Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de

[0509] ITEC: Rüstungsregion Stuttgart / Studie: Gegenkonversion

(20.03.2018)

———————————————————-
Online-Zeitschrift „IMI-List“
Nummer 0509 ………. 21. Jahrgang …….. ISSN 1611-2563
Hrsg.:…… Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.
Red.: IMI / Jürgen Wagner / Christoph Marischka
Abo (kostenlos).. https://listi.jpberlin.de/mailman/listinfo/imi-list
Archiv: ……. https://www.imi-online.de/mailingliste.php3
———————————————————-

Liebe Freundinnen und Freunde,

in dieser IMI-List findet sich

1.) eine neue IMI-Studie zur „Gegenkonversion“, der zunehmenden Wiederaneignung von Flächen durch die Bundeswehr;

2.) eine IMI-Analyse zur in Kürze stattfindenden Rüstungsmesse ITEC und ihrer „Verankerung“ in der Stuttgarter Region.

1.) Studie: Konversion rückwärts

IMI-Studie 2018/03
Konversion rückwärts:
Wiederaufrüstung in Baden-Württemberg

Konversion rückwärts:


https://www.imi-online.de/download/IMI-Studie2018-3_Gegenkonversion-Web.pdf
Alexander Kleiß (19. März 2018)

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung – 1
2. KSK-Standort Calw und die Suche nach einem neuen Absprunggelände – 2
3. Carl-Schurz-Kaserne in Hardheim – 6
4. Coleman-Areal in Mannheim – 10
5. Fazit – 11
Anmerkungen – 15

Die 16seitige Studie kann auch als Zehnerpack zum Selbstkostenpreis (10 Euro inkl. Porto) bestellt werden: imi@imi-online.de

2010 war die Neuausrichtung der Bundeswehr beschlossen worden, welche unter anderem die Aussetzung der Wehrpflicht und eine deutliche Reduzierung des Streitkräfteumfangs beinhaltete. 2011 folgte das entsprechende Stationierungskonzept: Der Personalumfang sollte allein in Baden-Württemberg um mehr als 10.000 Dienststellen reduziert werden. 13 Standorte sollten hier geschlossen oder signifikant reduziert werden, unter anderem der Standort Hardheim. Dadurch sollten mehrere Flächen ihren Status als militärisches Sperrgebiet verlieren. Somit stand einer Konversion zahlreicher vormals militärisch genutzter Flächen nichts mehr im Wege. Konversion ist eine Bezeichnung für die Umwidmung militärischer Liegenschaften für zivile Zwecke.

Doch nicht nur Flächen, die vorher durch die Bundeswehr genutzt wurden, hatten die Perspektive auf eine zivile Nutzung. Auch die US-Armee hatte bekannt gegeben, einige zuvor militärisch genutzte Flächen aufgeben zu wollen, was vor allem den Raum Mannheim / Heidelberg betraf. Die Stadt Mannheim richtete 2010 eine Geschäftsstelle „Konversion“ ein, um die Überführung in die zivile Nutzung zu koordinieren.

Konversion kann für die von Standortschließungen betroffenen Gemeinden und Städte durchaus auch wirtschaftlich positive Effekte haben. Eine Studie aus dem Jahr 2010, die über 100 Regionen, in denen Bundeswehrstandorte geschlossen wurden, untersucht, kommt zu dem Ergebnis, dass die Schließung von Bundeswehrstandorten keinen signifikant negativen Einfluss auf die sozioökonomische Situation in der Umgebung hatte: „[…] in Deutschland hatten Standortschließungen kaum Auswirkungen auf die lokale Wirtschaft. Standortschließungen, die als Teil der Modernisierung der Bundeswehr ab 2003 umgesetzt wurden, hatten keinen signifikanten sozioökonomischen Effekt auf die umliegenden Gemeinden.“ Die wirtschaftlichen Auswirkungen von Militärstützpunkten auf die Umgebung würden überschätzt. Außerdem habe die Konversion der militärischen Liegenschaften äußerst positive Einflüsse auf die Umgebung gehabt: „Durch die Konversion und die Folgenutzung dieser Militärbasen wurden neue Arbeitsplätze geschaffen und diejenigen, die ihre Stelle verloren hatten, konnten oft neu beschäftigt werden, was die negativen Auswirkungen von Standortschließungen abschwächt. Diese neuen (zivilen) Entwicklungsprojekte erzeugen voraussichtlich einen substanziellen Anstieg an Steueraufkommen […]“.

Wie oben beschrieben standen die Zeichen 2010 bis 2012 auf Konversion. Mittlerweile ist ein gegenläufiger Trend zu beobachten. Sowohl das deutsche als auch das US-amerikanische Verteidigungsministerium revidierten Entscheidungen in Fällen, in denen Konversion vorgesehen war. Aufgegebene Flächen werden wieder in Betrieb genommen, Konversions- und Standortschließungsprozesse werden verzögert und nun sollen sogar bisher zivile Flächen künftig militärisch genutzt werden.

Dieser aktuelle Trend lässt sich mit dem neu einzuführenden Begriff „Gegenkonversion“ beschreiben.

Ganze Studie hier: https://www.imi-online.de/2018/03/19/konversion-rueckwaerts/

2.) ITEC und Rüstungsregion Stuttgart

IMI-Analyse 2018/06
Rüstung ohne Schwermetall
Die ITEC und der militärisch-forschungsindustrielle Komplex im „Ländle“

Rüstung ohne Schwermetall


Christoph Marischka (20. März 2018)

