IMI-Studie 2010/11 - in: AUSDRUCK (August 2010)
Money makes the world go round
Finanzkrise und Strukturkommission als Hebel zur Reform der Bundeswehr
von: Michael Haid | Veröffentlicht am: 21. Juli 2010
http://imi-online.de/download/MH-AUSDRUCK43-BW-Reform.pdf
Die Kabinettsklausur der Bundesregierung vom 6./7. Juni 2010 verordnete, neben den drastischen Einschnitten im sozialen Ressort, auch dem Verteidigungsetat Einsparungen im Milliardenbereich als Beitrag zur Haushaltskonsolidierung des Bundes. Gleichzeitig erhielt der Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) den Auftrag, in Zusammenarbeit mit der sog. Strukturkommission, bis Anfang September 2010 ein Konzept für eine „grundlegende Reform“ bzw. eine „Neuausrichtung der Bundeswehr“[1] vorzulegen. Zu diesem Zweck erstellte das Bundesverteidigungsministerium (BMVg) die am 30. Juni 2010 veröffentlichten „Leitlinien zur Ausplanung der neuen Bundeswehr“. Der Anfangssatz dieses Papiers lautet: „Die Bundeswehr steht vor einer der größten gestalterischen Herausforderungen seit ihrer Aufstellung im Jahr 1955.“[2]
Zu Guttenberg kündigte diesen Umbruch bereits in seiner „Grundsatzrede“ am 26. Mai 2010 an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg an. Dort nannte er als Grund für die Reform den „absehbaren finanzpolitischen Canossagang der Bundesregierung“.[3] Er bezeichnete mit dieser Formulierung die von der Bundesregierung beschlossene Haushaltskürzung. Aufgrund dieser Sparvorgaben sei eine „Paradigmenumkehr“ hinsichtlich der Streitkräfteplanung und der Ausrüstung durch die Industrie unvermeidlich. Der bisherige „Anspruch ‚Cost to Design‘ [werde] (…) völlig illusionsfrei durch die Realität des ‚Design to Cost’“[4] ersetzt, da der „mittelfristig höchste strategische Parameter, quasi als Conditio sine qua non, unter dem die Zukunft der Bundeswehr gestaltet werden“ müsse, die „Schuldenbremse“ bzw. das „Staatsziel der Haushaltskonsolidierung“[5] sei. Die Wochenzeitung „Die Zeit“ formulierte verständlich, was zu Guttenberg in seiner „Grundsatzrede“ gemeint haben dürfte. Es seien „alle bisherigen wehrpolitischen Grundsätze (dass nämlich, einfach ausgedrückt, die Armee das bekommt, was sie (…) braucht) über den Haufen [geworfen worden] (…) Sprich: Die Armee bekommt nur noch, wofür Geld da ist.“[6]
Auch wenn diese „Paradigmenumkehr“ Realität werden sollte, so steht keinesfalls fest, dass damit die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr beschnitten würde. Im Gegenteil teilt der Informationsdienst „Griephan“ mit, dass es lediglich bei der Rüstungsbeschaffung zu Schwerpunktverlagerungen kommen werde. Sprich: Projekte zur Landesverteidigung werden eingestampft, dafür wird die Bestellung der Ausrüstung für die Auslandseinsätze sichergestellt oder gar erweitert. Im Endeffekt könnte ein solcher Sparzwang zu kriegsführungsfähigeren Streitkräften als bisher führen. Die „Griphan“-Einschätzung unter der Überschrift „Kein Kahlschlag!“ im Original: „Klein, aber fein! Dies ist richtigerweise der Anspruch des Generalinspekteurs und der Inspekteure an die neue Bundeswehr. Die Matrix lautet: Einsatzrelevanz & Zukunftssicherung! Und dies hat zur Folge, dass man auf moderne Ausstattung und Gerät nicht verzichten kann. Diese Erkenntnis ist von Bedeutung, da die finanziellen Einschnitte nicht das Ende jeglicher neuen Beschaffung bedeuten. Es werden jedoch andere Schwerpunkte, mit geringerer Stückzahl gesetzt.“ Es bedeute lediglich: „Nice to have ist vorbei!“ [7]
Denkbar ist sogar, dass im Zuge der drastischen Einsparungen im Bundeshaushalt und der Betonung der daraus resultierenden leeren Kassen des BMVg eine solch grundlegende Reform der Bundeswehr überhaupt erst möglich bzw. durchsetzbar wird, da nur mit Verweis auf die Haushaltslage der Auftrag an die Strukturkommission erheblich erweitert werden konnte. Denn voraussichtlich hat das Argument des knappen Geldes einen gewichtigen Anteil an der Überwindung von sicherlich gravierenden (regional-) politischen und bundeswehrinternen Widerständen. Das Argument der Finanzierbarkeit könnte quasi als Hebel zur Verwirklichung der Reform der Bundeswehr gegen externe und interne Widerstände benutzt werden.
Während zu Guttenberg weiterhin vorgibt, die Bundeswehr müsse kräftig sparen, wurden Anfang Juli 2010 im Kabinettsentwurf für den Bundeshaushalt 2011 mehr Gelder als in diesem Jahr für den Verteidigungshaushalt (Einzelplan 14) eingeplant. Es handelt sich um eine Steigerung von rund 450 Mio. Euro gegenüber 2010 auf 31.549 Mrd. Euro. Das sind circa 1,4% mehr. Zum Vergleich: der Sozialetat soll um 7,9% gekürzt werden.[8] Dieser Entwurf ist ein klarer Widerspruch zu den Beschlüssen der Kabinettsklausur im Vormonat und stützt die These, dass das Sparargument nichts weiter als ein Hebel ist, der zur Durchsetzung der Bundeswehrreform benutzt wird, die wohl sonst in dieser Form nicht realisierbar sein wird.
