IMI-Analyse 2023/06
Sahel
Neue Allianzen, neue Missionen
Christoph Marischka (16.02.2023)
Am 8. Februar 2023 fand laut diverser Medienberichte in Kidal im Norden Malis eine Versammlung statt, welche die Lage in Mali weiter destabilisieren könnte. Die Deutsche Welle (dw) etwa berichtet: „Im Norden Malis haben sich drei bewaffnete Gruppen zusammengeschlossen, die am Tuareg-Aufstand 2012 beteiligt waren. Sie wollen damit die Militärregierung in Bamako unter Druck setzen“.[1] Die dw bezieht sich dabei im wesentlichen auf eine relativ kurze Meldung des Nachrichtenportals AfricaNews.com, das auch (vermeintliche) Video-Aufnahmen des Treffens veröffentlichte.[2] Konkret handele es sich dabei um drei der tendenziell separatistischen Gruppierungen, die bereits zuvor als CMA (Coordination des mouvements de l’Azawad) eng zusammengearbeitet und nach dem Aufstand 2012 und der anschließenden französischen Militärintervention gemeinsam 2015 dem Abkommen von Algiers beigetreten waren, das sich formal zur territorialen Integrität Malis bekannt hatte – in der Umsetzung jedoch viele Fragen offen ließ. Während des damals separatistischen Aufstandes gab es eine partielle Zusammenarbeit auch mit djihadistischen/islamistischen Kräften, die dann jedoch schnell die Oberhand gewannen. Nach der französischen Militärintervention und der damit einhergehenden Stationierung einer großen UN-Mission und mehrerer europäischer Truppenkontingente kämpften Einheiten der CMA teilweise Seite an Seite mit französischen Spezialkräften gegen vermeintliche Djihadisten und unterstützten offiziell die (Übergangs-)Regierungen in der Hauptstadt Bamako. Bereits damals gab es jedoch anhaltende Gerüchte, dass einerseits Angehörige der CMA mit einzelnen djihadistischen Gruppen kooperieren würden und dass andererseits Frankreich durch seine militärische und geheimdienstliche Zusammenarbeit mit der CMA in der konkreten Praxis die territoriale Integrität und die Souveränität der Regierung in Bamako unterlaufen und langfristig das Ziel einer Abspaltung des Nordens (Azawad) vorantreiben würde. Daran dürfte einiges im Einzelfall richtig, in der Verallgemeinerung zugleich unzutreffend sein, wie es bei vielen Gerüchten und Verschwörungstheorien der Fall ist. Dass es jedoch erhebliche Spannungen zwischen der militärischen Praxis Frankreichs (die Separatisten unterstützte) und der völkerrechtlichen Grundlage u.a. der deutschen Militärpräsenz im Rahmen der UN-Truppe MINUSMA (territoriale Integrität) gab, äußerten auch deutschen und europäische Diplomat*innen und Militärs immer wieder.
Islamisten und Separatisten gegen die Junta?
Was es bedeutet, dass die militärisch besser aufgestellten Gruppen der CMA nun von einer „Koordination“ zu einer „Fusion“ übergehen, scheint insofern ersteinmal wenig spektakulär. Konkret ist davon die Rede, dass man aus den drei Gruppen „einen [einzigen] politischen und militärischen Zusammenhang“ formen wolle.[3] Allerdings wurde bei dem Treffen demnach auch angekündigt, dass die CMA „angesichts der sich beständig verschlechternden Sicherheitslage gemeinsam mit weiteren Gruppen eine militärische Offensive plant, um die Bevölkerung in Mali zu schützen“. Da die CMA bereits im Dezember vergangenen Jahres geschlossen aus der operativen Umsetzung des Algiers-Abkommens ausgetreten ist, handelt es sich dabei um die Ankündigung einer militärischen Operation (ehemals) separatistischer Kräfte, die nicht in Abstimmung mit der Regierung erfolgt. Im Gegenteil: Die CMA begründet ihre „Offensive“ damit, dass die Regierung die Zivilbevölkerung nicht ausreichend schütze.
