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[0296] Afghanistan-Abstimmung / Neuer AUSDRUCK / IMI-Kongress / Analyse zu Irak

(09.10.2008)

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Online-Zeitschrift „IMI-List“
Nummer 0296 ………. 12. Jahrgang …….. ISSN 1611-2563
Hrsg.:…… Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.
Red.: IMI / Christoph Marischka / Jürgen Wagner
Abo (kostenlos)…….. IMI-List-subscribe@yahoogroups.com
Archiv: ……. https://www.imi-online.de/mailingliste.php3
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Liebe Freundinnen und Freunde,

in dieser IMI-List finden sich

1) der Hinweis auf eine Email-Aktion zur Bundestagsabstimmung über den Afghanistan-Einsatz;

2) Links auf alle Texte des neuen AUSRUCK (Oktober 2008);

3) Materialien und Programm zum IMI-Kongress am 9./10.11.2008;

4) eine Analyse zur gegenwärtigen Situation im Irak.

1) E-Mail Aktion an die Bundestagsabgeordneten

Die DFG/VK Baden-Württemberg hat mit anderen Friedensgruppen eine Email-Aktion vorbereitet, durch welche die Abgeordneten aufgefordert werden, gegen das erweiterte Mandat zu stimmen.
Wir dokumentieren die Presseerklärung zu dieser Aktion gemeinsam mit dem Verweis auf unsere neuesten Texte zum Krieg in Afghanistan.
https://www.imi-online.de/2008.php3?id=1830

2) Neuer AUSDRUCK (Oktober 2008) erschienen

Die Oktober-Ausgabe des AUSDRUCK befasst sich intensiv mit dem Krieg in Georgien und der dort geplanten EU-Mission. Besonders empfehlen möchten wir auch die Analyse von Jonna Schürkes zur US-Militärpolitik gegenüber Lateinamerika. Wie immer erhalten unsere Mitglieder den AUSDRUCK per Post, alle Artikel werden aber auch im Internet zur Verfügung gestellt. Es folgt das Inhaltsverzeichnis mit den Links zu den einzelnen Texten. Die gesamte Ausgabe des Magazins kann hier herunter geladen werden:
https://www.imi-online.de/download/AUSDRUCK-Okt-2008.pdf

INHALTSVERZEICHNIS

Georgienkrieg

— Martin Hantke
Georgienkrieg und imperiale Geopolitik
https://www.imi-online.de/download/MH-Okt08-Georgien.pdf

— Tobias Pflüger
Die ESVP-Mission in Georgien
https://www.imi-online.de/download/TP-Okt08-Georgien.pdf

Afghanistan und Irak

— Claudia Haydt
Afghanistan: Chronik einer angekündigten Niederlage
https://www.imi-online.de/download/CH-Okt08-Afghanistan.pdf

— Joachim Guilliard
Kein Weg vorwärts – Irak nach dem Surge
https://www.imi-online.de/download/JG-Okt08-Irak.pdf

Lateinamerika

— Jonna Schürkes
„Homeland Security“ an der „Südflanke“
https://www.imi-online.de/download/JS-Okt08-Lateinamerika.pdf

EU-Militarisierung

— Tobias Pflüger
Militärische Meeresabenteuer der EU und Deutschlands
https://www.imi-online.de/download/TP-Okt08-NAVCO.pdf

— Jürgen Wagner
Lissabon-Vertrag hin oder her
https://www.imi-online.de/download/JW-Okt08-Lissabon.pdf

3) Programm und Materialien zum IMI-Kongress

Das endgültige Programm des diesjährigen IMI-Kongresses mit dem Titel „Kein Frieden mit der NATO“ ist fertig. Auf unserer Sonderseite können auch Plakate und Flugblätter herunter geladen werden:
https://www.imi-online.de/2008.php3?id=1821

4) Analyse zur gegenwärtigen Situation im Irak

IMI-Analyse 2008/032 – in: AUSDRUCK (Oktober 2008)
Irak – kein Weg vorwärts
https://www.imi-online.de/2008.php3?id=1829
8.10.2008, Joachim Guilliard

