IMI-Standpunkt 2009/034
Warum ich den EU-Reformvertrag von Lissabon ablehne
von: Uwe Reinecke (Beirat der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.) | Veröffentlicht am: 1. Juni 2009
Laut AFP-Meldung vom 29. Mai will das Bundesverfassungsgericht am 30. Juni 2009 über die Klage gegen den Vertrag von Lissabon entscheiden. Aus diesem Anlass hat IMI-Beirat Uwe Reinecke hier noch einmal Gründe für die Ablehnung des Vertrages zusammengetragen. Siehe außerdem auch den Fyler zum Vertrag von Lissabon: https://www.imi-online.de/download/euflyer2008-irland.pdf und die IMI-Sonderseite zur Militarisierung der Europäischen Union: https://www.imi-online.de/eu-projekt/
Ich befürworte die EU und den Euro. Ich befürworte auch, dass sich die EU weiter entwickeln soll (sowohl organisatorisch als auch geografisch, einschließlich einer sehr baldigen Aufnahme der Türkei). Daher ist es an der Zeit, eine EU-Verfassung zu erstellen (ob „EU-Verfassung“ oder „EU-Reformvertrag von Lissabon“ als Name ist mir gleichgültig). Der jetzt noch gültige Vertrag von Nizza ist schlecht und nicht (mehr) praktikabel. Ein neuer EU-Vertrag muss demokratisch und zivil sein. Der Lissabon-Vertrag erfüllt diese Grundsätze nicht. Ich lehne daher speziell diesen EU-Vertrag von Lissabon ab.
Mehrere Gründe sprechen meiner Meinung nach gegen diesen Vertrag:
a) Dieser Vertrag ist handwerklich schlecht gemacht:
a.1 Die Charta der Grundrechte der EU (EUCh) hätte als integraler Bestandteil an den Anfang des Vertrages gehört.
a.2 Der Vertrag besteht aus zwei Verträgen (EUV und AEUV) und hat insgesamt viel zu viele (467) und textlich viel zu lange Artikel sowie völlig überflüssige Anhänge (2), Erklärungen (65) und Protokolle (37) der EU-Regierungschefs. Widersprüche zu Artikeln des Vertrages sind inbegriffen. Besonders krass widersprechen die „Erläuterungen zur Charta der Grundrechte“ dem Art. 2,2 EUCh (Verbot der Todesstrafe), denn für die Aufstands-bekämpfung und für den Kriegsfall kann dieses Verbot ausgesetzt werden.
a.3 Nicht wenige Artikel im AEUV beziehen sich inhaltlich auf Artikel im EUV, gegenseitige Verweise auf die Artikel fehlen aber teilweise und inhaltliche Widersprüche finden sich auch.
a.4 Der vorliegende Vertragstext entspricht zu etwa 95% dem Text der gescheiterten EU-Verfassung. Die textgleichen Artikel haben mehrfach die Nummerierung gewechselt, so dass eine demokratische Kontrolle und Transparenz absichtlich erschwert wurden.
b) Er ist ohne europäische Vision:
b.1 Immer dann, wenn sich die Regierungschefs nicht einigen konnten, ist festgeschrieben, dass es bei den nationalen Lösungen bleibt (Beispiel: Zivildienstdauer, Art. 10,2 EUCh).
b.2 Die Erklärungen und Zusatzprotokolle postulieren nationale Sonderregelungen und widersprechen damit der Idee einer EU-weiten gemeinsamen Übereinkunft.
c) Er macht militärische und undemokratische Festlegungen:
c.1 Es werden zwei verfassungsrechtliche Weltneuheiten verankert und die EU wird militarisiert:
c.1.1 Die Aufrüstungsverpflichtung (Art. 42,3 EUV).
„Verbesserung der Verteidigungsfähigkeiten“ ist eindeutig als Aufrüstung gemeint. Das geht schon aus Punkt 18 der neuen NATO-Strategie vom April 1999 (während des Bombarde-ments auf Jugoslawien) eindeutig hervor. Dort verpflichten sich die europäischen Mitgliedstaaten der NATO ihre Verteidigungsfähigkeiten zu stärken. Jetzt schafft sich die EU eine fast wortgleiche Aufrüstungsverpflichtung.
c.1.2 Es wird ein Amt für Rüstung verankert (ebenfalls 42,3).
