IMI-Analyse 2025/27 - in AUSDRUCK September 2025
Transnationaler Friedensaktivismus
30 Jahre Delegationsreisen der deutschen IPPNW nach Kurdistan/Türkei
Gisela Penteker (09.09.2025)
Der Prophet Ibrahim erzählte einst folgende Geschichte: Auf dem Berg Nemrut am Vansee hauste ein grausamer Tyrann. Er ließ alle Menschen in den Krater des Berges werfen, in dem ein schreckliches Feuer loderte. Am Rand des Kraters stand eine große, graue Echse und pustete ständig in das Feuer. „Was machst Du da? Das Feuer brennt doch lichterloh, Du brauchst es doch nicht mehr zu schüren?“ „Doch, ich puste, denn ich habe mich entschieden, ich stehe auf der Seite des Tyrannen.“ Ein Stück weiter lief eine Smaragdeidechse ständig zwischen dem Kraterrand und einem kleinen Bach hin und her. Mit ihrer kleinen Zunge nahm sie in dem Bach ein paar Wassertropfen auf, lief zum Kraterrand und schüttete sie in das Feuer. „Was machst Du da? Siehst Du nicht, dass Dein Tun vollkommen unnütz ist, das Feuer brennt viel zu stark. Du kannst es gar nicht löschen.“ Die kleine Smaragdeidechse erwiderte: „Ich tue, was ich kann“
Suche nach Partnern
Seit 1996 ist die Arbeitsgruppe der IPPNW durch Delegationsreisen in die Türkei in kontinuierlichem Austausch mit kurdischen und türkischen Menschenrechtaktivist:innen und Organisationen. Im Arbeitskreis Süd/Nord suchten wir damals nach einem gut erreichbaren Krisenherd, um die Rolle der EU/Deutschlands in internationalen Konflikten und Kriegen zu untersuchen und zu verstehen. Wir entschieden uns für den Kurdenkonflikt in der Türkei, der auch Auswirkungen in Deutschland mit seiner großen türkischen und kurdischen Migrationsbevölkerung hat.
Unser naheliegender Partner war die türkische IPPNW-Sektion Nüsed, die sich nach dem Putsch 1980 und den folgenden kriegerischen Auseinandersetzungen neu gegründet hatte.
Nüsed verweigerte aber ein Engagement im Kurdenkonflikt und hatte zu dem Zeitpunkt die kurdischen Gründungsmitglieder schon ausgebootet. So wandten wir uns zunächst an die Ärztekammer, die in der Türkei eine nicht nur standespolitische Rolle spielt und Konflikte mit der Regierung nicht scheut. Bei der Ärztekammer in Diyarbakır wurden wir freundlich aufgenommen und warteten bei unzähligen Tassen süßen Tees darauf, dass sie uns weitere Kontakte vermitteln. Gleich nach unserem ersten Besuch wurde der amtierende Präsident der Ärztekammer unter Terrorismusverdacht verhaftet und mit fadenscheinigen Beweisen und anonymen Zeugen verurteilt. So war gleich unsere Solidarität gefragt und wir machten erste Erfahrungen mit der Prozessbeobachtung und der türkischen Willkürjustiz. In den ersten Jahren herrschte Ausnahmezustand im gesamten kurdischen Gebiet. Schon am Flughafen in Istanbul wurden wir gefragt, warum wir denn ausgerechnet nach Diyarbakır weiterfliegen wollten und in Diyarbakır durften wir den kleinen Flughafen nur verlassen, wenn Freunde aus der Stadt uns abholten. Überall gab es Straßensperren und Kontrollen. Damals hatte die Türkei als Natopartner viele der NVA-Waffen nach der Wiedervereinigung erhalten – mit der Auflage, sie nicht in der Türkei gegen die eigene Bevölkerung einzusetzen. Unsere männlichen Mitreisenden machten sich einen nicht ungefährlichen Sport daraus, bei diesen Kontrollen NVA-Panzer zu fotografieren, die man an ihrem charakteristischen Außenspiegel erkennen konnte. Wir wurden ständig begleitet von Geheimdienstleuten, die in kleinen weißen Renaults immer in unserer Nähe waren.
In der eigenen Organisation war unser Engagement im Kurdenkonflikt umstritten. Groß war die Angst, mit dem Terrorismus der PKK in Verbindung gebracht und von ihr instrumentalisiert zu werden. Hilfreich war bei dieser Auseinandersetzung die Zusammenarbeit mit dem Dialogkreis „Die Zeit ist reif für eine friedliche Lösung (des Kurdenkonflikts)“ von Andreas Buro.
