IMI-Analyse 2017/33 - in: AUSDRUCK (August 2017)

Spezialeinheiten gegen Menschenmengen

Militarisierung der staatlichen Bekämpfung von Unruhen während des G20-Gipfels in Hamburg

von: Martin Kirsch | Veröffentlicht am: 20. Juli 2017

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„Der G20-Gipfel wird auch ein Schaufenster moderner Polizeiarbeit sein.“
(Andy Grote, Innensenator von Hamburg)[1]

Wenn noch immer die Kunde vom Bürgerkrieg in Hamburg durch die Medien geistert, zielt diese Beschreibung auf brennende Autos, Barrikaden, Flaschenwürfe und Plünderungen. Was bei diesem Vergleich verwundern sollte ist, dass in der gesamten Zeit des Hamburger „Bürgerkrieges“ Schaulustige und Bier trinkendes Partyvolk anwesend waren – eine für Kriegsgebiete eher ungewöhnliche Beobachtung. Nicht aber für politische Unruhen, wie sie in den 1970er und 1980er Jahren in der BRD regelmäßiger ausbrachen. Insofern zeugt die Erzählung vom nicht gekannten Ausmaß der Gewalt – gemeint ist dabei nicht die Polizei – v.a. auch von Geschichtsvergessenheit. Verdeckt wird in dieser auf einen begrenzten Teil der Auseinandersetzungen um den Gipfel fokussierten Betrachtungsweise die tatsächliche einseitige Kriegserklärung des Staates gegen den G20-Widerstand, die radikale Linke, unbeteiligte Bürger*innen, die Grundrechte und den als ideologische Floskel immer wieder beschworenen Rechtsstaat. So ist es die Rolle des Staates, der Polizei, der Justiz, und der politischen Klasse im Umgang mit den Gipfelprotesten, die ein Schaufenster in eine autoritäre Zukunft öffnet.

Das vorangestellte Zitat des noch amtierenden Hamburger Innensenators Grote kann in der nachträglichen Betrachtung der Ereignisse nur als Drohung und tiefste Verachtung der Demokratie gewertet werden, wenn sogar Spezialkräfte mit Schnellfeuerwaffen zum Einsatz kamen, um ein aus polizeilicher Sicht außer Kontrolle geratenes Stadtviertel zu „befrieden“. Linke, Antimilitarist*innen und all diejenigen, die Grundrechte für Schutzrechte der Bevölkerung vor dem Staat halten und einen ungezügelten Gewaltapparat als Bedrohung sehen, sind jetzt aufgerufen, die Geschehnisse zu analysieren und klar Position zu beziehen.

Vorgeschichte des SEK-Einsatzes – Randaliert doch lieber in der Schanze als vor den Hotels

„Sie werden das gesamte Polizei-Equipment hier in Hamburg sehen, wenn es geht, möglichst zurückhaltend. Wenn wir es komplett brauchen, packen wir es eben alles aus.“
(Hartmut Dudde, Gesamteinsatzleiter der Polizei vor dem Gipfel)[2]

Nachdem die Polizeiführung im Laufe des ersten Gipfeltages, Freitag dem 07.07.17, einsehen musste, dass ihre Taktik der letzten Tage nicht aufgegangen war, den Protest einzig und allein mit Gewalt zu unterdrücken und sowohl Blockaden als auch direkte Angriffe massiv in Zeitpläne und Bewegungsfreiheiten von Gipfelgästen und Polizei eingegriffen hatten, wurde am frühen Nachmittag die Taktik umgestellt. Ein Großteil der Polizeikräfte wurde auf 15:00 Uhr an die direkte Route zwischen Messegelände und Elbphilharmonie verlegt.[3] Die Staatsgäste sollten aus Sicherheitsgründen auf Abstecher in die Hotels verzichten und auf eben dieser gesicherten Route zum Konzert geleitet werden. Mit der Festlegung auf einen zentralen Transferkorridor wurden allerdings auch alle Ausweichoptionen aufgegeben und damit die Notwendigkeit, diese Route mit aller Gewalt zu sichern, zementiert. Durch diese Umstellung wurden zwangsläufig auch Polizeieinheiten aus St. Pauli und den umliegenden Vierteln abgezogen, die zur Sicherung der Route der Delegationen nötig wurden. In und um das Schanzenviertel waren allerdings entgegen vieler Falschbehauptungen den gesamten Freitag über starke Polizeikräfte mit Wasserwerfern präsent.