Hinsichtlich der zu erwartenden Widerstände äußerte Hilmar Linnenkamp, Mitarbeiter der die Bundesregierung und den Bundestag beratenden „Stiftung Wissenschaft und Politik“ (SWP): „Dem Militär fällt es ganz schwer, etwas aufzugeben. Bei der Zusammenarbeit auf europäischer Ebene muss man sich auf andere verlassen – das fällt nicht jedem leicht. (…) Denn nun müssen die Strukturen tatsächlich radikal geändert werden. Das wird auch mit dem klaren Auftrag der Kanzlerin an den Verteidigungsminister deutlich. Die Landesverteidigung war immer noch Struktur bestimmend. Mit der deutlichen Truppenreduzierung muss komplett umgeplant werden. Das sehen manche als Gefahr, andere freuen sich über die erzwungene Öffnung der Streitkräfteplanung für neue Ideen.“[9]
Der ursprüngliche Auftrag der Strukturkommission
Im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP vom 26. Oktober 2009 wurde die Einsetzung einer Kommission angekündigt, die bis Ende 2010 „einen Vorschlag für Eckpunkte einer neuen Organisationsstruktur der Bundeswehr, inklusive der Straffung der Führungs- und Verwaltungsstrukturen“[10] erarbeiten sollte. Die sog. Strukturkommission wurde von zu Guttenberg am 12. April 2010 eingesetzt. Sie hatte ihre konstituierende Sitzung am 26. April 2010 und besteht aus sechs Mitgliedern. Den Vorsitz führt Frank-Jürgen Weise (Oberst der Reserve), der weiterhin das Amt des Vorsitzenden der Bundesagentur für Arbeit (BfA) ausüben wird.[11] Der BMVg-Homepage können die weiteren Mitglieder der Kommission entnommen werden, die überwiegend aus der Führungsetage privater und staatlicher Großorganisationen stammen: Hans-Heinrich Driftmann (Präsident der Deutschen Industrie- und Handelskammer, DIHK), Jürgen Kluge (ehemaliger Chef des deutschen Büros von McKinsey und heute Vorstandsvorsitzender der Duisburger Familienholding Haniel), Hedda von Wedel (ehemalige Präsidentin des Bundesrechnungshofs und heute stellvertretende Vorsitzende von Transparency International Deutschland), als einziger Politiker Hans-Ulrich Klose (SPD, Koordinator für die deutsch-amerikanischen Beziehungen der Bundesregierung) und als einziger Militär General Karl-Heinz Lather (Stabschef im NATO-Hauptquartier Europa).[12]
Bereits etwa drei Monate zuvor gab zu Guttenberg an sein Haus eine Defizitanalyse als Arbeitsgrundlage für die anstehende Kommission in Auftrag. Danach sollten Vorschläge zu einer effizienten und einsatzorientierten Spitzenstruktur des Bundesministeriums der Verteidigung, der Bundeswehr und der zivilen Verwaltung erarbeitet werden.[13] Offensichtlich war eine tief greifende Reform zu dieser Zeit nicht beabsichtigt. Hilmar Linnenkamp äußerte sich hinsichtlich des Auftrags der Kommission und des daher zu erwartenden Ergebnisses wenig hoffnungsvoll: „Der Ansatz dieser Kommission (…) ist zu eng. Es klingt nach einer innerministeriellen Machtneuverteilung und nach Verbesserungen in der Ablauforganisation. Das ist (…) ein zu enges Korsett.“[14]
Der Reformauftrag an das BMVg und die angeblich knappen Kassen
Am 19. März 2010 hat der Bundestag das Gesetz für den Bundeshaushalt 2010 verabschiedet. Der Verteidigungsetat umfasst danach dieses Jahr 31,11 Mrd. Euro und liegt damit in etwa auf dem Niveau des Vorjahres. Die Bundesregierung beschloss in der angesprochenen Haushaltsklausur sog. „Eckpunkte“ für die weitere Aufstellung des Haushaltsentwurfs 2011 und des Finanzplans bis 2014 (mittelfristiger Finanzplan). Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihr Vizekanzler, Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP), stellten daraufhin die Ergebnisse ihrer Klausur auf der Bundespressekonferenz vor: „Es müssen bis 2014 ungefähr 80 Milliarden Euro eingespart werden (…). Es gibt im Jahr 2011 eine Einsparnotwendigkeit in Höhe von 11,1 Milliarden Euro. Im Jahr 2012 sind es 17,1 Milliarden Euro, im Jahr 2013 25,7 Milliarden Euro und im Jahr 2014 32,4 Milliarden Euro.“[15]
Zu diesem Sparvorhaben soll die Verwaltung des BMVg Kürzungen von 0,6 Mrd. Euro für 2011, von 1,1 Mrd. Euro für 2012 und jeweils von 1,3 Mrd. Euro für die Jahre 2013 und 2014 hinnehmen. Die Streitkräftereform soll dann 2013 eine Milliarde Euro und 2014 drei Milliarden Euro beisteuern. Zusammengerechnet ergibt das eine Summe von 8,4 Mrd. Euro,[16] die auf das BMVg entfallen.
Unter Punkt 4 der „Eckpunkte“ mit der Überschrift „Anpassung der Bundeswehr an neue Anforderungen“ wird der Bundesverteidigungsminister in Zusammenarbeit mit der Strukturkommission von der Bundesregierung mit einem „zukunftsweisenden Strukturwandel“[17] für die Bundeswehr beauftragt. Danach soll bis Anfang September 2010 aufgezeigt werden, welche Folgen eine Reduzierung der Streitkräfte um bis zu 40.000 Berufs- und Zeitsoldaten für
(1) die sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit Deutschlands,
(2) die Einsatz- und Bündnisfähigkeit,
(3) die Beschaffung von Rüstungsgütern,
(4) die Strukturen und den Gesamtumfang der Bundeswehr,
(5) die Wehrform (Wehrpflicht) und ihre Ausgestaltung hätte und
(6) welche Einsparpotentiale durch eine bessere Arbeitsteilung im Bündnis (NATO) gewonnen werden könnten.
Angesichts dieser Auftragsinhalte dürfte es mehr als klar sein, dass es hierbei keineswegs ausschließlich um eine finanzbedingte Reduzierung der Kopfstärke der Bundeswehr geht. Hingegen findet eine völlig neue Ausplanung der Streitkräfte und ihrer Funktionen statt. Zusätzlich wurde in der Klausur beschlossen, an der Verabschiedung des Wehrrechtsänderungsgesetzes 2010 festzuhalten. Das bedeutet: die im Koalitionsvertrag vereinbarte Verkürzung der Wehrdienstzeit von neun auf sechs Monate zum 1. Januar 2011[18] wurde auf den 1. Juli 2010 vorgezogen.[19]
Gegenwärtig lässt der Generalinspekteur der Bundeswehr, Volker Wieker, den Planungsstab des BMVg vier Varianten der zukünftigen Bundeswehr, mit und ohne Aussetzung der Wehrpflicht, analysieren. Die Ergebnisse der Untersuchung werden dann im September 2010 zur Entscheidung der Bundesregierung vorgelegt. Aufgrund des dort gefällten Entschlusses soll ein „Realisierungsplan“[20] erarbeitet werden, nach dem schrittweise die Reform umgesetzt wird. Darin soll auch eine Überarbeitung der „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ (VPR) vom 21. Mai 2003 und der „Konzeption der Bundeswehr“ (KdB) vom 9. August 2004 enthalten sein.[21] Beide Papiere sind Grundsatzdokumente, welche die verbindliche konzeptionelle Grundlage für die deutsche Verteidigungspolitik und die Ausgestaltung der Bundeswehr bilden.