Von 15. bis 17. Mai 2018 wird neben dem Stuttgarter Flughafen die High-Tech-Rüstungsmesse ITEC stattfinden. Obgleich Rheinmetall als „Platin-Sponsor“ noch eher mit den Panzern Marder, Boxer und Leopard assoziiert wird,[1] liegt der Schwerpunkt der Messe nicht auf schwerem Metall und Gerät, sondern explizit auf militärischen Trainings- und Simulationsumgebungen wie beispielsweise Flugsimulatoren. In den vergangenen Jahren haben solche Technologien auch für das Heer und insbesondere Spezialkräfte an Relevanz gewonnen, die ihre Einsätze teilweise in maßstabsgetreuen Nachbauten der Einsatzorte, zunehmend aber auch in virtuellen Abbildern der betreffenden Gebäude oder auch Stadtviertel vorbereiten. Auch jenseits detailliert vorbereiteter Zugriffe hat die virtuelle Realität an Bedeutung für Ausbildung und Training zugenommen. So wirkt das Gefechtsübungszentrum des Heeres (GÜZ) in der Colbitz-Letzlinger Heide auf den ersten Blick wie ein normaler, wenn auch mit seiner Übungsstadt „Schnöggersburg“ aufwändig ausgestatteter Übungsplatz. Zu einem der „weltweit modernsten militärischen Übungszentren“ wird es durch Systemtechnik des Geschäftsbereichs Simulation und Training[2] von Rheinmetall: „Große Teile der Übungsgefechte werden per Lasertechnik simuliert. Truppenbewegungen, Schüsse und Treffer werden per EDV kontrolliert und ausgewertet“.[3]

Darüber hinaus verschwimmen Trainingsumgebung und realer Einsatz zunehmend im Zuge der aktuellen High-Tech-Kriegführung. Am Beispiel der Steuerung unbemannter Flugzeuge lässt sich z.B. veranschaulichen, dass der/die Pilot*in objektiv gar nicht unterscheiden könnte, ob es sich um einen virtuellen Übungseinsatz oder eine tatsächliche Mission mit womöglich tödlichen Folgen handelt. Die „erweiterte Realität“, in der die tatsächliche Umwelt mit visualisierten Informationen aus Datenbanken usw. angereichert wird, ist für viele Nutzer*innen von Smartphones bereits Alltag, hat ihren Ursprung aber oft in militärischen Führungs- und Informationssystemen. So gehört es zu den grundlegenden Funktionen militärischer Lagezentren, aktuelle Informationen aus dem Gefechtsfeld z.B. auf Karten zu visualisieren und mit Kontextinformationen zu verknüpfen. Systeme wie der „Infanterist der Zukunft“ der Bundeswehr – erprobt natürlich zunächst von Spezialkräften – streben nun danach, auch die Kräfte im Feld in einer „erweiterten Realität“ agieren zu lassen, die z.B. auf Karten eigene und mutmaßliche feindliche Stellungen mitsamt der verfügbaren Waffensysteme, ihrer Reichweite und Reaktionszeit darstellt.

Damit gewinnt die ITEC als Messe für bereits zuvor durchaus profitable, aber eher periphere Produkte der Rüstungsindustrie beträchtlich an Relevanz. Zentrale Themen hier sind bereits seit Jahren virtuelle und erweiterte Realität, Künstliche Intelligenz und die Verarbeitung von Big Data sowie die sog. „Human Factors“, also die Anpassung maschinell aufbearbeiteter Daten an die menschliche Wahrnehmung. Als besonderer und neuer Themenschwerpunkt in diesem Jahr werden die „Chancen des Dual-Use“[4] benannt. Auf der Homepage der ITEC 2018 heißt es: „Ereignisse wie in Paris, Barcelona und London haben die Gefahren veranschaulicht, mit denen zivile Sicherheitskräfte umgehen müssen. Im gegenwärtigen Klima erwartet man von den (zuerst eintreffenden) Einsatzkräften, einzelne Terroristen mit automatischen Waffen in belebten Straßen zu eliminieren und zugleich Verwundete mit einer Reaktionszeit zu versorgen, die einem militärischen Schlachtfeld entspricht. Die Rolle von Simulation und Training für Polizei-, Feuerwehr- und Rettungskräften wird gleichbedeutend mit derjenigen für militärische Kräfte und das bedeutet, dass die Trainingsmethoden sich immer ähnlicher werden“.[5] Das ist tatsächlich erstaunlich nah an der Wahrnehmung des Baden-Württembergischen Innenministeriums, das in den vergangenen Jahren die Streifenwagen der Polizei mit Maschinengewehren ausrüsten und deren Besatzung in der Terrorbekämpfung ausbilden ließ.[6]

Wo die ITEC auf ihrer Homepage aber den diesjährigen Austragungsort Stuttgart vorstellt, geht es vor allem um Kultur und Architektur, „bunte Märkte“ und andere Freizeitangebote. Erwähnt wird außerdem, dass die Stadt „die Wiege der Mobilität“ sei, da hier Wilhelm Maybach und Gottlieb Daimler eines der ersten Automobile entworfen hätten und Mercedes-Benz und Porsche bis heute große Produktionsanlagen in der Stadt unterhalten. Betont wird zusammenfassend, dass hier „Tradition und Innovation Hand in Hand“ gingen.[7]

Militärische Standorte um Flughafen und Messe

Und trotzdem beschleicht einen der Eindruck, dass die Autor*innen des Textes die wahren Bezüge zwischen Messe und Region entweder gar nicht erfasst haben, oder bewusst verschweigen. Das beginnt bereits mit dem Austragungsort der Messe, der ja nicht in der Stadt selbst liegt, sondern neben deren Flughafen. Der liegt zwar direkt neben der Autobahn A8, ist mit öffentlichem Nahverkehr allerdings eher schlecht zu erreichen. Der Flughafen selbst hat wie viele Flughäfen eine militärische Geschichte und bis heute einen militärisch genutzten Teil, der einen guten Kilometer südlich der Messehallen liegt und vom US Army Special Operations Command betrieben wird. Zu diesem gehört auch ein Hubschrauberlandeplatz, der gemeinsam von der US Army und der Landespolizei genutzt wird. Auf dem Gelände des militärisch genutzten Teils des Flughafens ist heute noch ein Hangar in Betrieb, in dem ab November 1944 jüdische Zwangsarbeiter untergebracht wurden. Außerdem befindet sich hier ein Gräberfeld für die Leichen von 34 ehemaligen Häftlingen, die 2005 bei Baumaßnahmen entdeckt wurden. Außerhalb des militärischen Sperrgebietes erinnert seit 2010 die Gedenkstätte „Wege der Erinnerung“ an das ehemalige KZ-Außenlager Echterdingen.[8]