Vermutlich entschied sich die Polizeiführung aus taktischen Gründen, die Situation im Schanzenviertel, die sich am frühen Abend zuspitzte, lieber gären zu lassen, als die teils militanten G20-Gegner*innen aus der Schanze zu vertreiben und damit das Risiko einzugehen, dass sie an den Routen der Staatsgäste oder in schlechter überwachten Stadtvierteln zur Aktion schreiten würden, zumal die Polizei jetzt in der Fläche schlechter aufgestellt war. Dass die Polizeiführung nach der schlechten Presse der Vortage auch entsprechende Bilder brauchte, um ihren harten Einsatz rechtfertigen zu können, erscheint wahrscheinlich, bleibt aber eine Spekulation.

Neben dem stetigen Zustrom von weiteren Demonstrant*innen in die Schanze an besagtem Abend, der nicht von der Polizei unterbunden wurde, spricht auch für eine solche Strategie, dass sowohl die Polizei als auch die Anwohner*innen Auseinandersetzungen in diesem Viertel vom 1.Mai, dem Schanzenfest und diversen Demos schon kannten. Die „Störer“ sollten lieber in „ihrem Viertel“ unter Beobachtung randalieren, während die Routen für die Staatsgäste offen gehalten werden konnten. So waren im Schanzenviertel „Aufklärungskräfte“ bzw. „Tatbeobachter“, sprich Beamt*innen in Zivil, positioniert, die der Polizeiführung genauestens über die Entwicklungen berichteten.[4] Ergänzt wurde das Lagenbild von Hubschraubern, die über dem Viertel kreisten.

Die Korrektheit des Lagebildes, vor allem die Informationen der Zivilbeamten über einen angeblichen Hinterhalt, werden mittlerweile auch vom NDR angezweifelt.[5] Für die weitere Analyse wird aber davon ausgegangen, dass die Polizeiführung, mindestens aber die Beamt*innen auf der Straße, auf dieser Grundlage agierten.

Über die ersten brennenden Barrikaden war die Polizeizentrale gegen 21:00 Uhr bestens informiert, die Einsatzkräfte zogen sich aber nach einem kurzen Vorstoß in einer Seitenstraße schnell zurück. Das Konzert in der Elbphilharmonie lief noch und der Heimweg der Staatsgäste stand ebenfalls noch bevor. Eine halbe Stunde später kam die Polizei jedoch laut Einsatzprotokollen zu der Einschätzung, dass bei einer Räumung des Schulterblattes mit Schwerverletzten auf Seiten der Polizei zu rechnen wäre. Womöglich kippte jetzt die einkalkulierte Randale in ein Szenario, das auch der Polizeiführung nicht mehr gefallen konnte.

Das Unterstützungskommando (USK), die Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten (BFE) der Bayrischen Bereitschaftspolizei, bekannt für harte Einsätze bei Demonstrationen auch in anderen Bundesländern, sollte ins Schanzenviertel vorrücken. Doch es kam zu einer kleinen Meuterei. Der Leiter des USK besprach sich nach eigener Aussage mit Kollegen aus anderen Bundesländern und verweigerte den Befehl.[6]