Kein Weg vorwärts
Der Irak nach dem surge

Nicht nur die US-Regierung, sondern auch die Mainstream-Medien zeichnen seit einiger Zeit wieder ein positives Bild von der Entwicklung im Irak. Die neue Strategie „Ein neuer Weg vorwärts“ hätte Früchte getragen, die als „Surge“ (dt.: Woge, Flut, Zunahme …) bezeichnete zeitweilige Erhöhung der Truppenstärke und die Ausweitung der Militäroperationen, so der Tenor, habe gewirkt. Die Lage sei nun unter Kontrolle und die Gewalt zurückgegangen.
Erfreulicherweise ging die Gewalt in der Tat spürbar zurück, allerdings nur verglichen mit dem extrem hohen Niveau zuvor. Verantwortlich für diesen Rückgang war auch weniger die neue US-Strategie, sondern innerirakische Faktoren. In den von ihr betroffenen Gebieten führte sie sogar zu einer Eskalation der Kampfhandlungen. Darüber hinaus sind, wie auch das General Accounting Office (GAO), der oberste Rechnungshof der USA, feststellte, keine grundlegenden Verbesserungen der allgemeinen Bedingungen zu erkennen, die Lage ist für den größten Teil der irakischen Bevölkerung so miserabel wie eh und je (siehe Kasten – nur in der PDF-Version).[1]

Die Surge hat vielmehr, so z.B. General William Odom, zu einer weiteren Fragmentierung der politischen Verhältnisse geführt, die den Irak – durchaus absehbar – weiter destabilisiert.[2] Die Bush-Administration traut dem Erfolg offenbar selbst nicht – nur ein Teil der zusätzlichen Truppen wurde wieder abgezogen und auch nach Ende der zweiten Amtszeit von George W. Bush werden weit mehr Truppen im Irak stehen, als zu Beginn.

Die „Surge“ – eine Eskalation des Krieges

Wirklich belegbar bei den Erfolgsmeldungen aus Washington ist nur der Rückgang US-amerikanischer Verluste. Im Juli 2008 lag die Zahl getöteter US-Soldaten auf dem niedrigsten Stand seit Beginn des Krieges. Doch lässt sich daraus auch auf verbesserte Sicherheitsbedingungen für die irakische Bevölkerung schließen? Azzaman, eine der renommiertesten irakischen Zeitungen, verneint die Frage und verweist nicht zuletzt auf die zahlreichen Militäroperationen US-amerikanischer und irakischer Truppen, die nach wie vor in verschiedenen Provinzen „eine Spur der Zerstörung und zahlreiche Opfer zurücklassen“ würden. „Der drastische Fall der US-Verluste geht einher mit einem drastischen Anstieg von irakischen Toten und Verletzten“, so das Blatt. Doch „die USA führen keine Liste der Iraker, die sie töten, ebenso wenig die irakische Regierung.“[3]

In der Tat liegen über die aktuelle Zahl irakischer Opfer keine verlässlichen Angaben vor. Gemäß Statistiken, die auf Basis von westlichen Medienberichten zusammengestellt wurden, ging die monatliche Zahl getöteter Iraker, nach Rekordhöhen in der Hochphase der „Surge“, wieder auf das Niveau von 2005 zurück, d.h. auf den Stand, bevor die Gewalt nach dem Anschlag auf die Goldene Moschee in Samara explodierte.[4] Doch auch damals schon wurden gemäß der Lancet-Studie von 2006 fast 4.000 IrakerInnen pro Woche getötet.
Mit der Truppenerhöhung hat dieser Rückgang der Gewalt allerdings wenig zu tun, dort wo er am deutlichsten ist, in der sunnitischen Widerstandshochburg Anbar und in Basra, waren sogar Truppen abgezogen worden. Entscheidend waren vielmehr andere Faktoren, vor allem das Bündnis mit sunnitischen Stammesmilizen und die einseitige Waffenruhe, die der prominente Kleriker Muqtada al Sadr seiner Miliz, der Mehdi-Armee, verordnete. Auch das Ende der Angriffe und des Terrors durch schiitische Milizen und sunnitische Extremisten nach der erfolgreichen Vertreibung der bekämpften Minderheiten trug erheblich zum Rückgang innerirakischer Gewalt bei.[5]

