Rezension, in: Braunschweig-Spiegel, 12.5.2019

Friedensprojekt Europa? Schön wär´s.

Die EU entwickelt sich zunehmend in eine ganz andere Richtung.

von: 12. Mai 2019

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Die Besprechung eines Buch, das auch für gut informierte Menschen viele Überraschungen über die offizielle Politik der EU enthält.

Wenn man an Militärinterventionen, an einen militärisch-industriellen Komplex und an Brüche des Völkerrechts denkt, fallen einem verschiedene Staaten ein, nicht zuletzt die USA. Aber die EU? Sie wird für die meisten Bürger immer noch mit Wörtern wie „Friedensprojekt“ „Zivilmacht“ oder gar „Friedensmacht“ gleichgesetzt. Sicher, seit einiger Zeit gibt es vermehrt Punkte, die nicht mehr so ganz zu diesem Bild passen, wie etwa die Militärintervention in Libyen unter anderem durch Frankreich, Großbritannien, Italien, Dänemark, Spanien, Belgien, Niederlande, Norwegen, Griechenland, Bulgarien und Schweden oder die massiven Waffenexporte nach Saudi-Arabien, an denen neben Frankreich und anderen europäischen Staaten auch Deutschland beteiligt ist. Aber viele nehmen das eher wie ein paar Schmutzflecken auf einer ansonsten weißen Weste wahr. Allerdings spricht inzwischen Einiges dafür, dass die EU zielstrebig darauf hinarbeitet, sich der weißen Weste vollständig zu entledigen. In einem interessanten Buch haben Claudia Haydt und Jürgen Wagner umfassende Belege dafür zusammengetragen („Die Militarisierung der EU“, Berlin 2018).

EU als innereuropäisches Friedensprojekt

Keine Frage: dass die am Einigungsprojekt Europas beteiligten Völker es nach Jahrhunderten voller Kriege geschafft haben, eine Struktur zu finden, die den Krieg untereinander verhindert, war eine große Leistung. Sie war nur möglich, weil der Nationalismus erfolgreich bekämpft und zurückgedrängt wurde. Und wenn heute der Nationalismus in vielen Ländern erstarkt, ist das gefährlich, weil es tatsächlich das bisher Erreichte unterminiert. Man muss sich nur kurz vorstellen, wie es in Europa aussähe, wenn die Salvinis, Le Pens, Wilders und Meuthens in ihren jeweiligen Ländern die Herrschaft übernähmen. Während sie heute noch die Köpfe zusammenstecken, weil sie mehr oder weniger offen die EU zerstören wollen, würden sie im Falle des Erfolges ihre Völker gegeneinander in Stellung bringen und für fortwährenden Unfrieden sorgen. Wir sehen aber auch, wie der innereuropäische Zusammenhalt durch eine falsche Politik geschwächt wird. Aber nicht um die „innenpolitischen“ Verhältnisse soll es hier gehen, sondern um das Verhalten der EU nach außen.

EU muss Weltmacht werden“ (Joschka Fischer)

Joschka Fischer hat in der Süddeutschen Zeitung keinen Zweifel daran gelassen, dass er das auch so versteht, dass die EU zur globalen militärischen Macht werden müsse. Gleichzeitig hat er deutlich gemacht, dass es dabei nicht genüge, dass nur Frankreich und Großbritannien über Atomwaffen verfügen. Eine schrille Äußerung, die Einzelmeinung eines alternden Politikers, der nicht mehr so ganz beieinander ist? Keineswegs. Haydt und Wagner zeigen auf, dass dies genau der Weg ist, den die EU nun mit Macht seit 2016 eingeschlagen hat. Schon länger (etwa seit 2003) habe man versucht, in dieser Richtung voran zu kommen, habe aber zunächst nur wenig Erfolg gehabt. Mit dem Brexit sei allerdings Großbritannien als wichtiger „Blockierer“ weggefallen, so dass man seither das Ziel in schnellen Schritten angehen konnte. Allerdings sei das von der Öffentlichkeit kaum bemerkt worden. Zwei Autorinnen von der regierungsnahen Stiftung für Wissenschaft und Politik sprechen deshalb von der „stillen Revolution in Europas Verteidigungspolitik“ (die sie übrigens befürworten).