Vier Modelle einer künftigen Bundeswehr und die Aussetzung der Wehrpflicht
Derzeit werden laut „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ) für die neue Struktur der Streitkräfte vier Modelle durchgerechnet,[22] die sich zwischen der bislang noch aktuellen Gesamtstärke von knapp über 250.000 Soldaten und dem sog. „Rasenmähermodell“ von nur 150.000 Soldaten bewegen dürften. Nach Informationen von „Welt Online“ seien bei letzterer Möglichkeit für das Heer 47.000 Soldaten vorgesehen (derzeitige Stärke: 91.888), für die Luftwaffe 19.000 (heute: 42.212). Die Streitkräftebasis könnte demnach um zwei Drittel auf 26.000 Mann (heute: 72.685) schrumpfen, die Marine von 17.476 auf nur noch 9.000 Mann. Der Sanitätsdienst würde noch 11.000 Köpfe zählen (heute: 23.775). Zudem ist eine „Ausplanungsreserve“ von 5.000 Stellen angedacht.[23]
Die drei anderen Modelle der FAZ-Recherche gehen alle als Grundstock von den 150.000 Soldaten des „Rasenmäher-Modells“ aus, würden aber beim zweiten Modell etwa 25.000 Zeit- und Berufssoldaten hinzubekommen (als Gesamtumfang also circa 175.000 haben). Das dritte Modell geht von der vorgenannten Variante aus und würde zusätzlich noch eine zahlenmäßig unbestimmte Komponente an sog. Kurzzeitdienenden beherbergen. Damit würde eine neue Kategorie, neben den Wehrpflichtigen, den freiwillig länger dienenden Wehrpflichtigen (FWDL) und den Zeit- und Berufssoldaten, geschaffen werden. Schließlich würde das vierte Modell aus 180.000 Zeit- und Berufssoldaten bestehen und, als einziges der Modelle, eine feste Größe von 30.000 Wehrpflichtigen beinhalten. [24] Bei den drei anderen Modellen würde es wohl zu einer Aussetzung der Wehrpflicht kommen.
Ein internes BMVg-Papier beziffere die Einsparungen bei Aussetzung der Wehrpflicht nach Informationen des „Tagesspiegels“ auf 412 Mio. Euro pro Jahr.[25] Ihre Abschaffung, also die Streichung der entsprechenden Passagen aus dem Grundgesetz, wird nirgends erwogen. Sie soll, falls die Bundesregierung dies wieder als notwendig erachten sollte, jederzeit reaktivierbar sein. Aus friedenspolitischer Sicht betrachtet ist die Frage, ob die Wehrpflicht beibehalten wird oder nicht, für die Kriegsführungsfähigkeit der Bundeswehr in den Auslandseinsätzen irrelevant, da die Wehrpflichtigen nicht in diese Einsätze entsandt werden dürfen. Deshalb ergibt sich auch kein wirklich sinnvolles Plädoyer für die eine oder andere Variante bzw. es ist weder das eine noch das andere wünschenswerter. Davon abgesehen ist die Wehrpflicht ein Zwangsdienst. Aus diesem Grund macht eine Abschaffung natürlich Sinn.
Die Debatte über die Wehrpflicht wird höchst emotional geführt. Rational gesehen ist sie von kaum grundlegender Wichtigkeit, da die Bundeswehr de facto bereits eine Freiwilligenarmee ist. Der Anteil der Wehrpflichtigen ist marginal und betrug im Jahr 2009 bei einer Gesamtstärke von offiziell 252.500 Soldaten 37.000 (14,7%).[26] Im Fall einer Beibehaltung (siehe oben das vierte Modell) würden es 30.000 Wehrpflichtige bei insgesamt 210.000 Soldaten sein, was einem Anteil von knapp 14,3% entspräche. Eine Wehrgerechtigkeit existiert überhaupt nicht. Nur 15 Prozent werden eingezogen.[27] Die Bundeswehr werde zunehmend eine „Unterschichtenarmee“, wie Michael Wolffsohn, Professor an der Universität der Bundeswehr in München, feststellt. Sie sei zwar kein Staat im Staat, wie zu Zeiten der Weimarer Republik, dafür bilde sie aber „eine Gesellschaft in der Gesellschaft“ und weil „die Bundeswehr zukünftig eine Kampfarmee wird, braucht sie mehr ‚Militär- und Kämpfertypen.‘ (…) Dichter und Denker meiden, Rambos suchen das Militär.“[28] Das sind besorgniserregende Entwicklungen.
Die Wehrpflicht war ab Beendigung des Kalten Krieges sicherheitspolitisch nicht mehr notwendig. Daher muss sie bis heute vor der Öffentlichkeit sehr konstruiert gerechtfertigt werden. Dies deshalb, da sie für das BMVg hauptsächlich aus Gründen der Nachwuchsgewinnung erhebliche Bedeutung besitzt. Harald Kujat, Ex-Generalinspekteur der Bundeswehr und ehemaliger Vorsitzender des Nato-Militärausschusses, bestätigt dies: „Und die Wehrpflicht beschafft uns ja auch die intelligenten Soldaten. Wir können auswählen aus dem Pool der Wehrpflichtigen, die sich weiter verpflichten wollen, und wir haben bisher auch etwa 50 Prozent unseres Nachwuchses an Zeit- und Berufssoldaten aus den Wehrpflichtigen-Aufkommen bekommen.“[29] Trotzdem könnte die Wehrpflicht bald der Vergangenheit angehören. Letztendlich werden über diese Frage die bisherige vehemente Verteidigerin der Wehrpflicht, die CDU, auf ihrem Bundesparteitag in Karlsruhe vom 14.-16. November 2010, sowie ihre Schwesterpartei CSU, auf ihrem Landesparteitag in München am 29./30. Oktober 2010, entscheiden. Die Positionen der anderen Bundestagsparteien sind uneinheitlich. Die SPD befürwortet eine sog. Freiwilligenwehrpflicht,[30] die zuerst den Bedarf mit Wehrpflichtigen deckt, die freiwillig kommen wollen und dann den Rest mit Zwangsverpflichteten auffüllt. Die FDP, Die Grünen und die Linkspartei plädieren für die Aussetzung der Wehrpflicht.