Eskalation aus der Luft

Der Rückgang der US-Verluste ist vor allem auf die drastische Reduzierung des Einsatzes von Boden-Truppen zurückzuführen. Die US-Streitkräfte setzen stattdessen zunehmend auf die Luftwaffe und überlassen die Kämpfe am Boden den irakischen Hilfstruppen. Waren bereits 2006 insgesamt 10.500 Mal Kampflugzeuge und Hubschrauber zur „Luftunterstützung“ angefordert worden, fast 30 Einsätze pro Tag, so hat die US Air Force nach eigenen Angaben die Zahl der Luftwaffeneinsätze 2007 vervierfacht und die Zahl der Bombenabwürfe verzehnfacht.[6]

Bei allen größeren Militäroperationen dieses Jahres, ob in Mosul, Baquba, Basra oder Bagdad, setzten die Besatzungstruppen überwiegend auf Luftangriffe und die Feuerkraft ihrer Panzer und überließen die Straßenkämpfe den irakischen Fußtruppen. Während sie auf diese Weise im Frühjahr während der fast sechswöchigen Offensive gegen Sadr City kaum Tote zu beklagen hatten, ging die Zahl der getöteten und schwer verwundeten Anwohner in die Tausende.

Verstärkt kommen dabei auch ferngesteuerte Fluggeräte, wie die Kampfdrohnen Predator and Reaper, zum Einsatz. Ein Reporter der New York Times, der kürzlich die Leitzentrale dieser Drohnen besichtigen durfte, musste sich verpflichten, deren Standort geheim zu halten – aus Rücksicht auf das Gastland, in dem sie sich befindet. Ein Ort, der dafür sehr gut in Frage käme, wäre das Warfighting Headquarters der US-Luftwaffe im pfälzischen Ramstein.[7]
Schließlich geben die USA auch mehr Geld als je zuvor für private Söldner aus.[8] Die Zahl der sogenannten „Private Contractor“, die für das US-Militär im Irak arbeiten, hat sich seit September letzten Jahres um 12.000 auf 149.00 erhöht. Das entspricht fast der Zahl, um die die Stärke der regulären US-Truppen wieder reduziert wurde.[9]

Krieg und Repression am Boden

Zunächst bedeutete die Truppenerhöhung um 38.000 auf insgesamt 165.000 Soldaten für weite Teile der Bevölkerung in Bagdad und Umgebung allerdings eine massive Eskalation des Krieges und der Repression am Boden. Kritische Bilder und Berichte davon, wie wir sie z.B. beim Einrücken russischer Truppen in Grosny sahen, blieben jedoch aus. In den Medien erschienen die US-Truppen vielmehr als Retter, die antraten, der „mörderischen Gewalt“ Einhalt zu gebieten – ihr Morden gilt hier offenbar nicht als Gewalt.

Der renommierte US-Journalist Nir Rosen jedoch, der im Dezember in Bagdad war, konnte mit eigenen Augen sehen, wie der Erfolg der Besatzer in den betroffenen, einst so geschäftigen Vierteln Bagdads aussieht. Er fand nur noch halbverlassene Geisterstädte vor, zerstört durch über fünf Jahre Krieg. Ein Haus neben dem anderen ist verwüstet, die sandfarbenen Mauern durch Kugellöcher zernarbt. Viele Türen stehen offen, die Wohnungen sind unbewacht und oft weitgehend leer geräumt.[10] Auch für den irakischen Fotojournalisten Ghaith Abdul-Ahad, der für den Guardian in einer gefährlichen Tour durch Bagdad die Behauptungen des US-Militärs überprüfte, die „Surge“ hätte der Stadt Stabilität gebracht und das Leben verbessert, stand das, was er vorfand und in einer eindrucksvollen Filmserie festhielt „in völligem Widerspruch zu allen offiziellen Berichten.“ Die Menschen in Bagdad „sind hoffnungsloser als ich sie je zuvor sah.“[11]