Ein Ereignis mit Seltenheitswert, das sich aber erklären lässt: Bei kleineren Demonstrationen und Fußballspielen treten die besagten USK bzw. BFE[7] in ihrem Einsatzalltag in einer solcher Stärke auf, dass sie selten in die Situation kommen, einen substanziellen Widerstand brechen oder gar vor einer Gefahrensituation zurückweichen zu müssen. So lässt sich wohl aus dem Verlust der Erfahrung, nur mit klarer Übermacht in eine Auseinandersetzung zu gehen, erklären, warum hochtrainierte und bestens ausgerüstete Bereitschaftspolizeieinheiten vor einer Situation zurückschrecken, die für ihre Kolleg*innen in Großstädten in den 1980er Jahren noch zum Erfahrungshorizont gehörte. Auch die Erfahrung, dass den Beamten in ihrer Wahrnehmung die Ablehnung ganzer Stadtviertel entgegen schlägt, hat in den letzten 30 Jahren massiv abgenommen. Ab Freitagnacht waren dann auch vermehrt BF-Einheiten mit Schilden zu sehen, was dem vorgesehenen Konzept der dynamischen und schnellen Greiftrupps grundlegend widerspricht, aber der Situation geschuldet war.

Die Befehlsverweigerung muss die Polizeiführung in Bedrängnis gebracht haben und war ein Affront für einen Hardliner wie Dudde, der seine Truppen lieber in massive Konfrontationen schickt, als Alternativen abzuwägen.[8] Vor die Wahl gestellt, weitere Momente der Meuterei zu riskieren und der Möglichkeit beraubt, seine eigenen Truppen aus Hamburg einzusetzen, die bereits in den Tagen zuvor verheizt worden waren, traf die Polizeiführung wohl gegen 22 Uhr, als die Kunde von Plünderungen eintraf, eine Entscheidung. Duddes Konzept der „Deeskalation durch Stärke“, auch bekannt als „Hamburger Linie“, sollte auf einem ganz neuen Niveau gefahren werden. Da die Gefolgschaft der BFE-Kräfte nicht mehr sicher schien, wurden Kommandotrupps der Spezialeinheiten aus der Stadt zusammengezogen. Nachdem Einsatzgruppen des Spezialeinsatzkommandos (SEK) Sachsen, SEK Bayern, der GSG 9 der Bundespolizei und der Cobra, einer Anti-Terror-Einheit der Österreichischen Bundespolizei, vor Ort eingetroffen waren,[9] sich vorbereitet und Ausrüstung angelegt hatten, wurde um 23:40 Uhr mit der Stürmung der Schanze begonnen. Die längere Zeit des Sammelns und der Einsatzvorbereitung sprechen dafür, dass die Aussage der Polizei, wonach ein solcher Einsatz im Vorhinein nicht geplant worden sei, der Wahrheit entsprechen könnte.

Schusswaffenfreigabe – Überwältigung durch blanke Waffengewalt

„Nachdem wir das erste Haus durchsucht hatten, war es mein Gefühl, dass absolute Stille im Schanzenviertel vorherrschte.“
(Einsatzleiter des SEK-Sachsen)[10]

Den schlimmsten Fall vorausgesetzt, dass sie auf „Straftäter mit Schusswaffen“ treffen könnten, gingen die Spezialeinheiten in Gruppen zwischen fünf und 15 in die Häuser und auf die Dächer an der Ecke Neuer Pferdemarkt/ Schulterblatt und in den angrenzenden Straßen. Vor dem Einsatz war sogar über bewaffnete Hinterhalte und Sprengfallen sinniert worden,[11] was die Spezialeinheiten sicher nicht zur Zurückhaltung bewegte. Die Personen auf dem Dach des Hauses Schulterblatt 1, laut Lügenmärchen der Polizei einem lebensgefährlichen Hinterhalt, wurden mit vorgehaltener Waffe abgeführt und in die Gefangenensammelstelle verbracht.[12] Für einen Haftbefehl reichten die Beweise allerdings bei keinem der 13 Abgeführten, weil die angeblichen Gehwegplatten und Molotow-Cocktails auf dem Dach nicht gefunden wurden.[13]

