Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de

IMI-Analyse 2023/05

Waffenbrüder?

In Rüstungsfragen ist die deutsch-französische „Partnerschaft“ von Kooperation und Konkurrenz geprägt

Jürgen Wagner (30.01.2023)

Schon lange strebt Deutschland, mehr noch aber Frankreich an, aus der Europäischen Union eine Großmacht zu machen, die dank eines starken heimischen rüstungsindustriellen Komplexes auf Augenhöhe mit den USA agieren kann. Lange wurden derlei Versuche mehr oder weniger kategorisch von Großbritannien blockiert, was jedoch mit dem britischen Austrittsreferendum im Juni 2016 sein Ende fand. Schnell erklärten sich Deutschland und Frankreich daraufhin eigenmächtig zum neuen „Führungsduo“ und setzten in der Tat eine Reihe weiteichender Initiativen in Gang. Beiden Ländern ist völlig bewusst, dass es ihnen nur gemeinsam gelingen wird, Widerstände gegen den Aufbau eines europäischen Rüstungskomplexes – unter ihrer Führung, wohlgemerkt – zu überwinden. Gleichzeitig nehmen aber auch die Spannungen um den jeweiligen Anteil am europäischen Rüstungskuchen immer weiter zu, wie sich insbesondere auch anhand der Debatten im Vorfeld des deutsch-französischen Ministerrates zeigte. Das Treffen musste aufgrund heftiger Konflikte mehrmals verschoben werden und fand schlussendlich symbolträchtig zum 60. Jahrestag des Élysée-Vertrages am 22. Januar 2023 statt. Zwar war man dort sichtlich bemüht, die deutsch-französische Freundschaft hochleben zu lassen, abseits von Lippenbekenntnissen blieben aber wesentliche (Führungs-)Fragen weiter ungelöst.

Vom Ministerrat zum Aachener-Vertrag

Die Urnen des britischen Referendums waren kaum weggeräumt, da wurden bereits die ersten gemeinsamen Papiere deutsch-französischer Spitzenpolitiker*innen verfasst, in denen die Führungsrolle in europäischen Militär- und Rüstungsfragen reklamiert wurde. Sprichwörtlich wegweisend erwies sich dann das Treffen des deutsch-französischen Ministerrates am 13. Juli 2017, weil dort unter anderem zwei deutsch-französische Rüstungsgroßprojekte beschlossen wurden. Einmal war das das Luftkampfsystem (Future Combat Air System, FCAS) mit einem geschätzten Gesamtvolumen von bis zu 500 Mrd. Euro. Eng damit verbunden ist das geplante Kampfpanzersystem (Main Ground Combat System, MGCS), das es immerhin auf geschätzte 100 Mrd. Umsatz bringen könnte. Mit geplanten Auslieferungsterminen zwischen 2035 (MGCS) und 2040 (FCAS) sind beide Vorhaben allerdings noch in einem sehr frühen Stadium und ihre Realisierung alles andere als gesichert.

Die „Idee“ hinter diesen Rüstungsprojekten ist – aus deutsch-französischer Sicht zumindest – äußerst charmant: Beide Länder einigen sich zunächst auf alle wesentlichen Rahmenbedingungen und Spezifikationen, erst dann sollen weitere Länder ins Boot geholt werden, um aus den Projekten dann die europäischen Standardsysteme zu machen. Die ohnehin dominierende Stellung der deutsch-französischen Rüstungskonzerne würde so weiter gestärkt, kleinere Anbieter aus dem Markt gedrängt und so unter dem Stichwort der „Konsolidierung“ die Herausbildung eines deutsch-französisch dominierten Rüstungskomplexes beschleunigt.

Am 22. Januar 2019, dem 56. Jahrestag des Élysée-Vertrags, folgte die Unterzeichnung des deutsch-französischen Aachener-Vertrags. Darin wird unter anderem festgehalten, dass sich beide Länder künftig im Vorfeld der „großen europäischen Treffen“ konsultieren würden, um „gemeinsame Standpunkte herzustellen und gemeinsame Äußerungen der Ministerinnen und Minister herbeizuführen.“ Explizit soll dabei die „Erarbeitung gemeinsamer Verteidigungsprogramme“ den Ausbau eines europäischen Rüstungskomplexes voranbringen, weil es ihr Ziel ist, die „Konsolidierung der europäischen verteidigungstechnologischen und -industriellen Basis zu fördern.“