Über 40.000 US-amerikanische Kampftruppen und mehrere Divisionen der irakischen Armee waren in und um Bagdad zusammengezogen worden, die sukzessive und unter heftigen Kämpfen in überwiegend sunnitische Stadtteile eindrangen. Systematisch wurde Straßenzug um Straßenzug abgeriegelt und die Häuser gestürmt. Alle männlichen Bewohner zwischen fünfzehn und sechzig Jahren wurden erkennungsdienstlich erfasst, inklusive Fingerabdrücken und Iris-Scan, Tausende von Anwohnern, die als Oppositionelle bekannt waren oder der Zusammenarbeit mit dem Widerstand verdächtig schienen, wurden festgenommen. Die Zahl der politischen Gefangenen hat sich in der Folge fast verdoppelt. Die US-Truppen allein hielten Ende 2007 nach eigenen Angaben 25.000 Iraker gefangen, die irakischen Sicherheitskräfte weitere 50.000-75.000.[12]

In einige der nun schutzlosen Viertel drangen schiitische, meist den Regierungsparteien nahe stehende Milizen ein und begannen auch hier mit nächtlichem Terror Sunniten und sonstige Gegner zu vertreiben. Hunderttausende wurden so im Lauf der „Surge“ aus der Hauptstadt gejagt oder flohen vor den Angriffen der Besatzer. Der Anteil der nicht-schiitischen Bevölkerung Bagdads sank Statistiken der US-Armee zufolge seit April 2006 von 35 auf 25 Prozent.[13]

Die Internationale Organisation für Migration der UNO, IOM, schätzt, dass sich die Zahl der Flüchtlinge aus Bagdad im Zuge der „Surge“ verzwanzigfachte. Die Gesamtzahl der Binnenflüchtlinge hat sich zwischen Februar und August 2007 von 0,5 auf 1,1 Millionen verdoppelt. [14]

Gated Communities

Trotz massiver Proteste der Anwohner wurden die meisten der „befriedeten“ Stadtteile durch fast vier Meter hohe, stacheldrahtbewehrte Betonmauern hermetisch eingeschlossen, alle nur durch einige wenige, enge und stark bewachte Check-Points durchbrochen. Nur Bewohner mit neuer ID-Karte können sie – nach Überprüfung ihrer biometrischen Merkmale – ohne weiteres passieren. Mauern in einer Gesamtlänge von über 30km zerteilen nun Bagdad, endlose Schlangen vor den Durchlässen sind die Folge. Handel und Wirtschaft kamen dadurch nahezu zum Erliegen. Offiziell als Schutz der Bevölkerung vor Übergriffen durch sektiererische Milizen gedacht, dienen sie vor allem dazu, die Bewegungsfreiheit des Widerstands einzuschränken und die Bewohner der Viertel einer lückenlosen Kontrolle unterwerfen zu können. Diese sind nun mehr denn je der Willkür der Besatzer und der irakischer Sicherheitskräfte ausgeliefert.

Die Errichtung dieser so genannten „Gated Communities“ (eigentlich die Bezeichnung für bewachte Wohnanlagen der Reichen) erinnert an ähnliche Maßnahmen der französischen Besatzungstruppen in Algerien und an die „strategischen Dörfer“ der USA im Vietnamkrieg. Mehr noch orientieren sich die US-Truppen jedoch an israelische Erfahrungen, wie durch Ausnutzung modernster Technik und durch Teilung der besetzten Gebiete in Enklaven, Widerstand in einem städtischen Umfeld eingedämmt werden kann. Iraker vergleichen ihre ummauerten Stadtteile daher oft auch mit dem Gazastreifen in Palästina.
Professor Steve Niva, Nahostexperte an der Universität von Olympia, fasste das Ergebnis der Surge treffend zusammen: „Während das allgemeine Ausmaß an Gewalt zweifellos vorübergehend sank, wurde der Irak faktisch in einen Panzer aus Betonmauern und Stacheldraht eingesperrt, verstärkt durch eine Besatzung aus der Luft.“[15]

