blick genommen. In der neuen Arktis-Strategie des Verteidigungsministeriums wurden dafür auch FONOPs in der Arktis angekündigt,[23] also provokative Schiffsmanöver zur Durchsetzung der Freiheit der Schifffahrt („freedom of navigation“) wie etwa im südchinesischen Meer. 2018 wurde ein amerikanischer Flugzeugträger in den Nordatlantik nördlich des Polarkreises gesteuert, zum ersten Mal seit Ende des Kalten Kriegs.[24] In den Jahren darauf folgten Fahrten von Lenkwaffen-Zerstörern der „Arleigh-Burke“-Klasse nördlich des Polarkreises, 2020 auch dreimal in der Barentssee.[25]

Zu einer FONOP in der Arktis kam es bisher aber nicht. Das mag auch an eindringlichen Warnungen von Militärwissenschaftler*innen gelegen haben. So warnte Rebecca Pincus davor, dass die Navy keine starken Eisbrecher zur Verfügung habe und ein Eindringen in die NSR zu unabsehbaren Reaktionen Russlands führen könne.[26] David Auerswald fügte hinzu, dass der Nutzen einer FONOP zu gering sei angesichts der Bedeutung der NSR, und warb stattdessen für eine langfristige Strategie.[27] Und schließlich führte auch noch Cornell Overfield aus, dass FONOPs ihr Ziel nicht erreichen könnten, wenn sie mit Militärschiffen durchgeführt werden, da die kanadischen und russischen Schifffahrtseinschränkungen gar nicht für Kriegsschiffe gelten.[28]

Die „Eisbrecher-Lücke“

Die USA haben nur zwei funktionsfähige Eisbrecher, die für den Einsatz in der Arktis geeignet sind. Und einer davon, der schwere Eisbrecher „Polar Star“, ist bereits seit 1976 in Betrieb und soll eigentlich ausgemustert werden. In Russland gibt es dagegen neben den sechs nuklear betriebenen auch noch zahlreiche Eisbrecher mit diesel-elektrischem Antrieb. Allein die Nordflotte des Militärs, die in der Arktis stationiert ist, verfügt über zwei Eisbrecher, von denen einer 2027 erneuert werden soll.[29] Diese Schiffe sind selber unbewaffnet, können aber anderen Kriegsschiffen den Weg durch das Eis bahnen. Mit der „Ivan-Papanin-Klasse“ (Projekt 23550) entwickelt Russland aber auch schwer bewaffnete Eisbrecher-Korvetten mit Abschussvorrichtung für Lenkraketen. Hinzu kommen eisgehärtete Logistikschiffe (Projekt 23120), Munitionstransportschiffe (Projekt 20181) und Multifunktionstanker (Projekt 03182) für das Militär.[30] Und auch die russische Küstenwache hat eigene Eisbrecher und eisgehärtete Patrouillenboote der „Okean-“ (Projekt 22100) und „Purga-Klasse“ (Projekt 22120).

In den USA wird deswegen seit Jahren von einer „Eisbrecher-Lücke“ gesprochen, die eine starke amerikanische Präsenz in der Arktis verhindere. Die US Küstenwache sieht einen Bedarf an mindestens sechs Eisbrechern, darunter drei schwere mit Polarklasse 2. Die Finanzierung für zwei der neuen „Polar Security Cutter“ ist mittlerweile beschlossen. Das Schiffsdesign basiert auf einem Entwurf, den die deutsche Firma Ship Design & Consult GmbH für den Forschungseisbrecher „Polarstern II“ entwickelt hatte. Der Baubeginn in der VT Halter Marine Werft verzögert sich allerdings noch.[31] Während die bisherigen US-Eisbrecher unbewaffnete Schiffe sind, wird für die neuen Schiffe auch eine Bewaffnung eingeplant. Der ehemalige Kommandant der US-Küstenwache Paul Zukunft sprach sich dafür aus, die Aufgaben eines Eisbrechers anders zu betrachten und Platz zu lassen z.B. für die Aufnahme von Marschflugkörpern.[32]

Die übrigen NATO-Staaten unter den Arktisanrainern – Kanada, Dänemark und Norwegen – verfügen bereits über bewaffnete eisgehärtete Schiffe. Die kanadische Marine hat 2021 das Patrouillenboot „Harry DeWolf“ in Betrieb genommen. Es ist für Polarklasse 5 zertifiziert und verfügt über eine 25mm Kanone sowie Hubschrauberdeck und Maschinengewehr. Kanada hat insgesamt sechs dieser Schiffe für seine Marine bestellt. Anschließend sollen auch noch zwei unbewaffnete Exemplare für die kanadische Küstenwache hergestellt werden. Die Küstenwache Kanadas ist im Gegensatz zu vielen anderen Staaten eine rein zivile Organisation u.a. für maritime Such- und Rettungseinsätze sowie den Eisbrecherbetrieb. Auch für den größten kanadischen Eisbrecher „Louis S. St-Laurent“, der seit 1969 im Einsatz ist, hat Kanada mittlerweile Ersatz angekündigt. Er soll ab 2030 durch zwei Schiffe mit Polarklasse 2 ersetzt werden.[33]