Nur langsam wuchs die Zahl der Organisationen, mit denen wir Kontakt hatten. Persönliche Verbindungen konnten kaum entstehen, weil wir zwar dieselben Gruppen aber selten dieselben Personen wiedertrafen. Von Jahr zu Jahr verschwanden sie im Gefängnis, im Exil oder aus dem Amt. Die Qualität der Gespräche ist von der Güte der jeweiligen Dolmetscher abhängig, da kaum jemand von den Gesprächspartnern Englisch und von uns niemand Türkisch oder Kurdisch spricht.
Durchhaltevermögen zahlt sich aus
Inzwischen blicken wir auf fast 30 Jahre zurück. Viele Menschen sind mit uns in der Türkei gewesen. Die Reisen sind offen für alle Interessierten. Die multiprofessionelle Zusammensetzung der Delegationen ist eine große Bereicherung und führt zur Ausweitung der Themen und Kontakte. Wir wurden Zeugen der sehr wechselvollen Geschichte und der zunehmenden Autokratisierung und Islamisierung unter Präsident Erdogan und der AKP.
Wir sind aber auch Zeugen der Veränderung der kurdischen Gesellschaft von patriarchalen Clanstrukturen zu einer emanzipatorischen Entwicklung. Waren unsere Gesprächspartner in den Anfangsjahren ausschließlich würdevolle Männer in schwarzen Anzügen, treffen wir heute auf moderne, säkulare, weltoffene Menschen, zunehmend auch gut ausgebildete selbstbewusste Frauen in öffentlichen Positionen. Auf den Straßen und in den Vereinen wird häufig Kurdisch gesprochen und immer mehr Gesprächspartner:innen lernen Englisch.
Nachdem die deutsche Gruppe jahrelang wegen des Risikos der Reisen kaum junge Mitstreiter:innen hatte, gibt es jetzt eine multiprofessionelle Gruppe von jüngeren Aktivist:innen besonders aus Berlin, die Verantwortung übernimmt und in der Stadt gut vernetzt ist.
Seit 2021 laden wir jeden Herbst eine Gruppe von Menschenrechtsaktivisten aus dem kurdischen Teil der Türkei zum Gegenbesuch nach Deutschland ein. Das hebt die Arbeit auf ein neues Niveau mit einem Austausch auf Augenhöhe und der Vernetzung mit anderen Gruppen in Deutschland wie ProAsyl, Medico, BAfF (Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer), AI, Wildwasser, RAV (Republikanischer Anwaltsverein), Neue Richtervereinigung, Rote Hilfe, kurdischen Exilgruppen u.a.
Unsere Partner in der Türkei sind die Ärztekammer Diyarbakır, der Menschenrechtsverein IHD, die türkische Menschenrechtsstiftung TIHV, Anwaltskammern, Gewerkschaften, die kurdische HDP, DEM Partei, Vereine für Frauen- und Kinderrechte, Umweltvereine, Bürgermeister:innen und Stadtverwaltungen. Versuche, auch mit Vertreter:innen der anderen Parteien ins Gespräch zu kommen, hatten keinen Erfolg und scheitern an der starken Polarisierung im Land. Diese Polarisierung erleben wir auch unter den türkeistämmigen Migranten in Deutschland. Auch im Dialogkreis gelang es nicht, Kurden und Türken miteinander ins Gespräch zu bringen.
Kurden in Deutschland
In Deutschland leben ca. eine Million Kurden, die nach der Anwerbung von Gastarbeitern in den 1960er Jahren meist als Flüchtlinge infolge der kriegerischen Auseinandersetzungen, der schlechten Wirtschaftslage und von Naturkatastrophen gekommen sind. Viele von uns kennen Kurd:innen als Arbeitskolleg:innen, Nachbar:innen und manchmal Freund:innen, als Politiker:innen, Gewerkschafter:innen und Schauspieler:innen. Die allseits geschätzten Dönerbuden in der Nachbarschaft werden oft von kurdischen Familien betrieben. Trotzdem gibt es in Deutschland einen weit verbreiteten antikurdischen Rassismus. Kurde wird oft assoziiert mit Terrorismus, Drogenhandel und Clankriminalität. Kurdische Vereine werden vom Verfassungsschutz beobachtet und erhalten im Gegensatz zu vielen türkischen Vereinen keine staatliche Unterstützung. Immer wieder kommt es zu Razzien und zur Beschlagnahmung von Technik und Unterlagen. Verlage und Fernsehsender werden verboten. Kurdische Flüchtlinge aus der Türkei werden nur selten anerkannt, 2023 erhielten nur 6% von ihnen Schutz. Verzweifelte Suizide nehmen zu. Kurden, die sich öffentlich für die kurdische Sache einsetzen, geraten oft ins Visier der deutschen Sicherheitskräfte, weil ihnen Mitgliedschaft in der PKK vorgeworfen wird, die seit 1993 in Deutschland verboten ist und seit 2004 auf der Terrorliste der EU steht. Immer wieder werden diese Aktivisten verhaftet und zu Gefängnisstrafen verurteilt. Erstmals droht jetzt einem kurdischen Häftling in Niedersachsen die Abschiebung in die Türkei aus der Haft heraus, obwohl ihm dort weitere Gerichtsverfahren, Haft und Folter drohen. Wir fordern mit anderen Bündnispartnern, das PKK-Verbot aufzuheben und die Kriminalisierung kurdischer Menschen zu beenden. Gerade jetzt umso mehr, da die Kurden unter ihrem inhaftierten Vordenker Öcalan einen erneuten Friedensplan einfordern, der mit der Auflösung und Entwaffnung der PKK begonnen hat. Bisher gibt es von der türkischen Regierung nur zaghafte positive verbale Zustimmung, aber keine realen Zugeständnisse. Die Bundesregierung sollte die Friedensbemühungen nach Kräften unterstützen und die Verfolgung kurdischer Aktivist:innen beenden.