Teile und Herrsche – der Biddle-Plan

Eine zentrale Komponente in der US-Strategie zur Unterwerfung des Iraks ist die Spaltung der irakischen Gesellschaft nach ethnisch-konfessionellen Kriterien. Auch die Grenzen der eingezäunten Enklaven in Bagdad wurden nach diesen Kriterien gezogen. Die vom Oberkommandieren General David Petraeus ausgearbeitete neue Strategie setzte dadurch den von Beginn der Besatzung an eingeschlagenen Weg fort, der von Bernard Lewis, einem der führenden Neokonservativen, bereits in den frühen 1990er Jahren skizziert worden war: Der starke arabische Nationalismus in Ländern wie Irak könne, so Lewis, nur dann neutralisiert werden, wenn die Zentralgewalt ausreichend geschwächt würde. Dann „gibt es keine wirkliche Zivilgesellschaft mehr … der Staat löst sich – wie im Libanon – in ein Chaos sich zankender und bekämpfender Sekten, Stämme, Religionen und Parteien auf.“[16]

Die konkrete, aktuelle Umsetzung dieser Politik formulierte Stephen Biddle, Berater von General Petraeus in Bagdad in einem Beitrag für Foreign Affairs wie folgt: Durch ein Programm zur Bewaffnung ihrer sunnitischen Gegner soll die schiitisch-kurdische Maliki-Regierung unter Druck gesetzt werden, die Vorgaben aus Washington williger, rascher und vollständiger umzusetzen. Militante sunnitische und säkulare Nationalisten hingegen sollen durch die Drohung, den Regierungsparteien durch Aufrüstung der Armee mit Panzern und leichter Luftwaffe zu mehr militärischer Macht zu verhelfen, zum Einlenken gezwungen werden. Da dies die Fähigkeit der Regierungstruppen „Massengewalt gegen Sunniten zu verüben, dramatisch erhöhen“ würde, wäre dies ein „mächtiger Anreiz“, ihre Forderung nach einem raschen Abzug der Besatzungstruppen „zu relativieren“.[17]

Tatsächlich gelang es den USA, Bündnisse mit sunnitischen Kräften unter Ausnutzung ihrer Sorge vor der Dominanz der pro-iranischen schiitischen Parteien zu schließen und Stammesmilizen aufzustellen, die ein Gegengewicht zu den von den schiitischen Parteien kontrollierten Sicherheitskräften darstellen.

Die Erweckung der Stämme

Diese Bündnisse bedeuteten eine radikale Abkehr der bisherigen Politik der US-Truppen gegenüber der sunnitischen Bevölkerung, gegen die sie – im Bemühen, Bevölkerungsgruppen gegeneinander auszuspielen – im Verein mit ihren kurdischen und schiitischen Verbündeten von Beginn der Besatzung an mit besonderer Härte vorgegangen waren. Diese Brutalität wiederum befeuerte einen rasant wachsenden militärischen Widerstand, den sie nicht mehr in den Griff bekamen.

Die Besatzer hatten schließlich, wie durchgesickerten Geheimdokumenten der US-Armee zu entnehmen ist, 2006 eingesehen, dass sie militärisch nicht gewinnen können. [18] Sie begannen ihre Offensive in den Städten einzuschränken und nahmen Verhandlungen mit lokalen und regionalen Stammesbündnissen über die Aufstellung von Milizen für Sicherungsaufgaben und ein gemeinsames Vorgehen gegen Al-Qaeda auf. Stammesangehörige, die sich bereit erklärten, gegen al-Qaeda und sonstige Störenfriede zu kämpfen, erhielten Ausrüstung und einen monatlichen Sold. In der Folge entstand ein Vielzahl sogenannter „Awakening“-(Erweckungs)-Räte, irakisch „al Sahwa“ oder „Sahwat“, von den Besatzern gerne als „Söhne Iraks“ bezeichnet.

Über die zahlenmäßige Stärke dieser Milizen gibt es keine verlässlichen Angaben. Die US-Armee spricht von 80.000-100.000 Milizionären, die für 300 US-Dollar monatlich Polizei- und Wachaufgaben übernehmen und an ihrer Seite gegen Al-Qaeda vorgehen würden. Die Summen, die nach denselben Quellen für ihren Unterhalt aufgewandt wurden, deuten aber auf eine wesentlich geringere Zahl bezahlter Kämpfer hin.[19]

So widersprüchlich wie die Berichte über sie sind, so widersprüchlich ist die Awakening-Bewegung selbst. Sie reicht von echten Kollaborateuren und Warlords, die für gutes Geld zu allem bereit sind, bis hin zu strammen Nationalisten, die sich nur soweit mit den Besatzern einlassen, wie nötig, um vor Ort die Kontrolle übernehmen zu können. Traditionelle Stammeskultur und -rivalitäten sorgen für zusätzliche Dynamik.