Einen Hinweis auf die bevorstehende Fusion lieferte kurz zuvor bereits „Voice of America“, der vom US-Kongress finanzierte Auslandssender der USA. Dieser veröffentlichte am 31. Januar 2023 einen Bericht, wonach Iyad Ag Ghaly, Führer des regionalen Al-Kaida-Ablegers GSIM, in den vorangegangenen Tagen einige „Führer [anderer] bewaffneter Gruppen“ kontaktiert und getroffen habe. Ziel sei es gewesen, den Kampf gegen den IS, der mit GSIM konkurriert und auch von der CMA bekämpft wird, zu koordinieren und zusammenzuführen. Laut Aussage eines namentlich nicht genannten Vertreters der lokalen Regierung in Kidal habe sich Ag Ghaly auch mit Vertreter(*innen?) der Zivilbevölkerung getroffen und ihnen zugesichert, „die Scharia zu verteidigen und [die Zivilbevölkerung] vor der malischen Armee und russischen Söldnern zu beschützen“. In diesem Zusammenhang wurde damals auch eine andere Quelle zitiert, wonach Ag Ghaly eine Fusion der Gruppen der CMA begrüße, wie sie im Februar stattfinden könne – und nun offenbar stattgefunden hat.[4]
Die Kämpfe zwischen islamistischen Gruppen haben bereits in den vergangenen Monaten auch in der Region Gao zugenommen. Nun scheint sich eine neue Allianz zwischen der CMA und der GSIM abzuzeichnen, die gemeinsam gegen den IS vorgehen. Während die GSIM offiziell von der malischen Armee und ihren Verbündeten bekämpft wird, gerieten auch in den vergangenen Jahren – auch während die CMA Teil des Algiers-Prozesses war – immer wieder regierungstreue Gruppen und die CMA militärisch aneinander. Mit der Fusion, der angekündigten Offensive und dem mutmaßlichen Bündnis mit der GSIM deutet sich zumindest an, dass die CMA künftig auch offen die Konfrontation mit dem malischen Militär und der Führung in Bamako suchen und seine Ziele der Unabhängigkeit bzw. Abspaltung vehementer verfolgen könnte.
Abzug und Verlegung
Diese Entwicklungen werden sicher auch in den außenpolitischen Apparaten Frankreichs und der EU mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Nachdem die französischen Truppen von der malischen Regierung herausgeworfen wurden und auch die EU und Deutschland nicht mehr wirklich willkommen zu sein scheinen, hoffen hier sicherlich einige auf eine weitere Destabilisierung Malis, einen Sturz der Junta in Bamako und die Aussicht auf eine Rückkehr.
Denn der eigentlich naheliegende Abzug der EU-Missionen EUTM und EUCAP sowie des großen deutschen Kontingents innerhalb der UN-Mission MINUSMA verläuft zögerlich. Seit sich die Junta in Bamako von Frankreich abgewendet und stattdessen seine Zusammenarbeit mit Russland massiv ausgebaut hat, wird in Deutschland und der EU davon gesprochen, man dürfe Russland nicht „das Feld überlassen“. Deshalb wird hart um den Rückzug der Bundeswehr aus der MINUSMA gerungen. Während v.a. das von der SPD geführte Verteidigungsministerium gehen möchte, will das Auswärtige Amt unter Baerbock bleiben. Nach aktuellem Stand ist ein Abzug für nächstes Jahr vorgesehen, allerdings erst nach den angesetzten Wahlen, um auf mögliche Lageänderungen noch reagieren zu können. Absehbar auf länger Zeit erhalten bleiben wird das Luftdrehkreuz der Bundeswehr in der benachbarten Republik Niger, welches Deutschland zwar im Rahmen der MINUSMA aufgebaut hat, aber stets gemeinsam mit französischen Truppen nutzte, die außerhalb der MINUSMA in der gesamten Region im Einsatz sind. Zukünftig wird es v.a. die EU-Missionen unterstützen, die sich aktuell auf Niger fokussieren.
Als beispielhaft für den unentschlossenen Abzug bzw. die widerwillige Verlegung europäischer Kräfte kann etwa die Verlängerung der EU-Ausbildungsmission EUTM Mali im vergangenen Oktober um ganze zwei Jahre gesehen werden – obwohl die Ausbildungsmaßnahmen in Mali bereits zu diesem Zeitpunkt (zunächst wegen Covid, dann wegen der Zusammenarbeit der malischen Armee mit Russland) längst ausgesetzt waren und das zentrale Ausbildungslager Koulikoro bereits aufgegeben wurde. Stattdessen wird die Mission, die weiterhin EUTM Mali heißt, im Kern nach Niger verlegt und soll dort das nigrische Militär ausbilden. An sich war auch eine Ausbildung der Streitkräfte Burkina Fasos vorgesehen, ist aber unwahrscheinlich, weil sich auch die dortige Junta nun Russland zugewandt hat. Nur ein Rumpf der Mission soll in Mali verbleiben und erhielt im Oktober vergangenen Jahres den zusätzlichen Auftrag, „Bemühungen im Bereich der strategischen Kommunikation“ zu unterstützen, die „zur Förderung der Werte der Union, zur Förderung des Handelns der Union und zur Aufdeckung von Menschenrechtsverletzungen und Verstößen gegen die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht durch ausländische Streitkräfte in Mali“ beitragen. Konkret geht es also für die verbliebenen EUTM-Angehörigen in Mali darum, Öffentlichkeitsarbeit für die EU und gegen die amtierende Regierung bzw. ihre russischen Verbündeten zu betreiben. Das Mandat enthält jedoch eine Klausel, die auch die Wiederaufnahme der Ausbildung malischer Kräfte bis hin zur „Begleitung ohne Exekutivbefugnisse bis zur taktischen Ebene“ für den Fall vorsehen, dass nicht näher bestimmte „Bedingungen vorliegen“.[5]
Neue Missionen
Nur zwei Monate darauf wurde im Dezember 2022 bereits die nächste EU-Militärmission, genauer eine „militärische Partnerschaftsmission“ (EUMPM Niger), in der Republik Niger beschlossen. Hier geht es um den Aufbau konkret genannter militärischer Einheiten der nigrischen Armee. Zugleich dient die Mission auch der Unterstützung von „bilateralen Initiativen, Bemühungen und Tätigkeiten der Mitgliedstaaten in Niger“, worunter in der Vergangenheit insbesondere die Ausbildung von Spezialkräften sowie die Ausstattung mit Militärtechnik zu verstehen war.[6] Das Mandat für diese Mission wurde gleich zu Anfang für drei Jahre beschlossen.