Stotternde Rüstungsprojekte

Obwohl er recht zügig Fahrt aufnahm, geriet der deutsch-französische Militarisierungsmotor fast ebenso schnell wieder erheblich ins Stottern. Das lag einmal daran, dass andere EU-Länder keine sonderlich große Begeisterung an den Tag legen, sich klaglos den deutsch-französischen Vorgaben unterzuordnen. So schlossen sich Italien und Schweden dem britischen Tempest-Kampfflugzeugprojekt an, das sich inzwischen zu einer immer ernsteren Alternative zum FCAS entwickelt. Und Polen, das ursprünglich gerne von Anfang an in die Entwicklung des MCGS-Kampfpanzers involviert gewesen wäre, aber außen vor gelassen wurde, stieg kurzerhand auf US-Panzer um.

Doch auch innerhalb des Führungsduos knirschte es immer lauter: Beim FCAS erhob die deutsche Seite den Vorwurf, Frankreich lege seine Führungsrolle so aus, dass es darauf poche, das Projekt allein nach seinen Interessen durchzuziehen („French Combat Air System“). Umgekehrt beschuldigt Dassault seinen „Partner“ Airbus mit einiger Berechtigung, vor allem darauf abzuzielen, sich fehlendes (Tarnkappen-)Know-How aneignen zu wollen. Die Konflikte waren zwischenzeitlich derart heftig, dass mehrfach über das Aus des Prestigeprojektes spekuliert wurde. Dies hatte zur Folge, dass es mit dem FCAS lange Zeit überhaupt nicht voranging und auch wenn im November eine grundsätzliche Einigung erzielt wurde, die den Weg für die nächste Projektphase 1b freimachte, hinkt das Projekt bereits jetzt rund ein Jahr hinter dem Zeitplan her. Analog dazu kommt auch das Kampfpanzer-Projekt MGCS nicht voran, bei dem Deutschland die Führungsrolle innehat. Schuld ist hier die explizite Kopplung an Fortschritte beim FCAS, aber auch die komplizierte Verteilung der Aufträge zwischen KNDS (Nexter + KMW) sowie Rheinmetall – als Rheinmetall dann im Juni 2022 mit dem Panther KF51 auch noch ein Konkurrenzprodukt vorstellte, löste das auf der anderen Seite des Rheins nur noch Kopfschütteln aus (siehe IMI-Studie 2022/7).

Die Kosten für die beiden Großprojekte sollen bis 2026 aus dem Sondervermögen der Bundeswehr beglichen werden. Als im Dezember 2022 die ersten Gelder aus dem Sondervermögen abgesegnet wurden, stieß dabei allerdings Einiges auf französischer Seite auf Unverständnis. Da sind einmal die 8,3 Mrd. Euro (mit Folgeaufträgen mindestens 10 Mrd. Euro) für die Anschaffung von F-35 Kampfjets. Lange war mit französischer Unterstützung die Anschaffung von F-18 bevorzugt worden, weil in den deutlich moderneren F-35 eine Bedrohung für die Realisierung des FCAS-Projektes gesehen wurde. Auch die Entscheidung, als Ersatz für die Seefernaufklärer P-3C Orion zwölf (inzwischen 8) P-8 Poseidon des US-Herstellers Boeing zu erwerben und über das Sondervermögen zu finanzieren, sorgte in Paris für Ärger. Schließlich wurde damit das deutsch-französische Programm für neue Seefernaufklärer namens Maritime Airborne Warfare System (MAWS) mehr oder weniger überflüssig, das dieselben Fähigkeiten bereitgestellt hätte.

Aus Sicht Frankreichs war diese Episode geradezu symptomatisch für Berlins Neigung, im Zweifelsfall dann doch lieber von den USA zu kaufen als in den Aufbau eines europäischen Rüstungskomplexes zu investieren. Als weiteres Beispiel betrachtet Paris die im Oktober 2022 auf deutsche Initiative ausgerufene European Sky Shield Initiative, bei der 15 europäische Staaten bei der Stärkung der Luftabwehr zusammenarbeiten wollen. Weshalb Frankreich auch hierauf äußerst verschnupft reagierte, ließ sich damals in der FAZ (25.10.2022) nachlesen: „Geplant ist die gemeinsame Beschaffung und Nutzung von Luftverteidigungssystemen aus Israel (Arrow 3) und Amerika (Patriot). Für Frankreich kommt die Entscheidung einer Absage an den Rüstungsstandort Europa gleich. Denn Berlin hätte auch das von den Rüstungskonzernen MBDA und Thales im Rahmen der französisch-italienischen Zusammenarbeit entwickelte Luftverteidigungssystem SAMP/T (in Frankreich: Mamba) sowie Aster-Raketen in Betracht ziehen können.“