Zusätzlich zu den vier vom BMVg zu prüfenden Vorschlägen brachte Elke Hoff, sicherheitspolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion, das Diskussionspapier „Bundeswehr der Zukunft“ ins Spiel, das etwas geringere Umfänge als die anderen Modelle vorsieht. Danach sei eine Absenkung der Streitkräfte um 50.000 auf einen Gesamtumfang von 200.000 Soldaten vorstellbar. Der Verteilungsschlüssel auf die Teilstreitkräfte könnte sich dabei nach ihrer Analyse wie folgt darstellen: Heer: 110.000, Luftwaffe: 30.000, Marine: 20.000, Streitkräftebasis/Zentraler Sanitätsdienst: 40.000. Da dieses Papier die Aussetzung der Wehrpflicht vertritt, sollen die zu erwartenden Nachwuchseinbußen, ebenso wie im dritten Modell, durch Kurzzeitdienende kompensiert werden. Diese sollen sich freiwillig für bis zu 24 Monate verpflichten können und auch in Auslandseinsätze geschickt werden dürfen. Dadurch würden sie den FWDLs durch ihre Verpflichtungsdauer und Auslandsverwendungsfähigkeit stark ähneln. Wie diese Kurzzeitdienenden rekrutiert werden sollen, wurde in dem Papier nicht erklärt. Außerdem soll für die Soldaten auf Zeit, die bislang maximal zwölf Jahre Dienst leisten können, die Möglichkeit geschaffen werden, sich auf bis zu 20 Jahre zu verpflichten.[31]
Der Informationsdienst „Griephan-Briefe“ mutmaßt, dass es unter den vorgegebenen Bedingungen der Bundesregierung zu einer Aussetzung der Wehrpflicht bei gleichzeitiger Verringerung der Zeit- und Berufssoldaten durch einen Einstellungsstopp und einen jährlichen Personalabbau in einer Größenordnung von 4.000 bis 5.000 Soldaten zu einer Marke knapp unterhalb eines Gesamtvolumens von 200.000 Soldaten kommen müsse. Allerdings hinterfragt der Dienst die Notwendigkeit eines tatsächlichen Abbaus aller 40.000 Dienstposten.[32]
Neue sicherheitspolitische Lage und Risiken nach der Finanzkrise
Oben wurde bereits dargelegt, dass mit der anstehenden Reform der Bundeswehr Absichten verfolgt werden, die ihren Ursprung keineswegs nur in knappen Finanzmitteln haben. Vielmehr ist diese Neugestaltung nach einer Äußerung des Bundesverteidigungsministers maßgeblich auf die sicherheitspolitischen Entwicklungen der vergangenen Jahre zurückzuführen: „Die Strukturen der Bundeswehr und auch ihr Auftrag legen Veränderungen nahe. Dabei spielen die knappen Finanzen auch eine wesentliche Rolle, aber der eigentliche Impuls für Reformen besteht nach wie vor in den außen- und sicherheitspolitischen Veränderungen.“[33]
Nach Ansicht von Kersten Lahl, Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS), ist damit die globale Machtverschiebung, insbesondere beschleunigt durch die sog. Wirtschaftskrise- und Finanzkrise seit dem Jahr 2007 gemeint, die zuungunsten des Westens (NATO) einschneidende Auswirkungen auf das weltweite Krisenmanagement haben werde. Er stellt dabei Folgendes fest: „Erstens: Die Krise führt zu durchgreifenden Verschiebungen im globalen Kräfteverhältnis. Alle sind zunächst Verlierer, aber einige verlieren eben weniger und werden daher zu Lasten der ‚Krisenverursacher‘ USA und Europa gestärkt – in erster Linie China mit seinen unermesslichen Reserven und damit Handlungsoptionen. Zweitens: Hauptverlierer werden die sein, die ohnehin schon Sorgen bereiten, also die ärmeren Entwicklungsländer. Sie können dem härteren Wettbewerb kaum standhalten, zumal ihre Einnahmequellen weiter austrocknen. Die drohende Folge sind dramatische Verteilungskämpfe, Zuwachs der Organisierten Kriminalität und Staatszerfall. Die Stichworte Terrorismus, Piraterie oder unkontrollierte Migration zeigen, wie das auch uns direkt betrifft. Drittens: Willen und Fähigkeit der nationalen Regierungen und internationalen Organisationen, präventiv in Konfliktvorsorge zu investieren, nehmen angesichts hoher Staatsverschuldung und knapper Kassen ab. Das betrifft die Streitkräfte und die Polizei, aber auch die Entwicklungshilfe.“[34]
Zum selben Ergebnis, dass kurz gesagt die NATO-Staaten pleite sind und ihre militärischen Möglichkeiten abnehmen werden, kommt auch das „Handelsblatt“, das konstatiert: „Aus, vorbei. Das Bündnis muss kürzertreten und seine hochfliegenden Pläne begraben. Den 28 Alliierten geht das Geld aus; die Finanz-und Schuldenkrise macht tiefe Einschnitte ins Militärbudget nötig. (…) Künftig wird es nicht mehr möglich sein, dass die USA ihre Alliierten in die entlegensten Winkel der Welt schicken. Einen zweiten Afghanistan-Einsatz wird es nicht geben, heißt es schon jetzt im Brüsseler Nato-Hauptquartier. Künftig wird es auch nicht mehr möglich sein, dass jeder alles macht. Die Krise schreit nach größerer Arbeitsteilung. Jedes Land muss sich auf das beschränken, was es am besten kann.“[35]
Elke Hoff zieht in ihrem oben erwähnten Papier die Schlussfolgerung – was einer Zäsur gleichkommt[36] -, dass das derzeitige intensive militärische Engagement der NATO und der EU und die deutsche Beteiligung daran in dieser Form nicht mehr länger aufrechterhalten werden könne: „Breit angelegte und auf Jahre hin ausgerichtete internationale Stabilisierungseinsätze – wie auf dem Balkan, im Irak oder in Afghanistan – können in dieser Form nicht die Einsätze der Zukunft sein. Dazu sind wir selbst und unsere Partner in der NATO und in der EU finanziell und strukturell dauerhaft nicht in der Lage.“[37] Unter dem Zwang fehlender finanzieller Ressourcen für umfassende militärische Stabilisierungseinsätze würden hochmobile und flexibel einsetzbare Spezialkräfte, strategische Aufklärung und die Nachrichtendienste sowie zivile Regierungs- und Nicht-Regierungsorganisationen in Zukunft eine weit wichtigere Rolle in der Konfliktverhütung und –bewältigung spielen müssen als bisher. Spezialkräfte müssten zukünftig auch auf strategischer Ebene eingesetzt werden können, um weiterem Staatszerfall vorzubeugen.[38] Was sie sich genau darunter vorstellt, Spezialkräfte auf strategischer Ebene einzusetzen, ließ die FDP-Sprecherin ungeklärt.
Die diagnostizierten Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise haben bereits Auswirkungen auf die anstehende Streitkräfteplanung. In das „Leitlinien“-Papier des BMVg wurden als Risiken bzw. Trends, welche neu die Sicherheit Deutschlands bedrohen würden und die bei der Neuplanung der Bundeswehr berücksichtigt werden müssten, Folgendes aufgenommen: (1) „der Aufstieg neuer staatlicher Akteure, die über wachsendes politisches und ökonomisches Gewicht auch unsere Werte, Normen und Interessen herausfordern werden“; und (2) „die Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise, die noch anhalten und die Möglichkeiten der westlichen Welt zur globalen Ordnungspolitik einschränken werden.“[39] Bisher wurden als Bedrohungen, die den Einsatz der Streitkräfte erfordern würden, der internationale Terrorismus, die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und ihrer Trägermittel, regionale Konflikte und fragile Staaten („failed states“) sowie die organisierte Kriminalität, angeführt.[40] Nun tritt als vom BMVg identifiziertes Risiko für die Sicherheit Deutschlands die Konkurrenz zu China hinzu. Vermutlich sind mit der Formulierung sogar auch Indien, Brasilien und Russland mitgemeint. Diese Analyse dürfte die internationalen Beziehungen künftig deutlich konfrontativer gestalten.