Darüber hinaus laufen gerade Diskussion über eine weitere Mission ganz neuen Typs in der Region, die im wesentlichen auf Militärberatern und mobilen Trainingsteams basieren, den „Kampf gegen Terrorismus“ unterstützen und dem russischen Einfluss in der Region Paroli bieten soll. Sie wird nach aktueller Planung über kein eigenes Hauptquartier in der Region verfügen, sondern direkt von der Military Planning and Conduct Capability (MPCC), einer Abteilung des Militärstabs der Europäischen Union, geführt werden. Soweit die bisherigen Planungen bekannt sind, orientieren sie sich sichtbar am Konzept des Oberkommandos der US-Streitkräfte für den afrikanischen Kontinent (AFRICOM), das um einen leichten Fußabdruck bei zumindest sporadischer, möglichst flächendeckender Präsenz durch Spezialkräfte, Ausbildungsmaßnahmen, gemeinsame Manöver und verdeckte Operationen bemüht ist. Territorial wird diese neuartige Mission der EU vermutlich nicht klar begrenzt sein, konkrete Vorabstimmungen sollen allerdings bislang mit den vier Küstenstaaten Côte d’Ivoire, Togo, Benin und Ghana stattfinden. Alle vier Länder grenzen an Burkina Faso, die Côte d’Ivoire außerdem an Mali und Benin auch an die Republik Niger.
Westlich an die Côte d’Ivoire und südlich an Benin grenzt der Küstenstaat Guinea, dessen aktuelle Regierung ebenfalls aus einem Putsch hervorging und deshalb, ebenso wie Mali und Burkina Faso, vom Regionalbündnis ECOWAS mit Sanktionen belegt wurde. Am 9. Februar 2023 – einen Tag nach der Fusion der CMA im Norden Malis – trafen sich hochrangige Abgesandte dieser drei Regierungen zu einem Gipfel in Ouagadougou, um eine engere Zusammenarbeit zu vereinbaren.[7] Dies erfolgte vermutlich nicht zufällig in zeitlicher Nähe zur Westafrika-Reise des russischen Außenministers Lawrow, der den Juntas seine Unterstützung zusagte und anschließend nach Mauretanien weiterreiste, wo er eine Lösung der Westsahara forderte, die im Einklang mit dem Völkerrecht steht – was in diesem Falle nicht unbedingt der Linie der NATO und der (aktuellen) Bundesregierung entspricht.[8] Das kann man angesichts des eklatanten Bruchs des Völkerrechts durch den russischen Angriff auf die Ukraine durchaus als heuchlerisch empfinden, es entspricht aber einer in der Region breit verankerten und durchaus berechtigten Kritik an der westlichen Doppelmoral. Nicht vergessen ist dort z.B. der NATO-Krieg gegen Libyen 2011, mit dem viele der Probleme in der Region zumindest mittelbar bis heute zusammenhängen.
Anmerkungen
[1] „Bewaffnete Gruppen fusionieren im Norden Malis“, dw.com vom 9.2.2023.
[2] „Mali’s Azawad movements unite in a bid to pressure the ruling junta“, africanews.com vom 9.2.2023.
[3] „Army chief ousted in jihadist-torn Mali“, modernghana.com.
[4] „Mali Jihadist Leader in Secret Talks With Northern Groups“, voanews.com vom 31.1.2023.
[5] Beschluss (GASP) 2022/1966 des Rates vom 17. Oktober 2022 zur Änderung des Beschlusses 2013/34/GASP über eine Militärmission der Europäischen Union als Beitrag zur Ausbildung der malischen Streitkräfte (EUTM Mali), eur-lex.europa.eu.
[6] Beschluss (GASP) 2022/2444 des Rates vom 12. Dezember 2022 über eine militärische Partnerschaftsmission der Europäischen Union in Niger (EUMPM Niger), eur-lex.europa.eu.
[7] Jörg Tiedjen: Sahel fusioniert – Burkina Faso, Guinea und Mali rücken zusammen, junge Welt vom 14.2.2023, jungewelt.de.
[8] Pablo Flock: „Wertepartnerschaft“ über Völkerrecht – Baerbock gibt gegenüber Marokko bezüglich West-Sahara klein bei, IMI-Standpunkt 2022/033, imi-online.de.