Führungsstreitigkeiten

Hinter vielen dieser Konflikte stecken nicht bloß unterschiedliche Konzerninteressen, sondern auch waschechte Auseinandersetzungen um die Führungsrolle in europäischen Rüstungsangelegenheiten. Während Deutschlands Dominanz im Wirtschaftsbereich recht unumstritten ist, gerät nun auch Frankreichs Spitzenposition im Militär- und Rüstungsbereich in Gefahr.

 201420152016201720182019202020212022
Budget         
Frankreich52,0243,544,2146,1350,5149,4952,5246,4655,94
Deutschland46,1839,8341,6145,4749,7752,5558,6562,7762,71
Differenz5,83,72,60,70,7-3,1-6,1-6,2-6,8
          
Personal         
Frankreich207204,8208,1208,2208,2207,8207,6207,5207,1
Deutschland178,8177,2177,9179,8181,5183,8183,9184,8188,5
Differenz28,227,630,328,426,724,123,722,718,6
          
Ausrüstung         
Frankreich24,6425,0424,4424,1723,6624,5326,6227,828,55
Deutschland12,9411,9312,2111,7712,3614,6917,4518,620,89
Differenz11,713,112,212,411,39,89,29,27,7

Abbildung 1 Neue Machtbalance im deutsch-französischen Verhältnis. Budget in Mrd. Dollar nach NATO-Kriterien. Ausrüstung in% des Gesamtbudgets. Nicht alle Zahlen der Tabelle erscheinen sonderlich sattelfest, besonders beim Personal. Sie veranschaulichen aber wie in der französischen Fachpresse das sich verändernde Mächtegleichgewicht wahrgenommen wird. Quelle: Nicolas Gros-Verheyde: Au coeur de la crise franco-allemande, la Défense, Bruxelles2, 26 octobre 2022

In Frankreich wurde sehr wohl vernommen, dass Kanzler Olaf Scholz stolz verkündete, durch das Bundeswehr-Sondervermögen werde Deutschland bald über die „größte konventionelle Armee“ in Europa verfügen. Dass der neue Verteidigungsminister Boris Pistorius unmittelbar nach Amtsantritt im Januar 2023 ins selbe Horn blies, macht es wohl auch nicht besser: „Deutschland ist die größte Volkswirtschaft in Europa, deswegen sollte es auch unser Ziel sein, die stärkste und am besten ausgestattete Armee in der EU zu haben.“

In Paris wird eine generelle Verschiebung des Kräfteverhältnisses befürchtet, wie etwa das gut vernetzte französische Nachrichtenportal Bruxelles2 berichtete: „Deutschlands strategische Neupositionierung und sein Wunsch, die Führung in der europäischen Verteidigung zu übernehmen, belasten das Verhältnis zwischen Paris und Berlin schwer. […] Bis jetzt gab es in den Beziehungen in dieser von Frankreich und Deutschland gebildeten ‚Allianz der Gegensätze‘ eine Art stillschweigendes Einverständnis. Paris war führend in der Verteidigungs- und strategischen Außenpolitik. Berlin setzte sich bei Wirtschaft und Außenhandel durch.“

Nicht erst seit dem russischen Angriff auf die Ukraine hat Frankreich deshalb sicher auch mit Blick auf die europäischen Kräfteverhältnisse seine Verteidigungsausgaben deutlich auf inzwischen 43,9 Mrd. Euro (2023) erhöht. Kurz vor Beginn des deutsch-französischen Ministerrates legte der französische Präsident Emmanuel Macron noch einmal nach: Waren im bisherigen Plan zwischen 2019 und 2025 bereits saftig erhöhte militärische Gesamtausgaben von 295 Mrd. Euro vorgesehen, soll der Etat nun für die Spanne 2024 bis 2030 auf 413 Mrd. Euro nach oben geschraubt werden – rund 65 Mrd. Euro soll das französische Rüstungsbudget 2030 betragen, allerdings muss das Parlament noch zustimmen.