In den Häusern traten, rammten und schossen die Spezialkräfte Türen auf, warfen Ablenkungspyrotechnik und hinterließen nach kurzer Befragung geschockte Bewohner*innen in Wohnungen ohne nutzbare Wohnungstür.[14] Demo-Sanitäter*innen, die sich in eines der betroffenen Häuser zurückgezogen hatten, um dort in Ruhe Verletzte zu versorgen, darunter eine Person mit akutem Schock, wurden mit vorgehaltener Schusswaffe, Laserpunkten aus den Zieloptiken auf dem Körper und der mündlichen Androhung von Schusswaffengebrauch von ihrer Arbeit abgehalten und abgeführt.[15] So ist die betroffene Gruppe „Riot Medics“ eine der wenigen, die auch aufgrund ihrer traumatisierten Mitglieder eine kritische Debatte über den SEK-Einsatz einfordert.

Die Spezialkräfte, die Straßen und Hauseingänge sicherten, zielten auf alles, was sich bewegte. Journalist*innen, Schaulustige und Protestierende, aber auch Anwohner*innen an den Fenster wurden ins Visier genommen.[16] Im Verlauf der Aktion wurde der vordere Bereich des Schulterblattes, in dem die Spezialeinheiten angeblich das Viertel freikämpften, in Richtung Pferdemarkt und Rote Flora von einer Kette Bereitschaftspolizist*innen abgeschirmt.

Die Presse war bereits vor Einsatzbeginn via Twitter darum gebeten worden, Aufnahmen der Polizeiaktion zu unterlassen – um die Einsatzkräfte nicht zu gefährden, so die mitgelieferte Begründung. Sobald der SEK-Einsatz beendet war, kamen die Fußtruppen der Bereitschaftspolizei wieder ins Spiel und gingen auf Jagd. Dabei wurde, so lassen es Videoaufnahmen vermuten, keine Unterscheidungen mehr gemacht. All diejenigen, die sich zu diesem Zeitpunkt noch in den betreffenden Straßen aufhielten, waren dem blanken Zorn der uniformierten Staatsdiener ausgesetzt. Darunter auch diejenigen Beamt*innen, die zuvor den Einsatz verweigert hatten. Die Schusswaffenfreigabe für das SEK schien dann auch auf die anderen Polizeikräfte zu wirken. So zielte noch nach der Übernahme der Straßenkreuzung vor der Roten Flora durch die Polizei ein BFE-Beamter aus Hessen mit einer Spezialpistole für den Abschuss von Gasgranaten auf die Köpfe von Umstehenden.[17]

Die Konfrontation zwischen Protestierenden und Polizeikräften mit Schnellfeuerwaffen begann und endete allerdings nicht am Freitagabend. Bereits in den Morgenstunden des Freitags waren Teile des „lila Fingers“ der Aktion „Block G20“ mit dem Anblick von Maschinenpistolen konfrontiert. Als die Blockierer*innen von Süden kommend die Ludwig-Erhard-Straße auf Höhe des Steigenberger Hotels erreichten, standen sie Objektschutzkräften der Bereitschaftspolizei gegenüber, die sich hektisch die Schutzhelme aufsetzten. Auch wenn sie diese nicht in Anschlag brachten, hatte von einem Dutzend Polizeikräften, die zum Schutz des Hotels abgestellt waren, in dem Delegationsmitglieder residierten, etwa jede*r zweite eine Maschinenpistole umhängen. Da allerdings andere Polizeieinheiten diejenigen, die auf die Hauptstraße vordrangen, in die Seitenstraßen zurückprügelten, kam es nicht zur direkten Konfrontation mit der Objektschutzeinheit und ihren Schnellfeuerwaffen. Und weil es am Freitag schon so gut funktioniert hatte, ließ die Einsatzleitung nicht locker und schickte auch am deutlich ruhigeren Samstagabend ein SEK in die Schanze, das zwar nicht zum Einsatz kam, aber deutlich sichtbar in Bereitschaft stand und damit das gewünschte Abschreckungsziel wohl erreichte.[18]

Wer sind diese paramilitärischen Spezialtruppen der Polizei?