Gut fünf Kilometer nördlich der Messehallen quasi in Sichtweite über die Autobahn hinweg befinden sich die Kelley Barracks, in denen seit 2007 das US-Oberkommando für Afrika (AfriCom) untergebracht ist und von dem aus nicht nur zahlreiche Operationen der US-Army in Libyen, West- und Zentralafrika, sondern auch tödliche Drohneneinsätze u.a. in Somalia koordiniert werden. Etwa zehn Kilometer nordwestlich an der A8 bzw. am südlichen Rand des Stuttgarter Talkessels entlang befinden sich am Rande des Stadtbezirks Vaihingen die Patch Barracks, Sitz des EUCOM, dem Oberkommando der US-Streitkräfte für Europa und das russische Territorium. Fünf Kilometer südlich von diesem und zehn Kilometer westlich der Messehallen erstrecken sich im Böblinger Wald großflächig die „Panzer“-Baracken der US-Spezialkräfte, die wahlweise unter dem Kommando des EUCOM oder des AfriCom eingesetzt werden können. Im Waldgebiet zwischen Böblingen und Vaihingen, das fast nur durch die Autobahnen A8 und A81 durchschnitten wird, befinden sich weitere militärische Einrichtungen, darunter ein Schießstand der Bundeswehr und die Kampfmittelbeseitigungsanlage des Landes Baden-Württemberg. Inwiefern auch der direkt gegenüber dem EUCOM im Autobahnkreuz gelegene, angeblich leerstehende aber gut bewachte Eiermann-Campus als ehemaliger Hauptsitz des IBM-Konzerns in Deutschland mit seinem Sendeturm in die militärische Infrastruktur eingebunden war oder ist, bleibt hingegen bislang Gegenstand von Spekulationen.

Nordwestlich von Stuttgart: Thales und Atos

Etwas weiter westlich der Panzer Baracken befindet sich der Hauptstandort des Kommandos Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr sowie ein Forschungscampus der Firma Bosch, der bislang auch vom KSK für Übungen genutzt wurde. Mehr noch als die im engeren Sinne militärischen Liegenschaften im Großraum Stuttgart weisen jedoch v.a. die dortigen High-Tech-Betriebe und Forschungseinrichtungen enge Bezüge zur ITEC und den dort behandelten Themen auf. Folgt man etwa der A81 nach ihrer Abzweigung von der A8 in nördliche Richtung, so beginnt nach dem Engelbergtunnel und einigen Feldern westlich der Autobahn die Bebauung der kleinen Stadt Ditzingen mit dem in den letzten Jahren umfangreich ausgebauten deutschen Hauptsitz des Rüstungsunternehmens Thales, nach Rheinmetall wichtigster Sponsor der diesjährigen ITEC. Das Unternehmen entstand aus der politisch gewollten Zusammenlegung der Rüstungssparten verschiedener französischer Unternehmen und ist neben der Luft- und Raumfahrt v.a. auf militärische Kommunikations- und Informationssysteme spezialisiert. Da sich in den vergangenen Jahren jedoch die Anforderungen ziviler und militärischer Datenverarbeitung und -übertragung aufeinander zubewegt haben, kann das Unternehmen Thales auch zunehmend auf „zivilen“ Märkten agieren und entsprechende Forschungsgelder aquirieren. Nach Angaben des Rechercheprojektes ‚Security for Sale‘ war Thales jener Konzern, der am umfangreichsten von den EU- Forschungsprogrammen FP7 und Horizon2020 profitierte.[9] Hierbei wurden unter reger Beteiligung klassischer Rüstungsunternehmen Szenarien für die „zivile Sicherheit“ ausgearbeitet und daraus Fragestellungen abgeleitet, die dann in hunderten Einzelprojekten von Forschungsverbänden aus Unternehmen, Universitäten bzw. Forschungseinrichtungen und „Anwendern“, also häufig Polizeien und Sicherheitsbehörden, bearbeitet wurden. Die meisten Projekte bezogen sich auf Sensorik/Datenerfassung, die Aufarbeitung von Daten für Mensch-Maschine-Schnittstellen (Bildschirme, Lagezentren usw) sowie die sichere Kommunikation zwischen Sensorik, Auswertungs- und Lagezentren sowie Einsatzkräften. Aus diesem für die Projekte typischen Design und der aktiven Rolle von Thales bereits in der Konzeption der Forschungsprogramme erklärt sich auch die herausragende Rolle des Konzerns unter den Nutznießer*innen. Ähnliches gilt für den Mega-Konzern ATOS, der in Sichtweite des Thales-Hauptsitzes in Ditzingen im benachbarten Weilimdorf neuerdings ebenfalls eine Niederlassung unterhält. ATOS ist auf Großkunden, also staatliche Behörden und Unternehmen mit vergleichbaren Ausmaßen, ausgerichtet und seine Aufgabe besteht hier in der Systemintegration, also der Abstimmung der verschiedenen Komponenten von Kommunikations- und Informationsnetzwerken aufeinander. Auch dieses Profil passt bestens zum Design der EU-Forschungsprogramme und entsprechend war ATOS nach Thales, Finmeccanica (heute: Leonardo), Airbus (allesamt auf der ITEC vertreten) und dem staatlichen finnischen Forschungszentrum VTT deren fünftgrößter unternehmerischer Nutznießer.[10]