Dieses Geld soll insbesondere dem Bereich zugutekommen, der vor allem anderen die französische Dominanz in der EU sichern hilft: „Es soll vor allem höhere Ausgaben für die Atomwaffen Frankreichs geben. ‚Nukleare Abschreckung ist ein Element, das Frankreich von anderen Ländern in Europa unterscheidet‘, erklärte Macron. ‚Wir sehen erneut, bei der Analyse des Kriegs in der Ukraine, ihre hohe Bedeutung.‘ Frankreich ist das einzige EU-Mitglied, das Atomwaffen hat.“ (tagesschau.de, 201.2023) Vor diesem Hintergrund wird es auch verständlich, weshalb in Paris alle Alarmglocken angehen, wenn von deutscher Seite Forderungen nach einer Europäisierung seines Atomwaffenarsenals – sprich einem deutschen Zugriff – erhoben werden, wie dies beispielsweise letzten Sommer aus Reihen der Union mehrmals ins Spiel gebracht wurde (siehe IMI-Aktuell 2022/267).

Showdown Ministerrat?

Die Vielzahl an Konflikten sorgte auch dafür, dass das eigentlich für Oktober 2022 terminierte Treffen des deutsch-französischen Ministerrates mehrfach verschoben wurde. Schlussendlich traf man sich dann, wie eingangs erwähnt, im Zuge der Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Élysée-Vertrages am 22. Januar 2023. Die dabei verabschiedete Deutsch-französische Erklärung ist reich an Pathos uns salbungsvollen Worten. So heißt es in der Erklärung, man sei „Seite an Seite“ dazu „entschlossen“, global „europäische Werte und Interessen zu verteidigen.“ Die Ukraine erhalte „weiterhin unerschütterliche Unterstützung“ durch Deutschland und Frankreich. Vor allem sei aber deutlich geworden, dass die Anstrengungen zur weiteren Militarisierung der Europäischen Union intensiviert werden müssten: „In diesem Zusammenhang müssen unsere beiden Länder zur Konsolidierung von Europas Fähigkeit, sich zu verteidigen und seine Interessen zu vertreten, beitragen, auch durch die Stärkung der europäischen strategischen Kultur. Die Stärkung der europäischen Verteidigungskapazitäten ist von entscheidender Bedeutung, auch zur Unterstützung des europäischen Pfeilers der NATO und über eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen EU und NATO.“

Ferner wurde erneut ein klares Bekenntnis zu FCAS und MGCS abgegeben: „Wir begrüßen die jüngsten Entwicklungen beim zukünftigen Luftkampfsystem (FCAS) und bekräftigen unseren Willen, in demselben Geist bei dem Bodenkampfsystem (MGCS) voranzukommen.“ In separaten Schlussfolgerungen des Treffens wurde bezüglich des Kampfpanzersystems noch einmal explizit festgehalten: „Deutschland und Frankreich sind entschlossen, erhebliche Fortschritte beim Projekt des Bodenkampfsystems (Main Ground Combat System, MGCS) zu erzielen. Dies umfasst eine Einigung über die industrielle Führung in Bezug auf alle Technologiedemonstratoren (Main Technology Demonstrators, MTD), um Einsatzfähigkeit zu erreichen. Im weiteren Verlauf wird die Führung bei dem Projekt bei Deutschland liegen, entsprechend der Führung Frankreichs bei FCAS.“

Ob diese Lippenbekenntnisse aber in der Lage sein werden, die zahlreichen handfesten Interessenskonflikte aus dem Weg zu räumen, wird erst die Zukunft zeigen. Entschieden ist allerdings bereits, wo die Prioritäten der deutsch-französischen Zusammenarbeit liegen. Deutlich wurde dies unterem durch ein weiteres gemeinsames Prestigeprojekt, dem im Frühjahr 2022 verabschiedeten Strategischen Kompass. Das vor allem unter deutscher und dann französischer Ratspräsidentschaft erarbeitete Grundsatzdokument soll die künftige EU-Außen- und Sicherheitspolitik entscheidend prägen. Während in dem 46seitigen Dokument etliche Vorschläge für neue Rüstungsprojekte gemacht wurden, nimmt darin der Bereich „Förderung von Abrüstung, Nichtverbreitung und Rüstungskontrolle“ gerade einmal eine halbe vollkommen blutleere Seite ein.

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Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de