IMI-Analyse 2019/08
„Selbstbehauptung oder Fremdbestimmung“
Münchner Sicherheitskonferenz – Alternativlose Aufrüstung als Gebot der Stunde
Jürgen Wagner (19.02.2019)
Betrachtet man sich Titel und Inhalt der letzten beiden „Munich Security Reports“ (MSR), die seit einiger Zeit als Aufgalopp unmittelbar vor Beginn der Münchner Sicherheitskonferenz (SiKo) veröffentlicht werden, fühlt man sich unweigerlich an den alten Spruch erinnert: „Gestern stand die Regierung am Abgrund – heute ist sie einen Schritt weiter!“ So lautete der letztjährige MSR-Titel „Am Abgrund? Und wieder zurück?“, während in der aktuellen Überschrift überdeutlich zum Ausdruck gebracht wird, dass das Kind bereits in den sicherheitspolitischen Brunnen gefallen ist und es jetzt darum geht, die Scherben aufzusammeln: „Das große Puzzle: Wer sammelt die Teile ein?“[1]
Allerdings ist es ja nicht gerade neu, dass sich die Konflikte mit Russland und China seit Jahren kontinuierlich und gefährlich verschärfen. Neu ist allerdings, wie deutlich in jüngster Zeit die Risse – ja Gräben – innerhalb des Westens zu Tage treten. Dies zeigte vor allem die Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel und die direkt daran anschließenden Ausführungen von US-Vizepräsident Mike Pence. Die taz brachte die diesbezüglich in München dominierende Grundstimmung griffig auf den Punkt: „Die transatlantischen Beziehungen – im Eimer. Multilateralismus – am Ende. Wie weit der Westen auf den Hund gekommen ist, zeigt sich jetzt.“
Aus welchem Grund die Rede der Kanzlerin allerdings allenthalben hochgelobt wurde, bleibt etwas fraglich. Konflikte benennen ist die eine Sache, konstruktive Lösungen, die über sinnlose Appelle hinausreichen, vorzulegen, die andere – und gerade hieran herrschte in München absolute Mangelware. Und wenn einem nicht viel einfällt (oder einfallen will), wie man aus dem Schlammassel – den man in Teilen ja auch selbst mit zu verschulden hat – wieder herauskommt, dann greift man auf scheinbar Altbewährtes zurück: Aufrüstung!
Schon im Vorfeld gab die MSC die Marschroute vor, indem sie den Teilnehmern und der Öffentlichkeit ins Stammbuch schrieb, man schlittere in eine „neue Ära des Großmächtewettbewerbs“, in der es primär um die „Selbstbehauptung Europas“ gehe. Fünf Themen beherrschten dementsprechend die Konferenz: Erstens die zunehmenden Konflikte mit Russland (China spielte eher eine geringere Rolle); zweitens die eng damit zusammenhängende Frage, wie auf die absehbare Aufkündigung des INF-Vertrages reagiert werden soll; drittens der weitere Ausbau der militärischen EU-Strukturen, der sowohl als Reaktion auf die Konflikte mit Russland als auch mit Blick auf viertens das zunehmend angespannte Verhältnis zu den USA für erforderlich gehalten wird; und schließlich fünftens, wie eigentlich immer in den letzten Jahren: Das Geld!