Interessen und Kriegslegitimationen
Rainer Arnold, verteidigungspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, fasste resümierend in einem Drei-Säulen-Modell zusammen, aus welchen Gründen bislang deutsche Soldaten in Auslandseinsätze entsandt wurden: „Vielmehr müssen wir den Fokus auf eine umfassende Legitimation von Auslandseinsätzen legen. Vergegenwärtigen wir uns die Maßstäbe, nach denen bisher entschieden wurde, fallen in jedem Fall dieselben drei Säulen auf: Die erste Säule ist die ethische Verantwortung. (…) Allerdings wurden manchmal die Einsätze der Bundeswehr auch moralisch überhöht begründet, wohl um leichter eine gesellschaftliche Akzeptanz zu erreichen. Die zweite Säule ist die Frage von Interessen. Da kein Land heute allein für seine Sicherheit garantieren kann, funktioniert dies nur in Bündnissen. (…) Im Zusammenhang mit diesen Stabilitätsinteressen dürfen durchaus auch wirtschaftliche Interessen angesprochen werden. Um Missverständnisse zu vermeiden, muss aber deutlich werden, dass es nicht um die Durchsetzung von Rohstoffinteressen mit Waffengewalt geht: So ist zum Beispiel die Stabilität im Kongo eine Voraussetzung dafür, dass die deutsche Wirtschaft dort fairen Handel treiben kann, der letztlich uns und den Menschen im Kongo hilft und verhindert, dass Kriminelle das Land weiter ausbeuten [sic!]. Die dritte Säule schließlich kommt häufig zu kurz: Es geht auch um politisches Gewicht, das unser Land durch die Einsätze gewinnt. (…) Ich halte es für richtig, dass wir uns auch offen zu diesen politischen Interessen bekennen. Unser Land ist ein Schwergewicht in Europa und muss den Anspruch haben, bei internationalen Abstimmungsprozessen mit am Tisch zu sitzen, Entscheidungen mitzugestalten und damit auch die internationalen Organisationen zu stärken. Diese drei Säulen ändern je nach Situation ihre Bedeutung.“[41]
Vieles spricht dafür, dass das gegenwärtig vordringlichste Interesse der Bundesregierung am Einsatz der Bundeswehr, vor allem im Rahmen der „International Security Assistance Force“ (ISAF) in Afghanistan, der mit circa Zweidritteln aller im Ausland eingesetzten deutschen Soldaten den absoluten Schwerpunkt bildet, darin besteht, der USA in ihrer aktuellen globalen Ordnungspolitik beizustehen. Da es in der Wahrnehmung des Präsidenten des BAKS, Kersten Lahl, spätestens mit der Wirtschafts- und Finanzkrise offensichtlich wurde, dass die ökonomische und politische Vorrangstellung des Westens und seine Durchsetzungsfähigkeit erodiert, ist es für ihn zwingend, die NATO als Instrument gegen die Ansprüche der aufstrebenden Staaten zu erhalten. Aus diesem Grund ist die vorbehaltlose Unterstützung des ISAF-Einsatzes durch die Bundesregierung, der wie auf dem Afghanistangipfel in London am 28. Januar 2010 beschlossen wurde, zu einer „Übergabe in Verantwortung“ führen soll, verständlich, obwohl für jeden objektiven Beobachter der Anspruch in Afghanistan Statebuilding zum Wohle der dort lebenden Menschen zu betreiben, offensichtlich hoffnungslos gescheitert ist.[42]
Hierzu Kersten Lahl: “Ob wir es wollen oder nicht: Mit Erfolg oder Misserfolg am Hindukusch sind starke Signale verbunden, die weit über Afghanistan hinausreichen. (…) Aber es geht um noch mehr. Der Afghanistaneinsatz hat sich (…) zu einem ernsten Test für die innere Kohäsion und damit auch die Kraft der nordatlantischen Allianz entwickelt. (…) Konkret heißt das: Wenn Präsident Obama mit einer gewaltigen Anstrengung der USA den NATO-Einsatz in Afghanistan zu einem erfolgreichen Ende führen möchte, dann ist es nur klug, ihn mit einem angemessenen Beitrag zu unterstützen. Geschähe das nicht, gefährden wir nicht nur die von uns sehnlich gewünschte neue US-Außenpolitik, sondern untergrüben auch unweigerlich die Relevanz des nordatlantischen Bündnisses. Dies können wir uns mit Blick auf die Verschiebungen in der globalen Kräfteordnung und auf die künftigen Risiken nicht leisten.“[43]
Heute ist es in der Wahrnehmung der politisch Verantwortlichen nicht mehr zwingend notwendig, zur Begründung von Einsatzentscheidungen auf humanitäre Aspekte zurückzugreifen. Hierin scheint sich ein Wandel vollzogen zu haben. Zumindest konstatiert Regierungsrat Thomas Osika in seinem Beitrag in der Monatszeitschrift „Europäische Sicherheit“ für die deutsche Beteiligung an der EU-Operation „Atalanta“, dass eine humanitär begründete Entscheidung zum Streitkräfteeinsatz, anders als früher, heute nicht mehr vorgenommen zu werden brauche. “Vor diesem Hintergrund [fehlende humanitäre Begründung – Anm. M.H.] stellt sich die Frage, ob die Politik vor zehn Jahren, als die Zustimmung zu Auslandseinsätzen noch wesentlich geringer war, auf die Vermittlung der humanitären Komponente nicht wesentlich mehr Wert gelegt hätte. Die Zurückhaltung ist offensichtlich auch ein Indiz dafür, dass man es nicht mehr für notwendig hält, die Öffentlichkeit mit Mitleid erregenden Bildern und ähnlichem von der Sinn- und Zweckmäßigkeit eines militärischen Einsatzes zu überzeugen.“[44]
Weiterhin vertritt der Autor die Meinung, dass der Einsatz der Bundeswehr im Rahmen von NATO- und EU-Operationen für die Bundesregierung zur Wahrnehmung ihrer Interessen zunehmend zu einem normalen Mittel der Politik geworden sei und dies auch von der Öffentlichkeit zwischenzeitlich akzeptiert werde: „Während in früheren Einsätzen in erster Linie humanitäre Gründe für ein Eingreifen herangezogen wurden, scheint man nun den Schutz deutscher Rechtsgüter in den Vordergrund zu stellen. Um diesen Schutz zu gewährleisten, sind deutsche Regierung und Öffentlichkeit offensichtlich vermehrt bereit, den Einsatz von Gewalt als legitimes Mittel der Politik zu akzeptieren. Die Betonung deutscher Interessen und die vermeintliche Abkehr von der lange gepflegten ‚Scheckbuchdiplomatie‘ könnten auf einen Kurswechsel in der deutschen Außenpolitik hindeuten.“[45]