Rüstungsforschung für die „zivile Sicherheit“

Um den Zusammenhang zwischen Rüstungsindustrie und Sicherheitsforschung besser zu verstehen, hilft es, der A8 gut sechzig Kilometer weiter in westlicher Richtung nach Karlsruhe zu folgen. Hier und im benachbarten Ettlingen waren das Fraunhofer Institut für Informations- und Datenverarbeitung (IITB) und das FGAN-Institut für Optronik und Mustererkennung (FOM) angesiedelt, bevor sie 2010 zum Fraunhofer Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung (IOSB) fusioniert wurden. Die Fusion ging auf die Initiative des Bundesverteidigungsministeriums (BMVg) zurück, das zuvor das FOM fast alleine, das IITB jedoch nur zu einem kleineren Teil finanziert hatte. Das BMVg erhoffte sich durch deren Fusion eine bessere Anbindung an die zivile Wissenschaft und eine schnellere Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in militärische wie auch zivile Produkte.[11] Als Katalysator hierfür dienten die vom BMVg noch vor ihrer Bekanntgabe explizit benannten, oben genannten Forschungsprogramme, welche eine enge Einbeziehung (ziviler) Anwender*innen und der Rüstungsindustrie in konkrete, szenarienbasierte Forschung gewährleisteten. Der Plan ging erstaunlich gut auf: Aus dem von älteren Herren dominierten und unter militärischer Geheimhaltung agierenden FOM wurde das nach eignen Angaben größte Institut im Feld der Bildgewinnung, Bildverarbeitung und Analyse Europas mit besten Beziehungen in die Universitäten, Behörden, zur Rüstungsindustrie und zur Bundeswehr. Entsprechend forschte das IOSB in den Folgejahren nicht nur gemeinsam mit der Bundeswehr an der Optimierung der Bildauswertung der Luna-Drohne (u.a. in Afghanistan), sondern auch mit Thales, Airbus, der (damaligen) Carl Zeiss AG und dem Deutschen Zentrum Luft- und Raumfahrt (DLR) zur vermeintlich zivilen Überwachung des Mittelmeers mit Satelliten, Drohnen und Sensorbojen u.a. zur Bekämpfung illegalisierter Migration. 2015 unterzeichneten auch das IOSB und Atos einen Kooperationsvertrag.

Ein militärisch-forschungsindutrieller Komplex im Ländle

Dass sich Deutschland und der Cluster in Baden-Württemberg in der Europäischen Sicherheitsforschung gut positionieren konnten, ist nicht nur der vorausschauenden Umstrukturierung der zivilen und militärischen Forschungslandschaft zu verdanken, sondern auch einem parallel zu den EU-Programmen im Jahr 2007 angelaufenen Programm nationaler Sicherheitsforschung im Rahmen der High-Tech-Strategie der Bundesregierung, das seit dem über 540 Millionen Euro aus dem Budget des Bundesforschungsministeriums und mehr als 122 Millionen Euro aus der Industrie erhielt.[12] Angekündigt wurde das Programm 2006 auf der ersten und seither regelmäßig stattfindenden Konferenz „Future Security“ des Fraunhofer-Verbunds Verteidigungs- und Sicherheitsforschung (VVS) am Standort des damaligen FOM in Ettlingen von der damaligen Bundesbildungsministerin Annette Schavan,[13] die zuvor (bis 2005) zehn Jahre lang Kultusministerin des Landes Baden-Württemberg war.

Mit dem im November 2017 verabschiedeten neuen Polizeigesetz Baden-Württemberg schuf das Land erneut beste Bedingungen für die zeit- und praxisnahe Umsetzung neuer Technologien: Mit dem neuen Gesetz habe das Land „erstmals einen rechtlichen Rahmen für solche Methoden“ geschaffen, frohlockte das IOSB und kündigte an, dass „[d]as am Fraunhofer IOSB entwickelte, computergestützte Investigationssystem ivis-X für die digitale Forensik“ nun „erstmals in der realen Anwendung getestet und weiterentwickelt werden“ könne.[14] Fast könnte man meinen, bei dem neuen Polizeigesetz, mit seinen schweren und tw. bizarren Angriffen auf Grundrechte[15] gehe es v.a. um Forschungs- und Industrieförderung. Tatsächlich jedoch hatte das IOSB (bzw. sein Vorgängerinstitut IITB) bereits andere Tests unter realitätsnahen Bedingungen durchgeführt: Mehrfach wurden große Musik-Festivals mit Ballonkameras und Drohnen von oben gefilmt und die gewonnenen Bilder in einem Container mit Kartendaten aufbereitet auf einem Lagetisch dargestellt, der auch von den Festivalbesucher*innen begutachtet werden konnte.[16] Dass es sich hierbei um eine Erprobung der Systeme AMFIS und „Digitaler Lagetisch“ handelte, die das IOSB im Auftrag des Bundesverteidigungsministerium entwickelt hatte, wurde den Besucher*innen – soweit bekannt – allerdings nicht mitgeteilt. Weitere Erprobungen des im militärischen Auftrag entwickelten Systems fanden bei Übungen u.a. mit der Feuerwehr Mannheim statt.[17]

Künstliche Intelligenz und Big Data

Dem Thema „Öffentliche Sicherheit – intelligente Videoauswertung“ hat das Fraunhofer IOSB 2017 eine Schwerpunktausgabe seiner Zeitschrift visIT gewidmet, in der neben der „Forensische[n] Bildanalyse“ auch die „Sensorbasierte Verhaltensanalyse“, die „Gesichtswiedererkennung in Videomassendaten“ und ein „Video-basiertes Assistenzsystem für die Sicherheit von Großveranstaltungen“ vorgestellt werden.[18] Wie sich bereits in den genannten Titeln andeutet, ist hierbei die „Auswertung … großer Datenmengen“ ein zentrales Thema – und damit die künstliche Intelligenz. Das führt uns zu einem weiteren Großprojekt der deutschen Forschungspolitik in Baden-Württemberg, das sog. Cyber Valley. Die zugrundeliegende Kooperation wurde am 16. Dezember 2016 im Stuttgarter Neuen Schloss von Ministerpräsident Winfried Kretschmann und dem Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft feierlich begründet: Neben den Universitäten Stuttgart und Tübingen beteiligen sich die Unternehmen Bosch, Daimler, Porsche, BMW, ZF Friedrichshafen und Facebook, später ist noch Amazon hinzugekommen. Ziel ist es, „die Forschungsaktivitäten von internationalen Key-Playern aus Wissenschaft und Industrie auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz“ zu bündeln: „Gefördert durch das Land Baden-Württemberg werden die Cyber Valley-Partner neue Forschungsgruppen und Lehrstühle auf den Gebieten Maschinelles Lernen, Robotik und Computer Vision schaffen und in einem neuen Zentrum in der Region Stuttgart-Tübingen zusammenführen… Erklärtes Ziel von Cyber Valley ist es, die Ergebnisse der Grundlagenforschung rasch zur Anwendung zu bringen“.[19]

Grob räumlich definiert ist das Cyber Valley durch den erst letztes Jahr fertiggestellten, neueren Standort des MPI für Intelligente Systeme in Tübingen und den Standort bei Stuttgart-Vaihingen, der seit 2011 besteht. Hervorgegangen ist der Stuttgarter Standort aus dem ehemaligen Max-Planck-Institut (MPI) für Metallforschung, das wiederum eine sehr ausgeprägte militärische Geschichte aufweist. Der damalige Präsident der Kaiser-Wilhelms-Gesellschaft (KWG) und heutige Namensgeber Max Planck habe den Umzug von Berlin nach Stuttgart 1933 sogar explizit wegen der „Nähe zu Friedrichshafen“ begrüßt, „mit Zeppelin und Dornier traditioneller Standort der deutschen Luftfahrtindustrie“.[20] Die heute – ebenso wie Daimler – wieder am Cyber Valley beteiligte ZF Friedrichshafen AG war 1915 eine Ausgründung eben jener Zeppelin GmbH und ist zu einem großen Teil in der Rüstung aktiv.