US-Regierung und Armeeführung feiern die Stammesmilizen als großen Erfolg der „Surge“ und stellen dabei – gemäß ihrer gängigen Propaganda – den gemeinsamen Kampf gegen Al-Qaeda in den Vordergrund. Doch die al Sahwa waren lange vor der „Surge“ entstanden und bereits im Sommer 2005 hatten viele Stämme im Verein mit Widerstandsgruppen begonnen, aktiv gegen die sunnitischen Extremisten vorzugehen. Sie mussten zu diesem Zeitpunkt zwei Kämpfe führen, so ein Sprecher der dem Widerstand nahe stehenden Vereinigung der islamischen Religionsgelehrten (AMS): einen „gegen die Besatzer und den von ihnen eingesetzten Regierungsapparat“ und den anderen „gegen die terroristischen Banden.“[20]
Doch nicht nur Al-Qaeda wurde von der Bevölkerung in den sunnitischen Gebieten als Bedrohung angesehen, sondern auch die Milizen der Regierungsparteien und die von ihnen dominierten Sicherheitskräfte. Für die meisten Sunniten, die sich der Awakening-Bewegung anschlossen, lag hier das wichtigste Motiv: Indem sie bewaffnete Kräfte gegen Al-Qaeda und zur Aufrechterhaltung der Ordnung stellen, verringerte sich auch die Präsenz der Regierungstruppen und konnte ein von den Besatzern tolerierter Schutz gegen schiitische Todesschwadrone und sonstige ortsfremde Kämpfer aufgestellt werden.

Ein hochrangiger Scheich, dessen Stamm einer solchen Allianz beitrat, erklärte einem Reporter des Guardian, dass dies für ihn eine simple Gleichung war. „Es ist einfach ein Weg, Waffen zu bekommen und eine legalisierte Sicherheitskraft zu werden, die fähig ist, den schiitischen Milizen Stand zu halten und zu verhindern, dass die irakische Armee und Polizei in ihr Gebiet eindringt.“ [21]

Den temporären Bündnissen mit den Besatzern war ein Paradigmenwechsel eines großen Teils sunnitischer und säkularer Nationalisten vorausgegangen. Stand zunächst das Ziel im Vordergrund, so schnell wie möglich die Invasoren aus dem Land zu jagen, so überwog bei vielen nun die Sorge, dass die kurdischen und schiitischen Parteien, die die Regierung stellen, sich im Bündnis mit den USA bereits so starke Machtpositionen sichern konnten, dass sie nach einem Abzug der Besatzer nur noch schwer verdrängt werden können. Der Einfluss des Irans über die schiitischen Regierungsparteien und ihre Milizen ist zudem in ihren Augen so groß, dass sie mittlerweile von einer doppelten Besatzung sprechen. Die „Gefahr der iranischen Besatzung war größer, als die Gefahr der amerikanischen, da letztere temporär ist, aber die iranische Besatzung würde permanent sein“, so z.B. Abu Azzam Al-Tamimi, einer der führenden Politiker der Awakening-Bewegung.[22]

Die Mehrheit der Bewegung ist stramm nationalistisch und strebt die Wiederherstellung eines einheitlichen, starken und zentralisierten Staates an. Die sunnitischen Milizen könnten allerdings bei sich zuspitzenden Konflikten mit den Parteien an der Regierung zum Kern einer sunnitischen Armee werden. Zudem sind viele Führer von Awakening-Milzen dabei, sich als mächtige Warlords zu etablieren.

Auch den USA ging es bei der Aufrüstung der Awakening-Kräfte nicht nur um Al-Qaeda. Es bot zudem auch einen Weg, sich weit gehend aus der Provinz zurückziehen zu können, ohne das Feld dem organisierten Widerstand zu überlassen. Vor allem aber ist es ihnen damit gelungen, ein Gegengewicht zu den pro-iranischen Regierungsparteien aufzubauen und so – neben dem von Biddle formulierten Kalkül – den Handlungsspielraum der USA gegenüber dem Iran zu verbessern.