Erster Schritt: Die „Europäische Globalstrategie“ (2016)

In diesem am 28. Juni 2016 beschlossenen Dokument heißt es:

„Die Vorstellung von Europa als einer ausschließlich ´zivilen Macht` wird … der sich entwickelnden Wirklichkeit nicht gerecht.“ (S.24)

Die EU müsse sich vor allem in der östlichen und südlichen Nachbarschaft (die bis nach Zentralafrika reiche) für Friedenskonsolidierung einsetzen, während „weiter entfernte Einsätze von Fall zu Fall erörtert werden“, also durchaus möglich seien. Zum Beispiel werde die „EU zur weltweiten maritimen Sicherheit beitragen und dabei auf ihre Erfahrungen im Indischen Ozean und im Mittelmeer zurückgreifen“. Nicht nur die „Sicherheit im Seeverkehr“ sei zu verfolgen, sondern auch „der Zugang zu den natürlichen Ressourcen“ müsse „sichergestellt“ werden (S.35). Dafür seien „militärische Spitzenfähigkeiten“ im „gesamten Spektrum an land-, luft-, weltraum- (!, A.M.) und seeseitigen“ Kräften notwendig. Und das bedeute:

„Eine tragfähige, innovative und wettbewerbsfähige europäische Verteidigungsindustrie ist von wesentlicher Bedeutung für die strategische Autonomie Europas.“ (S.40)

Zweiter, dritter und vierter Schritt: CARD, PESCO und Europäischer Verteidigungsfonds

Eben diese wird nun zielstrebig angegangen, wobei daran gedacht ist, unter deutsch-französischer Führung eine einheitliche, schlagkräftige gesamteuropäische Rüstungsindustrie aufzubauen, die eine hohe Wettbewerbsfähigkeit besitzt, was ohne Zweifel mit einer starken Ausdehnung der Waffenexporte verbunden wäre. Haydt und Wagner zeigen die Schritte im Einzelnen gut nachvollziehbar und überzeugend auf; sie weisen besonders darauf hin, dass es den Betreibern dieser Politik gelungen ist, einen Mechanismus durchzusetzen, der es überflüssig macht, dass alle EU-Staaten den jeweiligen Vorhaben zustimmen.

Die vorläufige Krönung ist die Zustimmung des Europäischen Parlamentes zur Einrichtung eines „Verteidigungsfonds“, der immerhin in den kommenden sieben Jahren über 13 Milliarden Euro verfügen wird; er soll Projekte der militärischen Forschung und Entwicklung fördern (z.B. Drohnentechnlogie) und Projekte der Rüstungs-Beschaffung (z.B. von Hubschraubern) unterstützen. Das Parlament hat einem Beschluss zugestimmt, der festlegt, dass es selber keinerlei Kontrolle über die Verwendung der 13 Milliarden haben wird. So spricht der Grüne Reinhard Bütikofer, seit 2009 Abgeordneter des Parlamentes, zu Recht von der „Schande einer solchen Selbstkastration“; auch er geht davon aus, „dass wir mehr Rüstungsexporte haben werden“. Übrigens: der Beschluss fiel kurz vor den Osterferien. Nur sehr wenige dürften den Vorgang überhaupt mitbekommen haben, und auf Wahlplakaten wurde er auch nicht zum Thema gemacht.

Militärisch-industrieller Komplex in der EU?

Wenn der Plan aufginge, wären europäische Militärinterventionen weltweit möglich. Und es würde sich nach Ansicht der Autoren ein militärisch-industrieller Komplex aufbauen, der dann ein viel größeres Gewicht und Druckpotential gegenüber der Politik hätte, als das heute schon der Fall ist; wir können das in den USA beobachten. Die Autoren halten es nicht für ausgemacht, dass die Umsetzung des Plans gelingt, sie nennen verschiedene „Stolpersteine“, die den Erfolg dieser Politik zumindest behindern könnten. Aber sie weisen nach, dass die EU sich auf den Weg gemacht hat, so oder so ähnlich zu werden wie die USA, ob nun allein oder (wesentlich wahrscheinlicher) im Verbund mit den USA.

Und uns alle stellen sie vor die Frage: Wollen wir das?

Oder wollen wir ein zusätzlicher „Stolperstein“ sein?

Claudia Haydt / Jürgen Wagner: Die Militarisierung der EU. Der (un-)aufhaltsame Weg Europas zur militärischen Großmacht. Berlin 2018.