1. Großkonkurrenz mit Russland
Den Auftakt der vom 15. bis 17. Februar 2019 stattfindenden Konferenz bestritten Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und ihr britischer Amtskollege Gavin Williamson. Der hat sich seit einiger Zeit unter dem Schlagwort „Global Britain“ die „Verteidigung“ der „Regelbasierten Internationalen Ordnung“ auf die Fahnen geschrieben. In diesem Zusammenhang kündigte er in einer Grundsatzrede am 11. Februar 2019 einen erheblichen Ausbau der militärischen Präsenz seines Landes u.a. in der indo-pazifischen Region an. Mit Blick auf Russland machte er in seiner SiKo-Rede keinen Hehl daraus, dass er das Land als einen Widersacher des Westens sieht: „30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer“, so Williamson, sei der „alte Feind wieder zurück im Spiel.“ Es sei erforderlich, „ihren Provokationen zu begegnen [….]. Das russische Abenteurertum muss einen Preis haben.“ Moskau müsse „sich von diesem Pfad abkehren“ und wieder „beginnen, innerhalb der Regelbasierten Internationalen Ordnung zu agieren.“ Im Gegensatz zu solch aggressiver Dampfplauderei mussten sich von der Leyens Ausführungen vergleichsweise vernünftig anhören. Doch auch sie beklagte die „Wiederkehr der Konkurrenz großer Mächte“, um im nächsten Atemzug klarzustellen: „Ob wir wollen oder nicht, Deutschland und Europa sind Teil dieses Konkurrenzkampfs. Wir sind nicht neutral.“
Den Gegenpart übernahm einmal mehr der russische Außenminister Sergei Lawrow, der auf die unzähligen Konflikte verwies, in denen Russland aus seiner Sicht – und absolut nicht zu Unrecht – mit feindseligen Aktionen der NATO konfrontiert wurde. Er spannte dabei den altbekannten Bogen vom Bruch des Anfang der 1990er gegebenen Versprechens keine NATO-Osterweiterung vorzunehmen, über die völkerrechtswidrige NATO-Bombardierung Jugoslawiens Ende der 1990er und die seit Jahren im Aufbau befindliche US-Raketenabwehr bis hin zum Machtwechsel in der Ukraine, den Lawrow – erneut durchaus nachvollziehbar – als „Putsch“ bezeichnete. Auf den eigentlichen Kern dieser Auseinandersetzungen kam Lawrow gleich zu Beginn seiner Rede recht unverblümt zu sprechen: „[D]ie Internationalen Beziehungen befinden sich in einer Phase radikalen Wandels, der mit der These von einem ‚Ende der Geschichte‘ aufräumt.“
Der russische Außenminister spielte hier auf Francis Fukuyamas Anfang der 1990er aufgestellte These vom ultimativen Sieg der westlich dominierten neoliberalen „Regelbasierten Internationalen Ordnung” an. Die Tatsache, dass diverse Staaten diesen Sieg nicht bedingungslos anerkannt und sich untergeordnet in diese Ordnung integriert haben, stellt den Hintergrund für die wachsenden Konflikte zwischen dem Westen und Russland (sowie China) dar. Und einer der wohl wichtigsten Schauplätze, auf dem dieser Konflikt aktuell ausgetragen wird, ist die atomare Rüstungskontrolle – bzw. ihr absehbares Ende.
2. INF-Vertrag: Alle (nuklearen) Optionen offen?
Völlig einig waren sich sämtliche westlichen Vertreter, dass allein Russland für die Suspendierung (und in sechs Monaten wohl Kündigung) des INF-Vertrags zum Verbot subatomarer landgestützter Mittelstreckenraketen (Reichweite 500 bis 5.500km) seitens der USA verantwortlich zu machen sei. So betonte Angela Merkel in ihrer Rede, nach „jahrelangen Verletzungen der Vertragsbedingungen durch Russland“ sei „diese Kündigung unabwendbar gewesen.“
Es blieb aber vor allem NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg vorbehalten, Russland auf der Sicherheitskonferenz ins Stammbuch zu schreiben, was es – zumindest aus Sicht des Militärbündnisses – nun zu tun habe: „Russland hat immer noch die Möglichkeit zur Einhaltung [des INF-Vertrags] zurückzukehren. Wir fordern Russland auf, diese Gelegenheit zu ergreifen und verifizierbar seine Mittelstreckenraketen zu zerstören. Die Uhr tickt. Wir wollen, dass Russland zur Einhaltung zurückkehrt, aber wir bereiten uns auch auf eine Welt ohne INF-Vertrag vor. Und auf eine Welt mit mehr russischen Raketen in Europa. Die NATO hat bereits mit der Arbeit daran begonnen. Und ich werde nicht vorhersagen, was dabei herauskommt.“
Im Gegensatz dazu argumentiert Russland das beanstandete System (SSC-8) hätte eine Reichweite von 480km und würde demzufolge keine Verletzung des Vertrages darstellen. Angebote für Vor-Ort-Inspektionen, um den Sachverhalt zu prüfen, wurden von den USA abgelehnt und dennoch stellt sich die NATO nun also hin und verlangt von Russland, diese Systeme zerstören zu müssen – wäre irgendjemandem ernsthaft am Erhalt des INF-Vertrages gelegen, so sähe eine erfolgversprechende Verhandlungsstrategie sicher anders aus.