Dänemark hat mit der „Thetis-Klasse“ und der „Knud-Rasmussen-Klasse“ zwei Gattungen eisgehärteter Militärschiffe. Die vier Fregatten der Thetis-Klasse wurden Anfang der 1990er Jahre in Betrieb genommen, die drei kleineren Patrouillenboote der Knud-Rasmussen-Klasse zwischen 2008 und 2017. Alle besitzen Schnellfeuerkanone, Hubschrauberdeck und Maschinengewehr und können Eis bis zu einer Dicke von 80cm durchfahren. Außerdem verfügen sie über Stanflex-Befestigungsmodule, um bei Bedarf Torpedos, Anti-Schiffs-Raketen oder andere Waffen nachzurüsten.[34] Der norwegische Eisbrecher „Svalbard“ wurde 2001 in Betrieb genommen. Wie die norwegische Küstenwache gehört er zur Marine und ist mit 57mm Kanone und Maschinengewehr ausgerüstet. Sein Schiffsdesign wurde als Modell für die kanadische „Harry-DeWolf-Klasse“ herangezogen. Norwegen verfügt auch über drei eisgehärtete Patrouillenboote, die in den kommenden Jahren durch das neuere Modell der „Jan-Mayen-Klasse“ abgelöst werden.[35]

Ausblick

Die eisgehärteten Fregatten und Patrouillenboote in Dänemark, Russland und Norwegen stellen keine neue Entwicklung dieser Länder dar. Neu ist aber, dass auch Kanada mit der Harry-DeWolf-Klasse auf eisgehärtete Patrouillenboote mit leichter Bewaffnung setzt. Neu ist auch, dass die USA für ihre zukünftigen Eisbrecher wie selbstverständlich eine Bewaffnung einplanen. Und neu sind auch die schwer bewaffneten Eisbrecher der Ivan-Papanin-Klasse, die zurzeit in Russland gebaut werden. Anscheinend stellen sich die Staaten auf zunehmende Auseinandersetzungen in den eisbedeckten Meeren der Arktis ein.[36] Der Verlust an Meereis durch den Klimawandel führt wahrscheinlich auch in den kommenden Jahren zu einer Zunahme des Schiffsverkehrs in der Arktis. Eventuell kommt es dann auch zu einem verstärkten Ringen um Einflusssphären auf See, zu FONOPs oder zu Konfrontationen bei Militärmanövern.

Für die kommerzielle Schifffahrt ist die Arktis nur teilweise interessant. Zwar bieten die kürzeren Routen die Möglichkeit, Zeit und Treibstoff zu sparen. Hinzu kommen aber andere Herausforderungen wie Kälte, Dunkelheit, unwägbare Wetterverhältnisse, Investitionen in eisgehärtete Schiffe, Kosten für Versicherung und Eisbrecherbetrieb und die weiten Distanzen zu Häfen oder Einrichtungen für Such- und Rettungsdienste. Eine Studie von 2016 sieht in der Arktis vor allem ein Potential für Massengutfrachter und Tourismus-Schiffe. Während die aufsteigende Tourismusbranche zurzeit durch die Corona-Pandemie weitgehend zum Erliegen gekommen ist, sorgt der Massengutverkehr ungehemmt für den Abtransport von arktischen Rohstoffen. Die Linienschifffahrt mit Containerfracht ist dagegen meist strikten Zeitplänen unterworfen, die durch schwer vorhersehbare Eisbedingungen gefährdet sind. Außerdem profitiert sie davon, unterwegs mehrere Häfen anzulaufen, was auf den Transportrouten durch die Arktis nicht möglich ist. Für manche Häfen in Südostasien ist der Weg nach Europa durch die Arktis sogar länger als durch den Suezkanal, z.B. Singapur.[37]

Es ist aber durchaus möglich, dass sich die Arktis vor allem im Sommer zu einer Alternativ- oder Ausweichroute für die Schifffahrt entwickelt und dass es dadurch zu mehr Schiffsverkehr kommen wird. Welche Folgen das für die maritime Tierwelt und das empfindliche arktische Ökosystem haben könnte, ist noch eine ganz andere Geschichte.