„Aber die Schieß-Ausbildung ist mindestens genauso intensiv – schließlich sind SEK- Beamte eher selten in Nahkämpfe verwickelt.“
Emil Pallay, ehemaliger Beamter des SEK Bayern)[19]

Die Spezialeinsatzkommandos der Länderpolizeien sind, so wie GSG9 und Cobra für die jeweiligen Bundespolizeien, die letzte Eskalationsstufe im vorhandenen Einsatzspektrum. Die Angehörigen der Kommandos verstehen sich als absolute Elite und ziehen ihren Stolz daraus, dass nach ihnen nichts mehr kommt. Befehlsverweigerung ist in diesem Selbstverständnis quasi undenkbar. In ihrem Einsatzalltag trainieren sie permanent und werden gerufen, wenn es um Terrorismus, Geiselnahmen, organisierte Kriminalität oder bewaffnete Täter*innen und Zielpersonen geht.[20] Als Zugriffseinheit vermeiden sie spontane Situationen, sondern warten lieber einen Moment länger ab, bevor sie zuschlagen, um dann das Überraschungsmoment auf ihrer Seite zu haben.[21] Deeskalation kommt für das SEK im Einsatzalltag, abgesehen von Ausnahmen, erst dann zum Tragen, wenn die angetroffenen Personen gefesselt auf dem Boden liegen. Im Gegensatz zu BF-Einheiten haben sie mit der schweren Waffe in der Hand nur zwei Optionen. Der Überraschungseffekt und/oder die Todesdrohung der Schnellfeuerwaffen führen zur Aufgabe des Gegenübers, oder es kommt zum Schusswaffengebrauch – Zwischenstufen wie Knüppel oder Pfefferspray sind nicht vorgesehen. Erst seit der Terrorhysterie nach den Anschlägen 2015 in Paris trainieren die SEKs vermehrt auch den dynamischen Einsatz in städtischer Umgebung und nähern sich damit dem Vorgehen von Elitesoldaten im Häuserkampf an.[22] Für diese neuen Aufgaben ausgelegt waren auch die in Hamburg getragene Ausrüstung und die eingesetzten Sturmgewehre, die erst im letzten Jahr im Rahmen der Anti-Terror-Pakete angeschafft wurden. Wenn die Spezialkräfte ihre Schusswaffen tragen, haben sie die Erlaubnis, über die Benutzung autonom zu entscheiden. Nur bei wenigen SEK-Einsätzen wird scharf geschossen, aber die Todesdrohung ist Teil des Einsatzkonzeptes und damit wurde auch bei diesem Einsatz in Hamburg kalkuliert.

Bewertung des Einsatzes

„Zur Deeskalation: Hamburger Polizei fährt Atomrakete auf.“
(Satirewebsite Der Postillon zur Polizeistrategie in Hamburg)[23]

Voll bewaffnete Spezialkräfte mit ihrem paramilitärischen Vorgehen wurden vermutlich seit dem Sturm der besetzten Mainzer Straße 1990 in Berlin-Friedrichshain in der BRD nicht mehr im Rahmen von politischen Auseinandersetzungen auf der Straße eingesetzt. Der Umgang mit Unruhen und das Räumen von Häusern ist eigentlich die klassische Aufgabe der BF-Einheiten der Bereitschaftspolizei, die zwischen 1987 und 1995 eigens dafür aufgestellt wurden, um die Spielräume der Polizei bei Demonstrationen zu erweitern, ohne das SEK einzusetzen.[24]