Angela Merkel warnte in ihrer Rede zwar immerhin vor „blindem Aufrüsten“, liefert aber keinerlei aussichtsreichen Vorschlag, wie der Vertrag doch noch zu retten wäre. Die von ihr geforderte Einbeziehung Chinas wäre zwar tatsächlich wünschenswert, aufgrund der Tatsache, dass Mittelstreckenraketen im chinesischen Arsenal eine große Rolle spielen, ist sie allerdings etwas illusorisch. Ansonsten war in Sachen INF-Vertrag kein sinnvoller Rettungsversuch zu erkennen, sodass davon auszugehen ist, dass er in knapp sechs Monaten Geschichte sein dürfte.
Wie aus Stoltenbergs Ausführungen klar hervorgeht, ist die NATO in diesem Fall offensichtlich gewillt, kräftig weiter an der militärischen Eskalationsschaube zu drehen. Allerdings drängt sich hier natürlich unmittelbar die Frage auf, wie die im Augenblick laut Stoltenberg in Planung befindlichen NATO-Reaktionen dann aussehen könnten. Hier kam es im unmittelbaren Vorfeld der Konferenz zu einem interessanten Schlagabtausch zwischen Ursula von der Leyen und Rose Gottemoeller, der Vize-Generalsekretärin der NATO. Noch am 13. Februar 2019 erklärte die deutsche Verteidigungsministerin, sie beabsichtige keinesfalls, eine Aufrüstung mit atomaren Mittelstreckenraketen „voreilig“ auszuschließen: „Gerade weil wir am Anfang der Diskussion stehen, ist es eben wichtig, dass wir jetzt nicht anfangen zu hierarchisieren oder einzelne Punkte rausnehmen, sondern wirklich die ganze Palette mit auf dem Tisch liegen lassen.“
Genau in die entgegengesetzte Richtung äußerte sich dagegen Gottemoeller, indem sie klarstellte, die Nato habe „nicht die Absicht, neue landgestützte nukleare Waffensysteme in Europa zu stationieren.“ Fast genauso äußerte sich auch NATO-Generalsekretär Stoltenberg sowohl in seiner SiKo-Rede selbst als auch noch einmal explizit in der anschließenden Fragerunde: „Die NATO beabsichtig nicht, neue landgestützte atomare Mittelstreckenraketen in Europa zu stationieren.“ Allerdings versäumten es weder Stoltenberg noch Gottemoeller sofort daran anschließend die Forderung nach anderen „entschlossenen“ Reaktionen des Westens zu platzieren. Gottemoeller forderte etwa: „Es braucht mehr Verteidigung und Abschreckung angesichts eines aggressiveren Russlands, das mit militärischer Gewalt Grenzen in Europa verändert.“
Denkbar ist dabei entweder, dass die Truppenpräsenz an der NATO-Ostflanke noch weiter aufgestockt wird[2], mit Sicherheit wird aber gleichzeitig auch ernsthaft über die Stationierung neuer Raketensysteme nachgedacht. Das könnte zum Beispiel neue luft- und seegestützte atomare Mittelstreckenraketen einschließen, die sowieso nie vom INF-Vertrag verboten wurden. Oder – und die Äußerungen von Stoltenberg und Gottemoeller deuten ein wenig in diese Richtung – die NATO entscheidet sich für eine Stationierung konventioneller Mittelstreckenraketen, um so der durchaus verbreiteten Sorge unter den europäische Entscheidungsträgern vor Protesten der Bevölkerung ein wenig den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt in diesem Zusammenhang spielte leider kaum eine Rolle, nämlich dass auch der andere wichtige Rüstungskontrollvertrag – „New Start“ zur Limitierung strategischer Atomwaffen (Reichweite über 5.500km) – vor dem Aus zu stehen droht. Der Vertrag läuft 2021 aus und auf die Frage, wie es denn weitergehe, antwortete Lawrow, Russland habe versucht, in Verhandlungen darüber zu treten, bislang aber keine Antwort aus den USA erhalten. Es ist also durchaus im Bereich des Möglichen, dass die Welt, Europa und auch Deutschland in etwa zwei Jahren ohne jegliche Form von Rüstungskontrolle zur Begrenzung atomarer Rüstungsspiralen dastehen könnte.