Der Aufbau der Streitkräfte zur Aufstandsbekämpfung
Sogar noch beschönigend, da durch die Bundeswehr nicht nur nichts verbessert wurde, sondern sie einen Anteil an der Verschlechterung der Situation für die Menschen in Afghanistan trägt, beschrieb Michael Wolffsohn das bisherige Ergebnis des deutschen Afghanistaneinsatzes: “Die jahrelange Präsenz der Bundeswehr hat weder die Sicherheit noch die politischen Rahmenbedingungen oder den Kampf gegen den Opiumanbau in Afghanistan verbessert.“[46] Trotz der Erkenntnis, dass die nunmehr bald neunjährige Beteiligung der Bundeswehr an ISAF, gemessen an ihren eigenen Ansprüchen, versagt hat, wurde mit dem am 26. Februar 2010 verabschiedeten ISAF-Bundestagsmandat die mögliche Anzahl der einzusetzenden Soldaten um 850 auf 5.350 erhöht und ihre Aufgabenstellung wurde um das vorher schon von anderen NATO-Staaten praktizierte Konzept des „Partnering“ erweitert. Das bedeutet, dass im Rahmen der US-geführten Militäroffensiven die deutschen Soldaten die afghanische Nationalarmee (ANA) im Einsatz ausbilden und auch mit ihr gemeinsam Operationen gegen die Aufständischen durchführen werden. In der Operation „Adler“ Mitte 2009 hatte die Bundeswehr dieses Konzept schon einmal angewandt. Nun soll es zur Hauptaufgabe des deutschen ISAF-Kontingents werden. Dazu werden derzeit die deutschen Truppen in Nordafghanistan in zwei Ausbildungs- und Schutzbataillone umgegliedert, die bis Oktober 2010 vollständig einsatzbereit sein sollen. Die Tageszeitung „Die Welt“ zitierte den Sprecher der Infanterieschule des Heeres im fränkischen Hammelburg, wo die deutschen Einheiten für Afghanistan derzeit vorbereitet werden, welchen Inhalt ihre Tätigkeit in Folge des „Partnering“ präzise hat: „Die Soldaten werden den Feind suchen und vernichten. Genau darum wird es gehen.“ Ein Übungsleiter wurde im selben Artikel ergänzend wiedergegeben: „Die Jungs sind auch hier, um das Sterben zu lernen.“[47]
Die Umsetzung des „Partnering“-Konzepts könnte der Beginn eines Wandels für die Bundeswehr bedeuten. Aus Streitkräften zur sog. Stabilisierung, die primär defensiv ausgerichtet sind und hauptsächlich der Absicherung und Unterstützung von Statebuilding-Maßnahmen dienen, könnte im Rahmen der Bundeswehrreform und durch das weitere Eskalieren des Kriegs in Afghanistan eine „Kampfarmee“[48] zur offensiven Niederschlagung von Aufständischen entstehen. Karl-Theodor zu Guttenberg legte in seiner „Grundsatzrede“ eben diese Vorstellung der zukünftigen Bundeswehr dar: „Für die Zukunft benötigen wir Kräfte, die strukturell über die Fähigkeiten zum Kampf im hochintensiven Gefecht verfügen.“[49] Und weiter: „Der Soldat schützt, vermittelt, hilft und rettet, und er muss kämpfen können. (…) Die Zeiten sind jedoch vorbei, als das Ausbildungsziel hieß, ‚kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen‘.“[50] Klar ist auch, dass dieser Rollenwandel zu vermehrten Verlusten unter den Soldaten führen wird, und diese Tatsache müsse, wie der Verteidigungsminister in derselben Rede klarstellte, auch von der Gesellschaft akzeptiert werden: „Die Bundeswehr ist heute eine Armee im Einsatz. (…) Der Einsatz und der Kampf rücken stärker in den Mittelpunkt – auch der Betrachter. Dafür müssen wir als Streitkräfte, aber insbesondere auch als Gesellschaft, insbesondere da, neben Einsatzbereitschaft auch eine gewisse – und ich bitte, den Begriff nicht misszuverstehen – Opferbereitschaft aufbringen. Ein Begriff, der viele in der Öffentlichkeit zu erschrecken und aufzuwühlen vermag. (…) Doch eine Gesellschaft, die generell und auch außerhalb der Streitkräfte und des Militärischen nicht mehr bereit ist, Opfer zu bringen, deren Abstieg wird unabwendbar sein [sic!].“[51]
In der „Grundsatzrede“ wurde weiterhin festgestellt, dass der bislang erreichte Stand der Transformation der Bundeswehr in eine Einsatzarmee hinter den gesteckten Zielen und Erwartungen zurückgeblieben sei. „Die Vergangenheit hat gezeigt, dass die derzeitige nationale Zielvorgabe, der sogenannte ‚Level of Ambition‘, weder personell noch materiell erreicht werden konnte. Bis zu 14.000 Soldatinnen und Soldaten von insgesamt 70.000 Stabilisierungskräften sind konzeptionell für ‚zeitlich abgestufte gleichzeitige Einsätze‘ vorgesehen, abgestuft auf bis zu fünf Operationsgebiete. Doch bereits ca. 8.000 Soldatinnen und Soldaten im Einsatz, die zudem auch noch aus dem 35.000 Mann starken Eingreifkräftedispositiv ergänzt werden, führen uns heute an die Grenze der Durchhaltefähigkeit. (…) Ohne die Ergänzung durch Eingreifkräfte wären weder die personellen Umfänge noch die benötigten Fähigkeiten realisierbar gewesen. (…) Mit den bisherigen Strukturen und einigen Verfahren – das ist mein klarer Befund – werden wir die Leistungsfähigkeit unserer Bundeswehr auf Dauer schwerlich sicherstellen können.“[52] Beispielsweise sind die in etwa gleich großen Armeen Frankreichs und Großbritanniens in der Lage, circa doppelt so viele Truppen in Kampfeinsätze zu entsenden. Dies liegt daran, dass die Bundeswehr bis heute noch bildlich gesprochen auf zwei Stühlen sitzt. Nämlich einmal hält sie Kräfte für den Auslandseinsatz vor, gleichzeitig bestehen aber Strukturen der Landesverteidigung wie zu Zeiten des Kalten Kriegs.[53] Diese Dichotomie soll nun nach zu Guttenberg durch die Bundeswehrreform gänzlich zu Lasten von Letzterem aufgehoben werden. Zugleich bedeutet dies die endgültige Abwicklung des grundgesetzlichen Auftrags der Verteidigung.