Das behauptete Ziel des SEK-Einsatzes in Hamburg, Straftäter*innen dingfest zu machen um damit den Einsatz anderer Polizeikräfte zu ermöglichen, wirkt fadenscheinig. Wären Festnahmen das Ziel der Aktion gewesen, hätten sich die Spezialeinheiten wohl versteckt über Hinterhöfe genähert, um dann einen gezielten Zugriff, z.B. auf den Dächern, durchzuführen. Mit der verhältnismäßig langen Vorbereitung des Einsatzes in aller Öffentlichkeit und dem Vorrücken über die Hauptstraße ging es den Planern wohl eher um eine Show of Force – Einschüchterung und das Zeigen von Stärke – als um einzelne Festnahmen. Mit Sturmgewehren als Einsatzmittel und der dazugehörigen Schusswaffenfreigabe hat die Polizeiführung dabei Tote einkalkuliert und einzig darauf gesetzt, dass alle Beteiligten halbwegs die Nerven behalten bzw. die anwesenden Personen vor der blanken Waffengewalt kapitulieren, was anscheinend zumindest am unmittelbaren Ort des Einsatzes auch geschah.

Insgesamt reiht sich der Einsatz während des G20 in die im Vorjahr ausgegebene Linie des Innensenators Grote ein, der mit Freude seine Polizei mit Sturmgewehren, Radpanzern für Spezialeinheiten und Maschinenpistolen in den Streifenwagen zur kleinen Bürgerkriegsarmee aufgerüstet hatte, um dann auf die Bundeswehr in der Terrorabwehr verzichten zu können.[25] Diese Militarisierung der Polizei im Rahmen der Anti-Terror-Pakete, die keine Eigenheit der Hansestadt ist, hatte durch den Einsatz der Spezialkräfte während des G20-Gipfels erstmals unmittelbare Auswirkungen auf Demonstrationsgeschehen. Die Vermutung, dass mit der Aufrüstung die Deeskalation ab- und der Schusswaffengebrauch zunehme, scheint sich beim G20-Gipfel bestätigt zu haben. Verwunderlich ist allerdings, dass es nicht ein*e einfache*r Streifenbeamt*in war, die*der seine neue Aufgabe als Anti-Terror-Kieger*in zu ernst nahm und abdrückte, sondern die Hamburger Polizeiführung, die ganz bewusst die Eskalationskarte spielte. So war die Fotomontage der Satirewebsite Der Postillon, in der die Polizei zur Deeskalation mit Atomraketen aufwartet, hellsichtiger, als viele wahrnehmen wollten. Die Spezialeinheiten haben zwar nicht geschossen, aber Einsatzleiter Dudde brachte das Drohpotenzial der Sturmgewehre und damit das ultimative Mittel in seinem Waffenarsenal in Stellung.

Und die Strategie scheint aufzugehen. Die Politik überlässt der Polizei das Feld, um mit paramililitärischen Mitteln Aufruhr in Teilen der Bevölkerung zu unterdrücken. Aufbrechenden gesellschaftlichen Konflikten wird an Stelle von politischen Auseinandersetzungen mit dem Griff in den Werkzeugkasten autoritärer Staatlichkeit begegnet. Weite Teile der Medienlandschaft rechtfertigen den Einsatz der Spezialkräfte in einer Logik, in der es sich bei den vorhergegangenen Ereignissen um einen Bürgerkrieg gehandelt haben muss, wenn die Polizei gezwungen war, zu solchen Mittel zu greifen. Kritische Fragen oder gar ein Bewusstsein für die gesellschaftlichen Konsequenzen einer solchen Polizeiaktion, die von der Bevölkerung hingenommen wird, sind rar.

Ob Spezialeinheiten im Rahmen von Straßenprotesten in Zukunft öfter zum Einsatz kommen werden, bleibt offen. Die konkrete Erfahrung der Polizeiführung, die bewiesene Funktionalität der Abschreckung und die nahezu ausbleibende öffentliche Kritik lassen allerdings wenig Platz für Hoffnung, dass es sich hierbei um einen seltenen Einzelfall und nicht um einen Türöffner gehandelt hat.

Anmerkungen

[1] Die Zeit, Frühere Zitate zur Sicherheit des G20-Gipfels, 08.07.2017, zeit.de.

[2] Thomas Hummel, Warum Hamburgs Polizei-Einsatzleiter polarisiert, 08.07.2017, sueddeutsche.de.