3. Rüstungsexporte zur Selbstbehauptung Europas?
Angesichts aktueller EU-Zentrifugaltendenzen versuchte die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini in ihrer Rede vor allem Zweckoptimismus zu verbreiten. Nachdem mit der „Europäischen Verteidigungsgemeinschaft“ im Jahr 1954 der erste und bis heute wichtigste Versuch zum Aufbau umfassender EU-Militärstrukturen scheiterte, sei heute das „Europa der Verteidigung nicht mehr länger der unerreichbare Traum unserer Gründer.“ Es seien gerade in der jüngsten Zeit substanzielle „Fortschritte“ erzielt worden: Zum „ersten Mal überhaupt haben wir damit begonnen, ernsthaft in unsere gemeinsame ‚hard power‘ zu investieren – in das Europa der Verteidigung.“ Aus diesem Grund stehe die EU – ungeachtet einiger Widrigkeiten – gar nicht so schlecht da, wenn es ihr gelinge, den eingeschlagenen Weg in Richtung Verteidigungsunion konsequent weiter zu beschreiten: „Die Europäische Union ist eine der wichtigsten globalen Mächte in der Welt – der größte Weltmarkt und die zweitgrößte Weltwirtschaft […]. Und wir haben – und dies ist eine Zahl, die wir manchmal zu vergessen scheinen – zusammen als Europäische Union das zweitgrößte Verteidigungsbudget in der Welt.“
Den Vogel in Sachen „Hauruck-Identitätsbildung“ schoss allerdings Konferenzleiter Wolfgang Ischinger ab, der die Tagung in einem schlechtgemachten Hoodie mit EU-Flagge eröffnete, um so die Notwendigkeit zu unterstreichen, angesichts zunehmender Großmachtkonflikte die europäischen Reihen zu schließen. Dass einige der Probleme, denen sich die EU derzeit gegenübersieht, damit zusammenhängen, dass sich Deutschland und Frankreich rigoros daran gemacht haben, ihre Vorstellung vom „Europa der Verteidigung“ im Sinne ihrer Interessen dem Rest der Union aufzunötigen, blieb dabei auf der gesamten Konferenz selbstredend unerwähnt (siehe IMI-Standpunkt 2019/003).
Doch auch das selbsternannte deutsch-französischen Führungsduo scheint keineswegs so stabil, wie dies teils suggeriert wird. Als Zeichen hierfür wurde etwa gewertet, dass der französische Präsident Emmanuel Macron seine ursprünglich zugesagte Teilnahme an der Sicherheitskonferenz wieder zurückzog und Merkel, so zumindest die Deutung, damit ziemlich im Regen stehen ließ. Schon seit einiger Zeit heißt es, Paris sei vor allem über die vermeintlich allzu restriktiven deutschen Rüstungsexportrichtlinien erbost, die den „Erfolg“ der geplanten deutsch-französischen Rüstungsgroßprojekte, insbesondere des Kampfflugzeugs, gefährdeten.
Aller Wahrscheinlichkeit nach, um hier die Wogen zu glätten und die Realisierung der – strategisch ungemein bedeutsamen – Rüstungsprojekte nicht zu gefährden, ergriff Angela Merkel in ihrer SiKo-Rede vor allem im Bereich Waffenexporte die Initiative: „Wir wollen jetzt gemeinsame Waffensysteme entwickeln, und im Zusammenhang mit dem Aachener Vertrag, den wir jetzt mit Frankreich unterzeichnet haben, hat das Thema der Rüstungsexporte natürlich eine Rolle gespielt. Wenn wir in Europa nämlich keine gemeinsame Kultur der Rüstungsexporte haben, dann ist die Entwicklung von gemeinsamen Waffensystemen natürlich auch gefährdet. Das heißt, man kann nicht von einer europäischen Armee und von einer gemeinsamen Rüstungspolitik oder Rüstungsentwicklung sprechen, wenn man nicht gleichzeitig auch bereit ist, eine gemeinsame Rüstungsexportpolitik zu machen.“