Verlust der parlamentarischen Kontrolle
Da es angesichts der Beteiligung der Bundeswehr am „Partnering“ und den angekündigten NATO-Militäroffensiven absehbar ist, dass es zu vermehrten Verlusten unter den deutschen Truppen wie auch der afghanischen Zivilbevölkerung kommen wird, dürfte das Scheitern dieser Mission immer offensichtlicher werden. Deshalb befürchten die politisch Verantwortlichen, dass auch im Bundestag die Unterstützung für den ISAF-Einsatz und auch für ähnliche, zukünftige Einsätze schwinden könnte. Die Öffentlichkeit steht dem deutschen Afghanistaneinsatz ohnehin seit geraumer Zeit klar ablehnend gegenüber. Ein Artikel der SWP stellt diese Entwicklung treffend heraus: „Internationales Statebuilding steckt gegenwärtig in einer schweren Legitimitätskrise (…) dies [hängt] vor allem mit der geringen Wirksamkeit breit angelegter Staatsaufbaumissionen zusammen (Afghanistan, Bosnien-Herzegowina, Kosovo). Das aktuelle Friedensgutachten 2010 der fünf führenden deutschen Friedensforschungsinstitute beurteilt den Erfolg des Engagements der Staatengemeinschaft in Afghanistan daher pointiert so: ‚Die bisherige Afghanistanpolitik ist gescheitert.‘ (…) Für die an Statebuilding beteiligten Regierungen wird die Aufrechterhaltung ihres Engagements innenpolitisch also riskanter. Politiker und Parteien reagieren mit wachsender Distanzierung auf die zunehmenden Zweifel der Öffentlichkeit an der Durchführbarkeit der Einsätze.“ [54]
Diese Einschätzung einer künftigen Entwicklung, die für die Befürworter militärischer Interventionen in Bundesregierung und Parlament äußerst hinderlich werden könnte, teilt auch zu Guttenberg: „Die laufenden Einsätze sind nicht alleiniger Maßstab für die künftigen Anforderungen, vor allem dann nicht, wenn man davon ausgeht, dass aufgrund der Erfahrungen insbesondere in Afghanistan, die politischen Hürden für die Mandatierung vergleichbarer Einsätze von Streitkräften mit nachfolgendem langanhaltenden kostenträchtigen und zugleich risikoreichen Stabilisierungsoperationen künftig deutlich höher liegen können.“[55]
Aus diesem Grund kündigte die Regierungskoalition in ihrem Koalitionsvertrag Folgendes an: „Soweit mit den Regelungen des Parlamentsbeteiligungsgesetzes eine jeweils zeitnahe und ausreichende Information des Parlaments in besonderen Fällen durch die Bundesregierung nicht sichergestellt werden kann, legen die Koalitionsfraktionen Initiativen zur Änderung des Parlamentsbeteiligungsgesetzes oder zur Schaffung eines Vertrauensgremiums vor.“[56] Als das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1994 bedauerlicherweise die Vereinbarkeit von Auslandseinsätzen mit der Verfassung festlegte, bestimmte es im selben Urteil zumindest auch, dass die Bundeswehr eine „Parlamentsarmee“ sei und der Bundestag, nicht die Exekutive, vor der Entsendung bewaffneter Streitkräfte seine konstitutive Zustimmung zu erteilen habe. Das sog. Parlamentsbeteiligungsgesetz vom 18. März 2005 konkretisiert im Prinzip dieses parlamentarische Kontrollrecht. Die Vornahme von Änderungen dieses Gesetzes zur Einschränkung der exekutiven Informationspflicht oder gar die Etablierung eines „Vertrauensgremiums“, mutmaßlich aus den Obleuten der Bundestagsfraktionen bestehend, anstelle der bisherigen Gesamtverantwortung des Bundestags, würde de facto die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts umgehen und die Bundeswehr zu einer Armee der Exekutive machen, die nahezu bar jeglicher parlamentarischen Kontrolle agieren würde.
Anmerkungen:
[1] Zu Guttenberg, Karl-Theodor: Gewaltige Kraftanstrengung, in: Bundeswehr aktuell, Nr.24, 46. Jahrgang, 21. Juni 2010, S.1.
[2] Bundesministerium der Verteidigung: Leitlinien zur Ausplanung der neuen Bundeswehr, 30. Juni 2010, in: http://www.bmvg.de (02.07.2010), S.1.
[3] Zu Guttenberg, Karl-Theodor: Grundsatzrede anlässlich des Besuchs der Führungsakademie der Bundeswehr und der Kommandeurtagung der Streitkräftebasis am 26. Mai 2010 in Hamburg, in: http://www.bmvg.de, (20.07.2010), S.17.
[4] Zu Guttenberg: Grundsatzrede, ebd., S.29.
[5] Zu Guttenberg: Grundsatzrede, ebd., S.29.
[6] Gaschke, Susanne: Antreten zum Sparen, in: http://www.zeit.de, 20. Juni 2010 (24.06.2010).
[7] Griephan Briefe, 25/10, Hamburg, 21. Juni 2010, S.1.
[8] Vgl. Haydt, Claudia: Bundeswehr-Sparpaket als Mogelpackung!, IMI-Standpunkt 2010/25, in: https://www.imi-online.de (12.07.2010).
[9] Linnenkamp, Hilmar: Interview, 11. Juni 2010, in: http://www.zeit.de (12.06.2010).
[10] Vgl. CDU/CSU-FDP: Koalitionsvertrag – Wachstum, Bildung, Zusammenhalt, Berlin, 26. Oktober 2009, S.124.
[11] Vgl. zu Guttenberg, Karl-Theodor: Tagesbefehl zur Einsetzung der Strukturkommission, Bundesministerium der Verteidigung, Berlin, 12. April 2010, in: http://www.bmvg.de (12.06.2010).
[12] Vgl. zu Guttenberg hat Strukturkommission eingesetzt, Berlin, 12. April 2010, in: http://www.bmvg.de (12.06.2010).
[13] Vgl. zu Guttenberg, Karl-Theodor: Rede im Deutschen Bundestag zur Generaldebatte über den Bundeshaushalt 2010, Berlin, 20. Januar 2010, in: http://www.bmvg.de (10.06.2010).
[14] Linnenkamp, Hilmar, zitiert nach: Nassauer, Otfried: Die geplante Strukturkommission – Chance für eine zukunftsorientierte Bundeswehr?, NDR-Reihe „Streitkräfte und Strategien“, 16. Januar 2010, in: http://www.ndrinfo.de (10.06.2010).
[15] Merkel, Angela/ Westerwelle, Guido: Bundespressekonferenz zu den Ergebnissen der Kabinettsklausur vom 6./7. Juni 2010, Berlin, 7. Juni 2010, in: http://www.bundesregierung.de (12.06.2010).