[3] Bild, G20-Gewalt – Die geheimen Polizei-Protokolle, Seite 3, 14.07.17.

[4] Der Spiegel, 29/2017, Abgebrannt, Seite 17, 15.07.2017 und Bild, G20-Gewalt – Die geheimen Polizei-Protokolle, Seite 3, 14.07.17

[5] Berger, Mascolo und Baars, G20 Krawalle: Gab es wirklich eine Hinterhalt?, 19.03.2017, ndr.de

[6] Der Spiegel, 29/2017, Abgebrannt, Seite 17, 15.07.2017 und Bild, G20-Gewalt – Die geheimen Polizei-Protokolle, Seite 3, 14.07.17

[7] Das Unterstützungskommando (USK) der Landespolizei Bayern nimmt bei Demonstrationen die gleichen Aufgaben wahr, wie es die Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten (BFE) in den anderen Bundesländern und bei der Bundespolizei tun. Wenn weiter von BFE gesprochen wird ist das USK eingeschlossen, solange nicht eine konkrete Einheit benannt wird.

[8] Thomas Hummel, Warum Hamburgs Polizei-Einsatzleiter polarisiert, 08.07.2017, sueddeutsche.de

[9] Thomas Hirschbiegel, Hamburger Morgenpost am Sonntag, So stürmten Anti-Terror-Einheiten die Schanze, 09.07.17, Seite 2-3

[10] Spiegel Online, SEK Einsatz auf den Schanzendächern – „Sie haben sich sofort ergeben“, 13.07.2017, spiegel.de

[11] Berger, Mascolo und Baars, G20 Krawalle: Gab es wirklich eine Hinterhalt?, 19.03.2017, ndr.de

[12] Spiegel Online, Hamburg G20 – Der Mann auf dem Gerüst, 14.07.2017, spiegel.de

[13] Berger, Mascolo und Baars, G20 Krawalle: Gab es wirklich eine Hinterhalt?, 19.03.2017, ndr.de

[14] Hamburger Morgenpost am Sonntag, So erlebten die Anwohner und Geschäftsleute die Horror-Nacht – „Vier Stunden Angst!“, 09.07.17, S.8

[15] Moritz Wiechmann, Neues Deutschland, G20: Sondereinsatzkommando zielt auf Sanitäter, 16.07.2017, neues-deutschland.de und G 20 Doku, Spezialkräfte zielen mit Schusswaffen auf Demosanitäter, g20-doku.de

[16] G20 Douk, SEK-Beamte richten Maschinenpistole auf umstehende, und ebenfalls G 20 Doku, Mit der Waffe auf einen Anwohner am Fenster gezielt, g20-doku.org

[17] Anne Pauly, Räumung des Schanzenviertels – Gaswaffen und Wasserwerfer – Polizei greift durch!, Video, bild.de

[18] Tagesspiegel, Hamburger Polizei greift in der Schanze durch, 09.07.2017, tagesspiegel.de

[19] Johanna Bruckner, Interview mit Ex-SEK-Beamten – „Wir sind keine Rambos“, 20.03.2013, sueddeutsche.de

[20] SEK-Einsatz, SEK – Das Spezialeinsatzkommando, 06.11.2013, sek-einsatz.de

[21] Johanna Bruckner, Interview mit Ex-SEK-Beamten – „Wir sind keine Rambos“, 20.03.2013, sueddeutsche.de

[22] Martin Kirsch, Militarisierung der Polizei – Massive Aufrüstung im Namen der Terrorabwehr, 31.03.2017, imi-online.de

[23] Der Postillion, Zur Deeskalation: Haburger Polizei fährt Atomraketen auf, 07.07.17, der-postillion.com

[24] Cilip, Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit Thüringen – „Ein wichtiger Faktor zur Gewährleistung der inneren Sicherheit.“ , 20.12.1998, cilip.de

[25] Markus Lorenz,: „Sturmgewehre und Panzerwagen für die Polizei – Anti-Terror-Kampf in Hamburg…“, 14.11.2016, shz.de