Im Kern geht es dabei darum, die Rüstungsexportrichtlinien in Richtung des kleinsten gemeinsamen Nenners hin zu verwässern – zumindest aber soll sichergestellt werden, dass französische Exporte bei gemeinsamen Projekten nicht durch die, tatsächlich im Verhältnis etwas strengeren deutschen Richtlinien behindert werden. Genau hierauf scheinen sich beide Länder in einem Zusatzabkommen zum deutsch-französischen Aachener Vertrag vom 22. Januar 2019 bereits verständigt zu haben. Aus dem auf den 14. Januar 2019 datierten Dokument mit dem Titel „Deutsch-französische Industriekooperation im Verteidigungsbereich – gemeinsames Verständnis und Prinzipien über Verkäufe“ zitiert u.a. die FAZ: „Die Parteien werden sich nicht gegen einen Transfer oder Export in Drittländer stellen.“ In eigenen Worten erklärt das Blatt dann weiter: „Die Partner könnten nur Bedenken anmelden, wenn direkte Interessen berührt würden oder die nationale Sicherheit gefährdet sei.“
Hierbei handelt es sich in der Tat um eine Frage von immenser Tragweite: Ohne Rüstungsexporte lassen sich die anvisierten Großprojekte aufgrund einer zu niedrigen heimischen Auftragslage nicht realisieren. Gerade das deutsch-französische Kampfflugzeug und der Kampfpanzer sind aber die Grundlage für den Aufbau eines starken rüstungsindustriellen Komplexes, der die Union in die Lage versetzen könnte, „strategische Autonomie“ zu erlangen. Gemeint ist damit die Möglichkeit, militärisch auch ohne die USA handlungsfähig zu sein, was inzwischen als wesentliche Priorität in nahezu jedem EU-Dokument auftaucht. Zwar sei niemandem an einem Ende des Bündnisses mit den Vereinigten Staaten gelegen, so eine kürzliche Einordnung des EU-eigenen „Institute for Security Studies“ zur Frage, was mit „strategischer Autonomie“ eigentlich genau bezweckt werde. Aber angesichts aktueller Dynamiken könne niemand wissen, ob das Bündnis bestand habe, weshalb die Europäische Union sich „zur Rückversicherung“ darauf vorbereitet müsse, notfalls militärisch auf eigenen Füßen stehen zu können. Und da dies eben ohne Rüstungsexporte nicht möglich ist, wird an den deutschen Richtlinien nun direkt oder indirekt die Axt angesetzt!
4. Schlagabtausch mit den USA
In den beiden vorherigen Jahren wurden auf der Sicherheitskonferenz eher versöhnliche Töne in Richtung USA angeschlagen – davon konnte in diesem Jahr nur noch bedingt die Rede sein. Vermutlich waren die europäischen Entscheidungsträger lange noch optimistisch, den „Trump-Drachen“ reiten zu können, indem einfach über befreundete Regierungsmitglieder agiert würde. Die wurden aber einer nach dem anderen aus der US-Regierung entfernt, zuletzt hatte die Ablösung des dezidiert proatlantischen Verteidigungsministers James Mattis regelrechte Schockwellen ausgelöst. So bestehen inzwischen wohl ernsthafte Sorgen, dass es zu einem dauerhaften Bruch im amerikanisch-europäischen Verhältnis kommen könnte – zumal eine Wiederwahl von US-Präsident Donald Trump, dem Epizentrum der aktuellen transatlantischen Konflikte, derzeit keineswegs ausgeschlossen erscheint.
Schon beim Konferenzauftakt begegnete Ursula von der Leyen der absehbaren US-Kritik, dass die Verbündeten zu wenig Geld in die Hand nehmen würden, mit dem Konter, auch Washington weise an entscheidenden Punkten Defizite auf: „Natürlich geht es in der NATO um cash, capabilities and contributions. Aber genauso umdignity, decency and dependability. Nur wenn uns das zu einen gelingt, wahrt die NATO ihren Zusammenhalt und ihre innere Stärke.“ Ganz konkret und deutlich wurden die Konflikte aber in den nacheinander folgenden Reden von Angela Merkel und Mike Pence. Ohne dies hier in epischer Breite ausführen zu müssen, verdeutlichten sie in nahezu jeder Sachfrage Dissens: Vom Umgang mit dem Iran über die umstrittene Pipeline „North-Stream 2“ bis hin zu den schon länger andauernden Auseinandersetzungen über die Höhe der Rüstungsausgaben.