Ziele und Themen
Wir möchten mit unserem Projekt die komplexen, vielschichtigen Fragen verstehen und möglichst viele Menschen damit in Kontakt bringen. Eine Teilnahme an einer der Delegationsreisen hinterlässt einen tiefen Eindruck, besonders die Begegnung mit den Menschen, die sich unter hohem Druck und persönlicher Gefährdung für ihre Mitmenschen und die Gesellschaft einsetzen und für Frieden arbeiten. Nicht alle Mitreisenden bleiben am Thema, aber alle werden Nachrichten in diesem Zusammenhang anders lesen.
Unsere kurdischen Gäste treffen hier zivile Gruppen, mit denen sie sich dann auch unabhängig von unserem Projekt vernetzen können. Sie tragen als Botschafter ihres Landes dazu bei, dass sich das Bild der Kurden in Deutschland ändert. Die persönliche Begegnung mit ihnen bewirkt mehr als alle unsere Berichte.
Erfahrungsaustausch
Im psychosozialen Bereich in den Zentren zur Behandlung von Folteropfern werden viele kurdische Menschen betreut. Aus dem Bereich dieser Zentren kommen seit Jahren viele Delegationsteilnehmer:innen. Traumabehandlung ist deshalb auch ein Hauptthema unseres Austauschs. In Deutschland haben wir bei der Gründung von Behandlungszentren viel von den türkischen und kurdischen Kolleg:innen der Menschenrechtsstiftung gelernt und insbesondere den multiprofessionellen Ansatz übernommen. Während es in Deutschland häufig die Unsicherheit des Aufenthalts ist, die eine Therapie der Traumatisierten behindert, haben die Kolleg:innen in der Türkei es oft mit Menschen nach sehr langen Gefängnisaufenthalten zu tun, die keinen Anschluss mehr an ihre soziale Umgebung finden. Während wir in Deutschland einen individuellen Behandlungsansatz verfolgen, wird in den Zentren der TIHV das soziale Umfeld mit einbezogen. Das ist nur einer der Aspekte, wie wir vom gegenseitigen Austausch profitieren. Auf Fachtagen in Berlin und Diyarbakır wird dieser Austausch mit anderen geteilt.
Sozialabbau, Kommerzialisierung im Gesundheitswesen, Einschränkung von schon erreichten Schritten der Gleichberechtigung von Mann und Frau, schwindende Toleranz gegenüber LGBTQ+ und Umweltzerstörung betreffen in unterschiedlichem Ausmaß die türkisch-kurdische und die deutsche Gesellschaft. Auch hier hilft uns der Austausch und wir lernen voneinander. Zum Beispiel haben wir uns über Jahre am Widerstand gegen den Bau des Ilısu-Staudamms beteiligt, der den Tigris aufstaut, tausende Menschen aus ihren Dörfern am Ufer vertreibt und den Wasserzufluss nach Syrien und in den Irak drosselt. Leider waren alle Bemühungen umsonst. Der Staudamm ist gebaut, die Aufstauung des Tigris hat begonnen und die 10.000 Jahre alte Höhlenstadt Hasankeyf versinkt im Wasser. Die Auseinandersetzung damit hat uns sensibilisiert für die Vielschichtigkeit auch scheinbar sinnvoller nicht fossiler alternativer Energiegewinnung.
Wir fühlen uns mit unseren kurdischen Partner*innen solidarisch verbunden und stärken sie mit unserem Projekt bei ihrer schweren und gefährlichen Arbeit. Mit der Organisation der Gegenbesuche in Deutschland drücken wir unsere Wertschätzung für ihre Arbeit aus. Zugleich sind sie die Ausgangsvoraussetzung, um unseren Austausch trotz der sehr unterschiedlichen Bedingungen auf Augenhöhe zu bringen.