An sich richteten sich die al Sahwa nicht gegen den bewaffneten Widerstand. Indem sie jedoch alle bewaffneten Aktionen in den unter ihrer Kontrolle stehenden Gebieten zu unterbinden suchten, schränkten sie auch dessen Aktionsradius stark ein. Da es den Regierungsparteien bisher jedoch gelang, die politische Beteiligung der al Sahwa zu blockieren und die Aufnahme der sunnitischen Milizionäre in die regulären Sicherheitskräfte auf einige wenige Tausend zu beschränken, wächst die Unzufriedenheit in ihren Reihen massiv.

Die Bewegung Al Sadrs

Starken Anteil am Rückgang der Gewalt hatte auch der einseitige Waffenstillstand, den der populäre schiitische Geistliche Muktada al Sadr im Sommer letzten Jahres ausgerufen hatte. Dieser sollte helfen, die Kontrolle über seine Bewegung und ihre Miliz, die Mehdi-Armee, zurück zu gewinnen, um den kriminellen Elementen, die unter ihrem Cover Angriffe auf Sunniten durchführten oder im Stil von Straßengangs die örtliche Bevölkerung terrorisierten, Schutzgelder erpressten etc., die Deckung zu nehmen. Mit Hilfe loyaler Einheiten konnten die Gewalttätigkeiten tatsächlich eingedämmt und die angeschlagene Reputation al Sadrs entscheidend verbessert werden.

Die Sadr-Bewegung ist die mit Abstand stärkste oppositionelle Kraft unter den Schiiten. Die Zahl der Anhänger, vor allem in den ärmeren Schichten, geht in die Millionen. Die islamisch-konservative Bewegung kontrolliert weite Teile Bagdads und anderer Städte und war eine der maßgeblichen Widerstandskräfte, die die Briten aus den südlichen Provinzen getrieben hatte.
Daher, und aufgrund seiner starken Anhängerschaft, war al Sadr zu einem der Hauptfeinde der Besatzer geworden. Auch gegen ihn hatte sich die „Surge“, unter dem Stichwort „Kampf gegen das Miliz-Unwesen“, von Anfang an gerichtet.

Die Offensiven im Frühjahr dieses Jahr endeten jedoch mit Waffenstillstandsabkommen, in denen die Sadr-Bewegung zwar die Hoheit über einige ihrer Hochburgen an die Regierungstruppen abtreten musste – entscheidend geschwächt wurde sie dadurch jedoch nicht. Al Sadr verstand es darüber hinaus, sich während der Angriffe der irakischen Öffentlichkeit als nationaler Führer zu präsentieren, der bereit ist, für die Einheit des Landes und zur Beendigung innerirakischer Kämpfe weit reichende Kompromisse einzugehen.[23] Er steht nun mit an der Spitze einer recht wirksamen, breiten politischen Opposition gegen die Besatzung.

Drohende Eskalation

Angesichts der Beruhigung der Lage scheinen die Besatzer militärisch nun die Oberhand zu haben, viele in Washington sehen die USA bereits auf der Siegesstraße. Der bewaffnete Widerstand wurde aber keinesfalls besiegt, sondern musste nur in einigen Gebieten zurückweichen bzw. seine Aktivitäten einschränken. Trotz ihrer intensivierten Politik des Teile und Herrsche verlieren die Besatzer im Irak politisch immer mehr an Boden. Alle ihre Vorhaben, vom Öl-Gesetz, das ausländischen Konzernen die Förderung von Öl gestatten würde, bis zu einem Truppenstationierungsabkommen, das die Besatzungsherrschaft per Vertrag verewigen würde, werden von einer immer breiter werdenden, nationalen Opposition blockiert.

Angesichts der Erfolge dieser „nationalistischen Surge“, wie Patrick Cockburn es nannte[24], hoffen viele Iraker die Besatzung mit politischen Mitteln beenden zu können. Doch unabhängig davon, wer künftig Präsident sein wird, werden die US-Eliten ihre Ziele einer dauerhaften militärischen Präsenz im Land und einer direkten Kontrolle des irakischen Öls kaum freiwillig aufgeben.

Die Auseinandersetzungen dürften sich daher bald wieder verschärfen. Gleichzeitig droht durch diese Politik – bei Fortsetzung der Besatzung – der zunehmende Zerfall des Landes in die Machtbereiche einzelner Warlords und Parteien.