Besonders erbost zeigte sich die Kanzlerin in ihrer SiKo-Rede ob der von den USA geplanten Einführung von Schutzzöllen auf Automobile, die vor allem Deutschland finanziell erheblich treffen würde: „Wenn es uns mit der transatlantischen Partnerschaft ernst ist, dann ist es für mich als deutsche Bundeskanzlerin zumindest nicht ganz einfach, jetzt zu lesen, dass offensichtlich ich habe es noch nicht schriftlich vor Augen gehabt das amerikanische Handelsministerium sagt, europäische Autos seien eine Bedrohung der nationalen Sicherheit der Vereinigten Staaten von Amerika. Schauen Sie: Wir sind stolz auf unsere Autos; und das dürfen wir ja auch sein. […] Wenn diese Autos […] plötzlich eine Bedrohung der nationalen Sicherheit der Vereinigten Staaten von Amerika sind, dann erschreckt uns das.“
Als Kontrapunkt zu Pence wurde dann auch Joe Biden – u.a. Irak-Kriegsbefürworter und Vizepräsident unter Obama – als Vertreter der „guten US-Kriegspolitik“ präsentiert und ausführlich Platz auf der Sicherheitskonferenz eingeräumt. So nachvollziehbar sie also ist: Angesichts der offensichtlich bevorzugten Alternative sollte man gegenüber der herrschaftlich an den Tag gelegten Trump-Kritik Vorsicht walten lassen: Schließlich wurden hier nicht Bernie Sanders, Alexandria Ocasio-Cortez oder vielleicht auch Michael Moore eingeladen, um das „gute Amerika“ zu repräsentieren. Nein, ein expliziter Exponent der früheren US-Kriegspolitik musste es sein und das war eben kein Zufall – und ob die auch nur einen Jota besser war, als das Chaos, das Trump und seine Truppe derzeit anrichten, kann zumindest bezweifelt werden.
In jedem Fall stieß der von Mike Pence recht nassforsch formulierte Führungsanspruch der USA recht gründlich auf Kritik, wenn etwa Volker Perthes, Chef der Regierungsberater von der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ (SWP), kommetierte: „Es ist interessant, wie der US-Vizepräsident bei der Münchner Sicherheitskonferenz sein Verständnis von Führung offenbart. Es besagt im Wesentlichen, anderen Nationen zu sagen, was sie zu tun haben.“
Es geht also vor allem darum, dass die EU ihren – scheinbar – angestammten Platz am Tisch der Weltmächte für sich reklamiert: Mit den USA wenn möglich – ohne sie, wenn nötig!
„Wir bleiben Teamspieler – und das ist unser Angebot“, so Außenminister Maas bei der Sicherheitskonferenz generös nicht zuletzt mit Blick auf die USA. Sollten die aber nicht mitspielen wollen, so die unausgesprochene Drohung im Hintergrund, werde man auch für diesen Fall gewappnet sein. Der Wille, sich macht- und militärpolitisch unabhängiger von den USA zu machen, ist offensichtlich gewachsen und drückt sich auch in Kommentaren zur Sicherheitskonferenz, wie dem im Handelsblatt aus: „Im multipolaren Wettkampf um Wohlstand und Einflusszonen ist Europa auf sich allein gestellt. Unter US-Präsident Donald Trump verstehen sich die USA nicht als Bündnispartner der EU. Sie begreifen sich als Gegner. […] Europa steht vor Entscheidungen von historischer Dimension. Entweder es findet die Kraft, zum machtpolitischen Akteur zu werden. Oder es wird zum Spielball der Interessen anderer. Selbstbehauptung oder Fremdbestimmung – darum geht es.“