Laserwaffenforschung am Campus Vaihingen

Gebaut wurde das damalige KWG-Gebäude in der Stuttgarter Seestraße. Nach der Umbenennung und Umsturkturierung in ein MPI ist das Institut bis 2002 in einen Neubau am Rande des Ortsteils Büsnau umgezogen und liegt dort nur gut 500 Meter nördlich des EUCOM in einer auf den ersten Blick idyllischen Landschaft. Einen guten Kilometer östlich des MPI, über den Katzenbach und durch ein Rotwildgehege, hat das Institut für Technische Physik des Deutschen Zentrums Luft- und Raumfahrt (DLR) seinen Sitz. Der Wissenschaftsrat schrieb hierüber 2007, dass die Aktivitäten des Instituts „vorwiegend auf Anwendungsmöglichkeiten im wehrtechnischen Bereich“ zielten und deshalb „in erster Linie das Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) sowie die deutsche wehrtechnische Industrie zu den Auftraggebern und Kooperationspartnern des Instituts“ gehörten. „Ein besonderer Schwerpunkt der aktuellen Forschungs- und Entwicklungsarbeiten liegt in der Nachführung auf und Positionsbestimmung von unkooperativen Targets im Luftraum mit anschließender Einweisung eines Wirklasers“, heißt es auch im Jahresbericht 2016 des BMVg zu dessen wehrwissenschaftlicher Forschung.[21 Die Entwicklung von Laserwaffen am DLR in Stuttgart ist umso bemerkenswerter, als hier zugleich „Weltraummüll-Forschung“ stattfindet. Dabei sollen im Weltraum fliegende Teile „in der Größenordnung von einem Satelliten“ durch gepulste Laser so abgebremst werden, dass sie in der Atmosphäre verglühen. In einigen Jahren könnte es laut Stuttgarter Zeitung gar möglich sein, „den Himmel systematisch leer räumen zu können“.[22]

Äußerlich fügt sich das DLR-Gelände nahtlos in den Campus der Univerität Stuttgart-Vaihingen ein.[23] Die „lasergestützten Bahnbestimmung von Trümmerteilen im All“ durch das hauptsächlich vom BMVg finanzierte Institut erfolgt jedoch nicht vom Campus Vaihingen aus, sondern aus dem Zentrum Stuttgarts: Seit 2013 unterhält das DLR hier ein Forschungsobservatorium an der „Schwäbischen Sternwarte“ auf der Uhlandshöhe,[24] etwa einen Kilometer westlich des Hauptbahnhofes, die durchaus auch als Ausflugsziel bekannt ist.

Das andere Ende des Cyber Valley

Zwar plant das Institut für technische Physik zukünftig auch, deutlich kleinere Teile im Weltraum zu registrieren und ihre Bewegung im Hinblick auf mögliche Kollisionen zu simulieren, womit Bezüge zu Big Data und künstlicher Intelligenz durchaus herzustellen wären. Dennoch ist nicht anzunehmen, dass es (jenseits der räumlichen Nähe) eine wesentliche Rolle im Cyber Valley spielen wird. Dessen eigentliches Herz schlägt bislang auf einem Hügel im Norden Tübingens, wo bereits länger die Max-Planck-Institute für Evolutionsbiologie und für biologische Kybernetik angesiedelt sind und letztes Jahr – wiederum in Anwesenheit des Ministerpräsidenten und des Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft – der Tübinger Standort des MPI für Intelligente Systeme eingeweiht wurde. Das Land hatte den Bau mit 41 Mio. Euro unterstützt, der u.a. ein „variables Trainingsgelände für Roboter“ und eine „Capture Hall“ beinhaltet, in der ein „weltweit einzigartige[r] 4D-Ganzkörperscanner … Körper und ihre Bewegungen vollständig in Raum und Zeit hochauflösend aufnehmen kann“.[25] Mittlerweile hat auch der Amazon-Konzern die Ansiedlung eines seiner Entwicklungszentren für Künstliche Intelligenz auf dem Gelände angekündigt.

Die Vorarbeiten zum Cyber Valley gingen jedoch v.a. vom MPI für biologische Kybernetik aus und begannen etwa zeitgleich mit der Umstrukturierung der Institute in Karlsruhe. Auch hier war die Vernetzung außeruniversitärer Institute mit der Hochschule einerseits und der Industrie andererseits ein wesentlicher Meilenstein: 2007 bewarben sich das MPI für biologische Kybernetik, das Institut für klinische Hirnforschung der Hertie-Stiftung und die neurologischen Institute der Universität Tübingen gemeinsam im Rahmen der Exzellenzinitiative um die Bildung eines Exzellenzclusters unter dem Titel „Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN)“, das daraufhin entsprechend gefördert wurde. 2010 gründeten CIN, MPI für biologische Kybernetik und Universität Tübingen wiederum das „Bernstein-Zentrum für Computational Neuroscience“, wiederum gefördert mit 8 Mio. Euro aus dem Bundesforschungsministerium. Beide im Grunde weitgehend deckungsgleiche Cluster fassten zunächst v.a. bestehende Lehrstühle und Abteilungen zusammen und bildeten gemeinsame Forschungsgruppen und Laboratorien. Sie und die damit verbundenen Forschungsgelder und Karrieremöglichkeiten beförderten die Neuausrichtung von (Sub-)Disziplinen der Psychologie, Mathematik, Informatik und Biologie auf sog. Kognitionswissenschaften und die künstliche Intelligenz. Die Erforschung von Nervenzellen und ihrer messbaren Aktivitäten u.a. in umstrittenen Tierversuchen geht seither nahtlos über in deren Simulation u.a. durch sog. künstliche neuronale Netze. Die Erforschung menschlichen Bewegungshandelns und der räumlichen Wahrnehmung von Mensch und Tier zielt primär auf deren Rekonstruktion durch Roboter und sog. Intelligente Systeme sowie die Optimierung von Mensch-Maschine-Schnittstellen. So waren CIN bzw. Universität Tübingen am wiederum von der EU-Sicherheitsforschung geförderten Projekt „Smart Eyes“ beteiligt, „das im Erkennen und Verarbeiten von bewegten Bildern menschenähnliche Leistungen erreichen sollte“. Dabei waren „das Erkennen von Auffälligkeiten im Aufnahmebereich sowie das Fixieren und Verfolgen dieser Phänomene“ zentrale Aufgabenstellungen.[26] Der Beitrag der Tübinger Arbeitsgruppe bestand darin, aus nachgestellten Szenen einiger Handvoll Studierender eine Menschenmenge zu simulieren und Unterschiede zwischen der Bewertung der so erstellten Szenen durch Polizisten und automatisierte Software zu identifizieren – eine geradezu typische Aufgabe der KI-Forschung. Beteiligt waren an dem Projekt neben Universitäten und Forschungseinrichtungen ein Düsseldorfer Veranstaltungsunternehmen und das Unternehmen Trackmen Limited.