Die fragile und gewaltgeladene Situation droht insbesondere in der von den Kurdenparteien beanspruchten, ölreichen Provinz um Kirkuk jeden Augenblick aufs Neue zu eskalieren, die Surge hat hieran nichts ändern können – im Gegenteil. Dies sollte auch all denen zu denken geben, die die US-Strategie im Irak als Vorbild für eine Eskalation der Kampfhandlungen in Afghanistan heranziehen wollen.

Anmerkungen

[1] “Securing, Stabilizing, and Rebuilding Iraq: Progress Report: Some Gains Made, Updated Strategy Needed”

GAO, 23.6.2008

[2] William E. Odom, Testimony before the Senate Foreign Relations Committee on Iraq, 2.4.2008

[3] “Lowest U.S. casualties not indication of better security conditions in Iraq”, Azzaman, 5.8.2008

[4] Siehe Iraq Coalition Casualty Count, http://icasualties.org
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[5] Vgl. Steven Simon, “The Price of the Surge”, Foreign Affairs, May/June 2008

[6] At Odds With Air Force, Army Adds Its Own Aviation Unit, NYT, 22.6.2008, s.a. Tom Engelhardt, “U.S. Continues to Brutalize Iraqis in the Cause of the ‚Surge’”, Tomdispatch.com, 30.6.2008,

[7] Air Force Plans Altered Role in Iraq, New York Times, July 29, 2008

[8] “U.S. increases spending on contractors in Iraq”, USA TODAY, 27.8.2007

[9] Siehe „Contractors’ Support of U.S. Operations in Iraq“, Congressional Budget Office, August 2008 und “In Iraq, private contractors outnumber U.S. troops”, AP, 20.9.2007

[10] Nir Rosen, The Myth of the Surge, Rolling Stone, 6.3.2008

[11] Ghaith Abdul-Ahad, “Baghdad: City of Walls”, 18.3.2008

[12] Nir Rosen, a.a.O. “The business end”, Financial Times, 27.6.2008, “U.S. military says it keeps 21,000 detainees in Iraq”, Xinhua 2.8.2008

[13] Juan Cole, “A Social History of the Surge”, Informed Comments, 24.7.2008, “Changing Baghdad — Ethnic violence has changed the city”, Washington Post, 15.12.2007 und “Balkanized Homecoming”, Washington Post, 16.12.2007

[14] “More Iraqis Said to Flee Since Troop Increase”, New York Times, 24.8.2007

[15] Steve Niva, “The New Walls of Baghdad — How the U.S. is Reproducing Israel’s Flawed Occupation Strategies in Iraq”, Foreign Policy In Focus, 21.4.2008

[16] Zitiert nach Tom Hayden, “The New Counterinsurgency”, The Nation, 6.9.2007

[17] “What to Do in Iraq: A Roundtable” By Larry Diamond, James Dobbins, Chaim Kaufmann, Leslie H. Gelb, and Stephen Biddle, Foreign Affairs , Juli/August 2006

[18] “Anbar Picture Grows Clearer, and Bleaker, Washington Post, 28.11.2006

[19] Steven Simon a.a.O. s. a. “’Awakening‘ Forces Arouse New Conflicts”, IPS, 26.12.2007 und “US buying loyalty of ‚concerned‘ Iraqis”, AFP, 17.10.2007

[20] siehe J. Guilliard „Strukturen der irakischen Befreiungsbewegung“ in junge Welt 22./24.9.2007 sowie Michael Eisenstadt, “Tribal Engagement Lessons Learned” Military Review, Sept.-Okt. 2007

[21] “Meet Abu Abed: the US’s new ally against al-Qaida”, Guardian, 10.11.2007

[22] „’Honor Front’ for Sunni collaborators“, Missing Links, 14.4.2008

[23] “Moqtada: Open war against the ocupation ‘and no other’”, Missing Links, 25.4.2008

[24] Patrick Cockburn, “Iraq’s Nationalist Surge”, ZNet, 9.8.2008. Siehe auch Robert Dreyfuss, „Nationalists Stirring in Iraq“, The Nation, 16.1.2008

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