Diese nun euphemistisch als „Europäische Verteidigungsagentur“ bezeichnete Einrichtung arbeitet bereits. In Art. 45 findet man die konkreten Aufgaben, die eben nicht Rüstungskontrolle und Transparenz für die Bürgerinnen und Bürger beinhalten und noch weniger Rüstungsbegrenzung oder gar Abrüstung. Die Formulierungen sind da eindeutig.
c.1.3 Der Vertrag hebt mit dem neuen „Anschubfonds“ (Art. 41,3 EUV) die Regel aus dem Vertrag von Nizza auf, welche die Verwendung von EU-Geldern für militärische Zwecke verbot.
c.1.4 Der Vertrag verpflichtet die EU zur Zusammenarbeit mit der NATO (Art. 42,2 u. 42,7).
c.2. Der Lissaboner Vertrag ist undemokratisch.
c.2.1 Er ist undemokratisch entstanden. Der Männeranteil der Konventsmitglieder überwog sehr deutlich. Das betraf sowohl den Konvent unter Roman Herzog (EUCh) als auch den unter Valérie Giscard d’Estaing (EU-Verfassung).
Die Konventsmitglieder sind von den Regierungen der EU-Staaten ausgehandelt worden. Diese Leute sind in ihrer Konventsmitgliedschaft durch nichts legitimiert. Verfassungs-konvente sind aber zu wählen und nicht zu ernennen.
Der gescheiterte Konventsentwurf wurde von den Regierungschefs überarbeitet. Auch dieser Entwurf einer EU-Verfassung ist gescheitert. Jetzt wird der Text fast unverändert (Ausnahmen: EU-Flagge und EU-Hymne werden nicht mehr erwähnt) als Lissaboner Vertrag vorgelegt. Auch dieser ist bei der Bevölkerung bereits durchgefallen und damit haben F, NL und IRL die Ratifizierung abgelehnt. Trotzdem wird an diesem Text festgehalten. Was soll das für eine Demokratie sein?
c.2.2 Der Vertrag hat undemokratische Inhalte und Festlegungen
Die für eine Demokratie unerlässliche Gewaltenteilung ist eklatant verletzt.
c.2.2.1 Das nationale Recht wird gebrochen.
Während das Grundgesetz in Art. 26 Angriffskriege ausdrücklich verbietet und unter Strafe stellt, erlauben Art. 43 bis 46 EUV gemeinsam mit Regelungen aus dem AEUV ausdrücklich solche Militärhandlungen.
c.2.2.2 Das Parlamentsrecht ist dramatisch eingeschränkt.
Art. 36 und 41 EUV regeln z.B., dass das Europäische Parlament nur gefragt wird, aber der Ministerrat entscheidet allein in Sachen „Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ (ESVP). Das Parlament darf sogar selbständig Fragen stellen. Ob und wann sie beantwortet werden und ob sie wahrheitsgemäß beantwortet werden? Die Verfassung sagt dazu nichts (siehe mein Punkt a).
Gegenüber dem Vertrag von Nizza hat das EU-Parlament jetzt zwar mehr Rechte erhalten, aber gleichzeitig wurden den nationalen Parlamenten Befugnisse entzogen. Diese Befugnisse gingen aber nicht an das EU-Parlament, sondern an den Rat bzw. Europäischen Rat. Dieser Punkt bedeutet eine Entdemokratisierung der EU bzw. eine Entmachtung der Parlamente.
Die Stärkung der Mitspracherechte der Regionen (Landtage und Regionsparlamente) kann das nicht aufwiegen, denn es geht auch hier nur um Stellungnahmen. Die Entscheidungen fallen nach diesem EU-Vertrag nun mal nicht in einem Parlament.
c.2.2.3 Die Gerichtsbarkeit ist erheblich eingeschränkt.
So regelt Art. 275 AEUV, dass der Europäische Gerichtshof nicht zuständig ist für den Bereich der ESVP. Da die militärischen Einsätze der EU von Potsdam aus organisiert und von SoldatInnen verschiedener EU-Staaten durchgeführt werden, kann auch kein nationales Verfassungsgericht dazu für die EU verbindliche Entscheidungen fällen.
c.2.3 Armeeeinsatz im Innern (Solidaritätsklausel, Art. 222 AEUV, dieser Artikel ist bereits in Kraft).