Auch im Falle des Tübinger Clusters war es also u.a. die EU-Sicherheitsforschung, die – wiederum unterstützt durch nationale und regionale Förderprogramme – die Zusammenarbeit mit der Wirtschaft forcierte. So wurde zwischen Ende 2011 und Ende 2014 das Projekt „Wahrnehmungsbasierte Bewegungssimulation (WABS)“ des MPI für biologische Kybernetik vom Bundesforschungsministerium mit gut einer Mio. Euro gefördert. Im selben Zeitraum wurde ein ähnliches Projekt mit dem Titel VR-Hyperspace von der EU mit 3,5 Mio finanziert, an dem neben dem Tübinger MPI u.a. die bereits genannten, auf der ITEC vertretenen Unternehmen Airbus und Thales beteiligt waren. Im Mittelpunkt stand jeweils ein Bewegungssimulator im sog. Cybernarium des MPI für biologische Kybernetik – ein fensterloser Bau, in dessen Inneren ein Roboterarm eine Kabine in allen räumlichen Dimensionen bewegen und neigen und mittels Projektionen den Flug durch virtuelle Landschaften simulieren kann. Vergleichbare Funktionen waren auch beim Projekt SUPRA gefragt, das – von der EU mit 3,7 Mio. Euro gefördert – die Möglichkeiten verbessern sollte, kritische Situationen in Flugsimulatoren abzubilden und zu trainieren.[27] Beteiligt waren hier die Firmen Desdemona aus den Niederlanden und AMST-Systemtechnik aus Österreich, die beide Flugsimulatoren insbesondere für militärische Abnehmer produzieren und damit geradezu beispielhaft für den Kern jener Technologien stehen, die auf der ITEC traditionell im Mittelpunkt stehen.

Geopolitisierung der Forschungspolitik

Zum Auftakt seiner Serie über die Zukunft des Krieges für Politico.eu schreibt Bruno Maçães: „Die kommenden Kriege können bewaffnete Konflikte sein, sie könnten aber auch radikal andere Formen annehmen: Auseinandersetzungen um die Kontrolle von Infrastruktur, Propagandaschlachten, Wettrennen um Technologien wie Künstliche Intelligenz, Robotik, Cyberwar sowie Handels- und Wirtschaftskriege“.[28] Der Gedanke ist nicht neu sondern in der militärische Planung und Strategie innerhalb des Theoriegebäudes der „Revolution in Military Affairs“ längst fest verankert. Obwohl trotz jahrzehntelanger High-Tech-Rüstung die konkreten militärischen Erfolge ausbleiben wird dort – sehr zur Freude der entsprechenden Sparten der Rüstungsindustrie – weiterhin davon ausgegangen, dass diejenige Partei den nächsten Krieg gewinnt, die am schnellsten die meisten Daten erfassen und (wie auch immer) auswerten kann. Im gegenwärtigen Gerede von „disruptiven Technologien“ gerade im Zusammenhang mit Künstlicher Intelligenz und Robotik (und der Genetik) kann man gewissermaßen eine Verallgemeinerung dieser militärischen Theorie auf die Technologiepolitik erkennen. So argumentierte der Max-Planck-Präsident Stratmann kürzlich im Deutschlandfunk für größere „Freiheitsgrade in der Wissenschaft“ mit eher geopolitischen Argumenten: „Wir müssen den Mut haben, Dinge zu machen, die riskanter sind… Aber ich glaube, auch die Politik erkennt, dass es ein wesentliches Element der Zukunftssicherung für Deutschland ist… Wir reden ja nicht nur von Deutschland, sondern wir reden auch von großen Forschungsräumen, die untereinander in Konkurrenz stehen. Das sind im Wesentlichen die USA, Asien und Europa, und unsere Heimat ist Europa. Wir müssen also dafür sorgen, dass Europa stark bleibt, stark wird“.[29]