5. Rüstungshaushalte: Anstieg um 350 Mrd.!
Mit Ansage kam erneut der Rüffel aus den USA angesichts von – aus Sicht Washingtons – unzureichender Rüstungsbemühungen seitens der Alliierten und insbesondere Deutschlands. Im Zentrum steht dabei seit einigen Jahren die US-Forderung, alle NATO-Verbündeten sollten mindestens zwei Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes für das Militär ausgeben. Näher betrachtet mutet das US-Getöse allerdings doch mehr als seltsam an: Schließlich stiegen die NATO-Militärausgaben nach Eigenangaben von 895 Mrd. Dollar (2015) auf geschätzte 1013 Mrd. Dollar (2018) in den letzten Jahren steil an. Auch der Anteil der europäischen Staaten kletterte im selben Zeitraum deutlich, wie NATO-Generalsekretär Stoltenberg auf der SiKo stolz verkündete: „Seit 2016 haben die Verbündeten in Europa und Kanada zusätzlich 41 Mrd. Dollar für Verteidigung ausgegeben.“ Bis 2024 sollen die Ausgaben sogar noch einmal deutlich drastischer ansteigen berichtete Stoltenberg laut Zeit Online Ende Januar 2019: „Der Etat der Nato-Partner der Vereinigten Staaten werde sich im Jahr 2020 um rund 100 Milliarden US-Dollar erhöhen. Das gab Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos in der Schweiz bekannt. Bis Ende 2024 soll das Budget sogar um 350 Milliarden US-Dollar steigen.“
Deutschland ist hier einer der wesentlichsten Faktoren für diesen dramatischen Anstieg, wie u.a. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen in ihrer Rede zufrieden unterstrich: „Der deutsche Verteidigungshaushalt ist seit 2014 um 36% nach NATO-Kriterien gestiegen. Und wir haben einen klaren Plan: Weißbuch und Fähigkeitsprofil zeigen im Detail, wie wir unsere Bundeswehr bis 2024 modern ausstatten werden. Damit wird unser Budget zehn Jahre nach Wales [2014] um 80% gewachsen sein.“
In Zahlen ausgedrückt hat die Bundesregierung in ihrem letzten Ausgabenplan an die NATO zugesichert, den Militärhaushalt von 43,2 Mrd. Euro 2019 auf ca. 60 Mrd. Euro 2024 noch einmal extrem anzuheben – und ihn danach auch noch weiter zu erhöhen! Hierzu berichtete Spiegel Online Anfang Februar 2019: „[D]er deutsche Botschafter [übergab] bei der Allianz dem Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg ein Dokument, in dem sich die deutsche Regierung verbindlich dazu bekennt, die Wehrausgaben bis 2024 auf 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen. ‚Dieser Anstieg soll nach 2024 fortgesetzt werden‘, heißt es nach Informationen des SPIEGEL in dem Schreiben. […] Die verbindliche Festlegung überrascht trotzdem, da es innerhalb der Koalition in den vergangenen Monaten heftige Spannungen über die Verteilung des Haushalts gab.“
Tatsächlich hatte Reuters noch Anfang Februar 2019 von Widerständen innerhalb des sozialdemokratischen Finanzministeriums gegenüber solch drastischen Ausgabensteigerungen berichtet. Davon ist nun augenscheinlich keine Rede mehr, schließlich waren sich gerade die deutschen Vertreter auf der Sicherheitskonferenz zumindest über eine Sache völlig einig: Aufrüstung ist das Gebot der Stunde!
Anmerkungen
[1] Auch Außenminister Heiko Maas griff den Bericht gleich zu Anfang seiner Rede auf: „Im diesjährigen Bericht zur Sicherheitskonferenz wird eine Welt beschrieben, die in ihre Teile zerfällt. Und seien wir ehrlich: Mit dem Aufheben dieser Teile ist es längst nicht getan. Um die Teile zusammenzufügen, braucht es eine neue Übersicht. Den Blick dafür, wie sich die Dinge neu fügen oder auch verkanten können, bei alldem, was sich um uns herum verändert.“
[2] So forderte etwa Joachim Krause vom Kieler Institut für Sicherheitspolitik (ISPK) nicht lange vor Beginn der Sicherheitskonferenz im Deutschlandfunk eine massive Aufstockung der Truppenpräsenz an der NATO-Ostfront: „Es ist also eine derzeit symbolische Präsenz, und die muss durch eine reale Präsenz erhöht werden. […] Da müsste man schon in einer Größenordnung von mindestens einer Division pro baltischem Staat und wahrscheinlich auch noch in Polen reden. Das ist sozusagen das Mindeste, was sie brauchen, um dort überhaupt eine Verteidigungsfähigkeit herzustellen. […] Ungefähr 30-, 40.000 Soldaten aus anderen Ländern der NATO, sei es aus Deutschland, aus Frankreich, aus Großbritannien, USA, Holland oder was weiß ich nicht wo, müssten dort stationiert sein.“