Der Artikel sieht vor, dass das Militär auch im Innern bei Unruhen (Demonstrationen) eingesetzt werden kann und dass sich dabei die EU-Staaten mit ihren Armeen jeweils „solidarisch“ unterstützen können.
c.2.4 Die Kräfteverteilung innerhalb der EU ist nationalistisch geregelt.
Die Stimmen einzelner Mitgliedstaaten sind nach Bevölkerungszahl dieser Staaten gewichtet. Das gute Argument eines „kleinen“ Staates zählt deutlich weniger als das dumme Argument, das beispielsweise aus Deutschland kommt.
Im Vertrag sind die „Großen“ eher bevorzugt worden (Beispiel: Kerneuropa-Prinzip bei ESVP, Art. 46 EUV).
d) Die Festlegung auf die neoliberale Wirtschaftsweise:
d.1 Die „offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ (Art. 119 AEUV) verbietet in Verbindung mit dem Art. 101,1 AEUV alle Vereinbarungen, die eine „Verfälschung des Wettbewerbs bezwecken oder bewirken.“ Der Art. 3,3 schreibt zudem die „im hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft“ fest (nicht „im hohem Maße soziale MW“).
d.2 Das Recht auf „Unternehmerische Freiheit“ wird festgeschrieben (Art. 16 EUCh).
d.3 Gleichzeitig werden Lohndumping und Aushebelungen der Tarifrechte ermöglicht, denn Regelungen zum Schutz von ArbeitnehmerInneninteressen können als „Verfälschungen des Marktes“ gelten und das „Recht auf Arbeit“ gibt es nicht, sondern nur ein „Recht zu arbeiten“ (Art. 15 EUCh). Damit ist dann das tariflose Arbeiten ermöglicht.
Es kommt auf die Formulierung an: Der Art. 14 EUCh beispielsweise schafft das „Recht auf Bildung“. Es heißt da eben nicht, „Recht sich zu bilden“. Beim Artikel zur Arbeit hat man sich das also genau überlegt.
e) Der Frieden als bloße Worthülse
e.1 Der Frieden und zivile Mittel zur Konfliktbekämpfung sind zwar erwähnt (Art. 3,1), aber durch nichts unterfüttert. Der Militärische Teil dagegen ist breit ausgeführt (Art. 41 ff und AEUV).
e.2 Schlimmer noch: das Völkerrecht soll nicht eingehalten, sondern „weiter entwickelt“ werden (Art. 3,5). Diese spitzfindige Formulierung verwendete 1999 schon der deutsche Bundesaußenminister J.M. Fischer als er die Bundeswehr-Bomben auf Jugoslawien rechtfertigte.
Wenn das Völkerrecht diese Bomben nicht zulasse, dann müsse es eben geändert werden, frohlockte er kühn.
e.3 Auch bekennt sich die EU nicht zur Einhaltung der UN-Charta, sondern nur vage zu den vermeintlichen „Grundsätzen“ dieser Charta (ebenfalls Art. 3,5), die noch auf eine verbind-liche Definition durch die EU-Regierungschefs warten.
Schlussbemerkung:
In Diskussionen mit PolitikerInnen der im BT und EP vertretenen Parteien wurde mir sehr oft inhaltlich beigepflichtet (nachdem zunächst herauskam, dass die konkreten Inhalte bei den Abgeordneten gar nicht bekannt waren). Trotzdem wollten alle, die vorher zugestimmt hatten, auch jetzt noch bei ihrer Zustimmung zum Lissabon-Vertrag bleiben (Stichwort „kleinster gemeinsamer Nenner innerhalb der EU“).
Listig wurde ich dann auf die im Lissabon-Vertrag geschaffene Möglichkeit der BürgerInnen- Initiative (eine Mio Unterschriften in der EU) verwiesen.
Angesichts der einschlägigen Erfahrungen mit der politischen Missachtung von BürgerInnenentscheiden in der EU (DK, F, NL und jetzt IRL), kann ich darin nicht wirklich eine ehrliche Möglichkeit, sondern nur den Beweis für ein eklatantes Demokratiedefizit bei den Regierungen sehen. Und keiner meiner Gesprächspartner bot mir an für den Fall, dass der Lissabon-Vertrag ratifiziert wird, einen Bürgerentscheid gegen Bestimmungen dieses Vertrages zu initiieren, die er ablehnt.