Künstliche Intelligenz und erweiterte Realität auf der ITEC

In die ITEC eingebettet findet auch dieses Jahr eine Konferenz mit Redner*innen aus dem Militär, der Wirtschaft und der Wissenschaft statt. Grob die Hälfte der Beiträge stammen von Vertreter*innen der NATO, des britischen und des US-amerikanischen Militärs.[30] In einigen dieser Beiträge geht es um eher grundsätzliche Themen wie die Relevanz des Kriegstheoretikers von Clausewitz in modernen Trainingsumgebungen, in anderen um die Notwendigkeit, den zivilen Markt im Auge zu behalten, um hier Innovationen abzuschöpfen. Interessant ist etwa die Begründung, mit der ein Vortrag zur „Notwendigkeit der Interoperabilität im Bereich der Live-Simulationen“ angekündigt wird. Hier habe die NATO-Operation „Enhanced Forward Presence“, bei der multinationale NATO-Truppen rotierend in Osteuropa stationiert werden und kontinuierlich Manöver durchführen, die Rolle eines „Katalysators“ eingenommen: „Unter der Annahme, dass ‚Übung der neue Einsatz‘ im (ost-)europäischen Raum sei, haben Simulationssysteme nahezu den selben Status erreicht, wie Waffensysteme“. Ein Dr. Martin Rother wird hingegen darüber berichten, dass die NATO Wissenschafts- und Technologieorganisation (NATO-STO) 15 disruptive Technologien identifiziert hätte, deren Fortschritte sie überwacht und eine Arbeitsgruppe der NATO für Modellierung und Simulation (NATO Modelling & Simulation Group, NMSG) entsprechende „zukünftige Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten in die effektivste und effizienteste Richtung zu dirigieren“ versucht. Ein Vertreter der EU-Rüstungsagentur EDA wird gemeinsam mit einem Vertreter der französischen Firma Diginext die Pläne der EU vorstellen, im Zuge der Entwicklung einer eigenen bewaffneten Drohne die Ausbildungseinrichtungen für unbemannte Systeme der betreffenden Staaten zu vernetzen und so eine Umgebung zu schaffen, in der „Taktiken, Techniken und Prozeduren“ für das neue Waffensystem entwickelt werden können.

Während Rheinmetall als Platin-Sponsor der Veranstaltung auf drei der insgesamt knapp hundert angekündigten Einzelvorträge auf der Konferenz vertreten ist, zeigt Thales mit acht Mitarbeiter*innen auf fünf Vorträgen nahezu die gesamte Bandbreite der behandelten Themen ab: Sie stellen u.a. ein für das (insgesamt auf der ITEC stark vertretene) niederländische Militär entwickeltes System zur Simulation militärischer Dilemmas vor, beschreiben verbesserte Systeme für Flugsimulatoren und die Möglichkeiten, Umgebungen für elektronische Kriegführung zu simulieren. Ebenfalls gut vertreten ist die TNO, die (stark wehrtechnisch ausgerichtete) Niederländische Organisation für angewandte Wissenschaften, und jene Forschungseinrichtung, die nach der Fraunhofer-Gesellschaft und der Schwedischen Gesellschaft für Wehrforschung am umfangreichsten von der EU-Sicherheitsforschung profitierte. Die TNO wird u.a. darüber berichten, wie sich Raktenabwehrsysteme virtuell testen und Trainingsumgebungen räumlich optimieren lassen. Ein weiterer Beitrag der TNO beschäftigt sich mit der Fragestellung, wie Übungsgelände für Militärische Operationen in urbanem Gelände (MOUT) mit Leben gefüllt werden können. In der Ankündigung heißt es: „Trotz der großen Zahl von MOUT-Trainingseinrichtungen auf dem Globus sind die Möglichkeiten bislang begrenzt umgesetzt, diese in dynamische ‚real world‘-Übungsgelände zu verwandeln. Die Umgebung ist meist statisch hinsichtlich der Gebäude und erscheint leer wegen der begrenzt verfügbaren Rollenspieler und Objekte“. Demgegenüber soll ein System vorgestellt werden, das „virtuelle Rollenspieler in die Umgebung einfügt und die kinetischen und nicht-kinetischen Handlungen der Soldaten erfasst, durch die sie mit diesen in Interaktion treten“. Mit der Simulation und Interaktion von zivilen, polizeilichen und militärischen Akteuren in Städten unter Krisenszenarien setzen sich weitere Beiträge auseinander. Ein Vertreter der NATO wird ein System vorstellen, mit dem sich das Versagen kritischer Infrastrukturen in virtuellen Städten und die Reaktionen der Bevölkerung in den Social Media simulieren und erfassen lassen. Dennis Duke, Professor am Florida Institute of Technology, möchte hingegen darstellen, welche kommerziellen Produkte es bereits gibt, mit denen sich Situationen wie nach den Hurricans Harvey, Irma und Maria in Florida, Texas und Puerto Rico oder nach dem Erdbeben 2017 in Mexiko abbilden lassen.

Eine weitere Rednerin ist Kimberly Himmer, ehemalige Offizierin der US-Marineaufklärung und Mitbegründerin der Firma Articulated Python, die v.a. militärische Kundschaft hat und sich vor diesem Hintergrund mit den speziellen Anforderungen von Serious Games für Erwachsene auseinandersetzt. Gleich auf der (aktuellen Startseite des Internetauftritts des Unternehmens ist eine digitale Darstellung eines zivil gekleideten Mannes mit Turban, Gewehr und Fadenkreuz auf der Brust zu sehen. Bei „Serious Games“ handelt es sich um simulierte Umgebungen, die auf unterhaltsame Weise Fähigkeiten vermitteln sollen, die durchaus auch sinnvolle zivile Anwendungen haben können. Auch Prof. Alessandro De Gloria von der Universität Genua zum Thema Serious Games sprechen und unterstreicht bereits im Ankündigungstext die Notwendigkeit, in der nächsten Dekade „fesselnde Abenteuer in hochgradig realistischen Umgebungen mit einer Fülle von Informationen“ zu entwickeln. Zwar handelt es sich bei De Gloria um einen der wenigen vortragenden Wissenschaftler ohne unmittelbare militärische oder unternehmerische Anbindung, Berührungsängste mit Militär und Rüstung bestehen jedoch offenbar nicht. Er ist Präsident der Serious Games Society (SGS), die aus dem EU-Projekts GALA (Game and Learning Alliance) hervorgegangen ist. Explizites Ziel des von der EU mit gut 5,6 Mio. Euro geförderten Exzellenznetzwerks GALA bestand darin, „die Forschung zu Serious Games zu erfassen, zu integrieren, zu harmonisieren und zu koordinieren“. Beteiligt waren u.a. die NATO Wissenschafts- und Technologieorganisation (NATO-STO), ATOS und das britische Unternehmen PlayGen Ltd, das u.a. Trainingssimulationen für Polizeibehörden und die Armee herstellt.[31]