Anmerkungen

[1] Michael Paul: Arktische Seewege, 23.07.2020 swp-berlin.org, S. 19

[2] Arctic Council: Arctic Marine Shipping Assessment 2009 Report, April 2009 pame.is, S. 18

[3] Was ist Meereis?, meereisportal.de

[4] September-Mittel der Meereis-Ausdehnung in der Arktis, data.meereisportal.de

[5] IMO: International Code for Ships Operating in Polar Waters, imo.org

[6] International Association of Classification Societies: UR I – Polar Class, iacs.org.uk

[7] Thomas Nilsen: Second giant nuclear icebreaker handed over to Rosatomflot, 25.12.2021, thebarentsobserver.com

[8] The keel has been laid down for the nuclear icebreaker Rossija in the Far East, 7.7.2020, neftegazru.com

[9] PAME: Arctic Shipping Status Report #3, April 2021, oaarchive.arctic-council.org

[10] Arctic Council 2009, a.a.O., S. 20

[11] Canadian government announces long-awaited deepwater port for Qikiqtarjuaq, Nunavut, 5.8.2021 rcinet.ca

[12] The situation in the eastern part of the Northern Sea Route in 25 october – 17 november, 18.11.2021 arctic-lio.com

[13] Vor den Corona-Einschränkungen für Jachten und Kreuzfahrtschiffe gab es durchschnittlich 19 Transits pro Jahr.  OPSA: L’année arctique 2021. Navigation, 13.12.2021 cirricq.org

[14] CHNL: Transit Voyages on NSR in 2021, 17.12.2021 arctic-lio.com

[15] PAME: Arctic Shipping Report #1, 11.3.2020 oaarchive.arctic-council.org

[16] Andrew E. Kramer: Russia Signs Deal With Dubai Logistics Company to Navigate Thawing Arctic, 23.7.2021 nytimes.com

[17] Peter B. Danilov: South Korean Investors Explores Container Shipping on the Northern Sea Route, 10.11.2021 highnorthnews.com

[18] Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (deutsche Übersetzung), eur-lex.europa.eu

[19] Cornell Overfield: FONOP in Vain: The Legal Logics of a US Navy FONOP in the Canadian or Russian Arctic, 2021 arcticyearbook.com

[20] Auswärtiges Amt: Leitlinien deutscher Arktispolitik, November 2013 arctic-office.de, S. 1

[21] Auswärtiges Amt: Leitlinien deutscher Arktispolitik, August 2019 auswaertiges-amt.de, S. 3

[22] BT-Drucksache 19/15326, 20.11.2019 dserver.bundestag.de, S. 30

[23] Department of Defense Arctic Strategy, Juni 2019 media.defense.gov, S. 13

[24] Geoff Ziezulewicz, David B. Larter: The Navy sends a carrier back to Russia’s Arctic haunts, 19.10.2018 navytimes.com

[25] Diana Stancy Correll: Destroyer Ross treks into the Barents Sea’s Arctic waters – again, 21.10.2020 navytimes.com

[26] Rebecca Pincus: Rushing Navy Ships into the Arctic for a FONOP is Dangerous, Januar 2019 usni.org

[27] David Auerswald: Now is Not the Time for a FONOP in the Arctic, 11.10.2019 warontherocks.com

[28] Cornell Overfield 2021, a.a.O.

[29] Ryabov Kirill: Project 21180M: icebreakers for the future, 24.11.2020 en.topwar.ru

[30] Siemon T. Wezeman: Military Capabilities in the Arctic, Oktober 2016 sipri.org

[31] Melody Schreiber: Delivery of the U.S. Coast Guard’s new icebreaker is delayed, even as the agency as sharpens its Arctic focus, 1.12.2021 arctictoday.com

[32] Megan Eckstein: Zukunft: Changing Arctic Could Lead to Armed U.S. Icebreakers in Future Fleet, 18.5.2017 news.usni.org

[33] Murray Brewster: Trudeau government promises coast guard two new heavy icebreakers for Arctic operations, 6.5.2021 cbc.ca

[34] Timothy Choi: Maritime Militarization in the Arctic: Identifying Civil-Military Dependencies, 2020 arcticyearbook.com

[35] Jan-Mayen-class Vessels, 12.3.2021 naval-technology.com

[36] Timothy Choi 2020, a.a.O. weist darauf hin, dass oft nur das Militär über geeignete Schiffe und Ausrüstung verfüge, um unter den abgelegenen und klimatisch herausfordernden Bedingungen der Arktis operieren zu können. Deswegen führe das Militär auch viele zivile Aufgaben durch wie Transporte, Such- und Rettungseinsätze oder Unterstützung der Polarforschung. Das wirft allerdings die Frage auf, warum die Staaten nicht zivile Organisationen aufbauen und für Dienstleistungen unter polaren Bedingungen ausrüsten, z.B. nach dem Vorbild der kanadischen Küstenwache.

[37] Ørts Hansen, Grønsedt, Lindstrøm Graversen, Hendriksen: Arctic Shipping – Commercial Opportunities and Challenges, CBS Maritim 2016 services-webdav.cbs.dk