[16] Vgl. Überblick der Regierung über die Sparbeschlüsse, in: http://www.bundesregierung.de (17.06.2010).
[17] Merkel, Angela, zitiert nach: Kramer, Sarah/ Scholz, Sebastian: Wehrpflicht vor der Musterung, 12. Juni 2010, in: http://www.tagesspiegel.de (12.06.2010).
[18] Vgl. CDU/CSU-FDP: Koalitionsvertrag, ebd., S.125.
[19] Beschluss der Bundesregierung: Die Grundpfeiler unserer Zukunft stärken – Acht Punkte für solide Finanzen, neues Wachstum und Beschäftigung und Vorfahrt für die Bildung, Berlin, 7. Juni 2010, in: http://www.bundesregierung.de (10.06.2010), S.4 ff.
[20] Vgl. Bundesministerium der Verteidigung: Leitlinien, ebd.,S.8.
[21] Vgl. Bundesministerium der Verteidigung: Verteidigungspolitische Richtlinien, Berlin, 21. Mai 2003; Bundesministerium der Verteidigung: Grundzüge der Konzeption der Bundeswehr, Berlin, 9. August 2004.
[22] Vgl. Löwenstein, Stephan: Eine veränderte Organisation?, in: http://www.faz.net, 10. Juli 2010 (10.07.2010).
[23] Vgl. Jungholt. T./ Sturm, D.: Die Bundeswehr will 100.000 Stellen kürzen, in: http://www.welt.de, 22. Juni 2010 (22.06.2010).
[24] Vgl. Löwenstein, ebd.
[25] Kramer, Sarah/ Scholz, Sebastian: Wehrpflicht vor der Musterung, 12. Juni 2010, in: http://www.tagesspiegel.de (12.06.2010).
[26] Vgl. Apt, Wenke: Demographischer Wandel als Rekrutierungsproblem? SWP-Aktuell 41, Mai 2010, S.1.
[27] Vgl. Müßgens, Christian: Streit um die Armee eskaliert, in: Handelsblatt Nr.109 vom 10. Juni 2010, S.14.
[28] Wolffsohn, Michael: Die Bundeswehr ist eine Unterschichtenarmee, in: http://www.welt.de, 21. August 2009 (20.06.2010).
[29] Kujat, Harald: Interview “Was sind unsere nationalen Sicherheitsinteressen?“, 11. Juni 2010, in: http://www.dradio.de, (12.06.2010).
[30] Vgl. Arnold, Rainer: Das Wehrdienstmodell der SPD, http://www.rainer-arnold.de/pdf/spd_wehrdienstmodell.pdf (16.07.2010), S.4 f.
[31] Vgl. Hoff, Elke: Bundeswehr der Zukunft, zitiert nach: Griephan Briefe, 24/10, Hamburg, 14. Juni 2010, S.2 ff.
[32] Griephan Briefe, 24/10, Hamburg, 14. Juni 2010, S.1 f.
[33] Zu Guttenberg, Karl-Theodor: Interview mit Goffart, Daniel und Steingart, Gabor, in: http://www.handelsblatt.com, 24. Juni 2010 (29.06.2010).
[34] Lahl, Kersten: Noch kein Nachruf auf „die Krise“!, in: Griephan Global Security, 3+4/2009, S.49.
[35] Heilsamer Sparzwang, in: Handelsblatt Nr.107 vom 8. Juni 2010, in: http://www.handelsblatt.com (26.06.2010), S.9.
[36] Der Entwurf für die neue NATO-Strategie, die Ende 2010 verabschiedet werden soll, geht allerdings davon aus, dass in Zukunft Stabilisierungseinsätzen wie in Afghanistan nicht auszuschließen seien: „Angesichts des komplexen und unvorhersagbaren Sicherheitsklimas, das höchstwahrscheinlich in den nächsten Jahrzehnten vorherrschen wird, ist es unmöglich, eine NATO-Teilnahme an ähnlichen (hoffentlich weniger ausufernden) Stabilisierungseinsätzen auszuschließen“, NATO 2020: Assured Security; Dynamic Engagement, May 17, 2010: http://www.nato.int/strategic-concept/expertsreport.pdf, S.32.
[37] Hoff, Elke: Bundeswehr der Zukunft, zitiert nach: Griephan Briefe, 24/10, Hamburg, 14. Juni 2010, S.2 ff.; dies.: Deutschlands Sicherheit verantwortungsvoll gestalten, in: Strategie&Technik, Juni 2010, S.8-11, S.9.
[38] Hoff, in: Griephan Briefe, ebd., S. 2 ff.; ders., in: Strategie&Technik, ebd., S.9.
[39] Bundesministerium der Verteidigung: Leitlinien, ebd., S.1.
[40] Vgl. Lahl, Kersten: Konfliktpotentiale in der Zukunft, in: http://www.baks.bund.de (12.07.2010), S.2 f.
[41] Arnold, Rainer: Zur Legitimation deutscher Auslandseinsätze. Sicherheitspolitik auf drei Säulen, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 13. September 2006, in: http://www.rainer-arnold.de/pms/auslandseinsatz.htm (16.06.2010).
[42] Vgl. Haid, Michael: Showveranstaltung: Zur Londoner Afghanistan-Konferenz, in: IMI-Ausdruck, Februar 2010, S.19-20.
[43] Lahl, Kersten: Drei nüchterne Gründe, in: zur Sache Baden-Württemberg, Nr.17/2010, S.20-21, S.21, in: http://www.baks.org (06.07.2010).
[44] Osika, Thomas: Deutschland und die Bekämpfung der Seepiraterie. Indiz für eine stärkere Betonung nationaler Interessen in der deutschen Außenpolitik?, in: Europäische Sicherheit, Juni 2010, S.46-49, S.47.
[45] Osika, ebd., S.46.
[46] Wolffsohn, ebd.
[47] Wolff, Mathias: „Die Jungs sind auch hier, um das Sterben zu lernen“, in: http://www.welt.de, 16. Juni 2010 (20.06.2010).
[48] Wolffsohn, ebd.
[49] zu Guttenberg: Grundsatzrede, ebd., S.21.
[50] zu Guttenberg: Grundsatzrede, ebd., S.4.
[51] zu Guttenberg: Grundsatzrede, ebd., S.11 f.
[52] zu Guttenberg: Grundsatzrede, ebd., S.13 f.
[53] Bundesministerium der Verteidigung: Weißbuch 2006. Zur Sicherheit Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr, Berlin, 25. Oktober 2006, S.67.
[54] Brozus, Lars: Statebuilding in der Legitimitätskrise: Alternativen sind gefragt, SWP-Aktuell 52, Juni 2010, S.1 f.
[55] Bundesministerium der Verteidigung: Leitlinien, S.2.
[56] CDU/CSU-FDP: Koalitionsvertrag, ebd., S.125.