Gegen Rüstung, Überwachung und die Militarisierung der Forschung

Die ITEC soll 2018 erstmals in Stuttgart stattfinden, nachdem sie in Köln nicht mehr willkommen war. Auch in Stuttgart regen sich allerdings Proteste gegen die Vermietung der Landesmesse für das Schaulaufen der Rüstungsindustrie. Bereits am 18. Oktober 2017 hatte eine Kundgebung vor den Messehallen und am 25. Januar Proteste vor dem Stuttgarter Rathaus stattgefunden. Dabei wurde Finanzbürgermeister Michael Föll, zugleich Vorsitzender des Messe-Aufsichtsrats, ein Protestbrief überreicht. Am Karfreitag (30. März) ist im Rahmen der Ostermärsche 2018 um 14:00 Uhr vor dem Hotel Mövenpick neben dem Flughafen eine weitere Aktion geplant. Der Ostermarsch Stuttgart am 31. März wird dieses Jahr vor dem Rathaus in der Innenstadt beginnen, um die Komplizenschaft der Stadt mit der Rüstungsindustrie, dem deutschen und dem US-Militär anzugreifen. Auch während der ITEC-Messe Mitte Mai werden Kundgebungen auf dem Messe- und Flughafengelände stattfinden.

Die Ostermärsche und die Proteste gegen die ITEC bieten eine gute Gelegenheit, die traditionellen Anliegen der Friedensbewegung und insbesondere den Widerstand gegen die Erhöhung der Rüstungsausgaben mit der Kritik an einer Forschungs- und Technologiepolitik zu verbinden, die sich in den Dienst der Aufrüstung stellt und militärische Technologien auf die Anwendung im zivilen Umfeld vorbereitet. Krieg beginnt hier!

Anmerkungen
[1] Siehe z.B.: „Rheinmetall AG“, aufschrei-waffenhandel.de
[2] „Rheinmetall modernisiert und erweitert das Gefechtsübungszentrum Heer der Bundeswehr“, rheinmetall.com vom 29.9.2016.
[3] Bundestags-Drucksache 17/10589.
[4] ITEC 2018, defence-suppliers.com.
[5] „Key Themes“, www.itec.co.uk.
[6] Martin Kirsch: Militarisierung der Polizei – Massive Aufrüstung im Namen der Terrorabwehr, IMI-Studie 2017/05.
[7] „About Stuttgart“, www.itec.co.uk.
[8] Nikolaus Back und Bernd Klagholz: KZ-Gedenkstätte Echterdingen-Bernhausen, Landeszentrale für Politische Bildung, Fachbereich Gedenkstättenarbeit, https://www.gedenkstaetten-bw.de/fileadmin/gedenkstaetten/pdf/gedenkstaetten/filderstadt_kzgedenkstaette_echterdingen_bernhausen.pdf.
[9] Siehe: Kai Biermann und Christian Fuchs: 800.000 Euro für einen Terror-Airbag, der nie fertig wurde, zeit.de vom 23.2.2017.
[10] Ebd.
[11] Christoph Marischka: Fraunhofer IOSB – Dual Use als Strategie, IMI-Studie 02/2017.
[12] „Zahlen und Fakten zum Sicherheitsforschungsprogramm“, sifo.de vom Juli 2017.
[13] Eric Töpfer: Entwicklungsauftrag „Zivile Sicherheit“, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 94 (3/2009) .
[14] „Intelligente Videoüberwachung: Mehr Privatsphäre und Datenschutz“, iosb.fraunhofer.de vom 16.1.2018.
[15] Alexander Kleiß: Neues Polizeigesetz in Baden-Württemberg – Militarisierung der Polizei und schwere Eingriffe in Grundrechte, IMI-Analyse 2017/47.
[16] In einem Fall wurde dies vom Chaos Computer Club vehement kritisiert, woraufhin der Veranstalter des Festivals, der SWR, erklären musste, dass „zu keinem Zeitpunkt, weder von der Stadt Heidenheim als örtlichem Veranstalter noch vom Südwestrundfunk, ein Auftrag erteilt [wurde], die Überwachung der Gäste zu übernehmen. Lediglich vorbesprochen wurde der eventuelle Einsatz eines kleinen Fesselballons, der Luftbilder für die Fernsehberichterstattung im SWR Fernsehen liefern könnte“. Siehe: „ARD und Fraunhofer proben die Totalüberwachung“, ccc.de vom 15.9.2011.
[17] Karl Urban: Luftunterstützung für die Feuerwehr, deutschlandfunk.de vom 6.2.2013.
[18] Fraunhofer IOSB: Öffentliche Sicherheit – intelligente Videoauswertung, visIT 3/2017.
[19] „Die künstliche Intelligenz findet ein Zentrum“, Startseite von cyber-valley.de (abgerufen am 16.3.2018).
[20] Helmut Maier: ‚Wehrhaftmachung‘ und ‚Kriegswichtigkeit‘ – Zur rüstungstechnologischen Relevanz des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Metallforschung in Stuttgart vor und nach 1945, Herausgegeben von Carola Sachse im Auftrag der Präsidentenkommission der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e. V.
[21] BMVg: Wehrwissenschaftliche Forschung – Jahresbericht 2016.
[22] Anja Tröster: Ein Laser soll den Himmel leerfegen, Stuttgarter-Zeitung.de vom 12.1.2012.
[23] „Goldgelber Kern“, german-architects.com vom 27.9.2017.
[24] „Weltraumschrott-Forschungsobservatorium Uhlandshöhe“, dlr.de.
[25] „Ein Leuchtturm für die künstliche Intelligenz“, mpg.de vom 12.7.2017.
[26] „Smart Eyes: Erkennen auffälliger Ereignisse“, fit.fraunhofer.de.
[27] Christoph Marischka: Alzheimer- oder Drohnenforschung?, Telepolis vom 18.9.2014.
[28] Bruno Maçães: The most valuable military real estate in the world, politico.eu vom 15./16.1.2018.
[29] „’Glaubwürdigkeitskrise der gesellschaftlichen Eliten‘ – Martin Stratmann im Gespräch mit Ralf Krauter“, deutschlandfunk.de vom 24.1.2018.
[30] Die folgende Beispiele und Zitate entstammen dem Konferenzprogramm der ITEC (itec.co.uk/conference-agenda) mit Stand vom 18.3.2018.
[31] EU-CORDIS: Game and Learning Alliance, sowie zu PlayGen Ltd.: http://playgen.com/play2/.

------------

Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de