Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de

IMI-Analyse 2025/24 - In AUSDRUCK September 2025

Wehrdienst leisten oder zahlen

Interview mit Sedat Kaya vom Jugendverband der Föderation Demokratischer Arbeitervereine (DIDF)

Pablo Flock (08.09.2025)

Pablo (IMI): Hallo Sedat, stelle doch die DIDF-Jugend mal vor, für die, die euch noch nicht kennen.

Sedat Kaya: Wir, die DIDF-Jugend, sind der Jugendverband der Föderation Demokratischer Arbeitervereine (DIDF) und eine Organisation türkeistämmiger Jugendlicher. Seit unserer Gründung setzen wir uns dafür ein, dass junge Menschen mit Wurzeln aus der Türkei in Deutschland aktiv an sozialen Bewegungen und gegen Ausgrenzung, Diskriminierung und Krieg teilnehmen.

So alt wie die Migration aus der Türkei nach Deutschland ist, so lang sind auch die Versuche türkischer Regierungen, Einfluss auf die hier lebenden türkeistämmigen Menschen zu nehmen – insbesondere auf die Jugend. Dies geschieht unter anderem durch den staatlich kontrollierten Moscheeverband DITIB (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion) oder durch nationalistische Organisationen, die die Identifikation mit der Türkei als „eigentliche Heimat“ stärken wollen. Auch Reden des türkischen Präsidenten Erdogan bei Deutschland-Besuchen zeigen dies deutlich: Er stilisiert sich als „Beschützer“ und versucht, türkeistämmige Menschen für die außenpolitischen Interessen der Türkei zu instrumentalisieren – insbesondere im Verhältnis zu Deutschland.

Ist diese staatliche Einflussnahme bei Jugendlichen erfolgreich?

Die nationalistische Propaganda fällt oft auf fruchtbaren Boden, da viele türkeistämmige Jugendliche in Deutschland weiterhin unter sozialer Benachteiligung und rassistischer Diskriminierung leiden. Sei es durch Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt, wo diese Menschen häufiger als andere Jugendliche keine ausreichende formale Qualifikation nachweisen können, bei Bewerbungen für eine Ausbildung abgelehnt werden oder in schlecht bezahlten Jobs mit harten Bedingungen arbeiten müssen. Aber auch in der Schule oder Universität gibt es strukturelle rassistische Diskriminierung, wo türkeistämmige Jugendliche oft mal schlechter benotet werden oder aufgrund von unzureichenden Bedingungen nicht mitkommen. Diese Erfahrungen lassen das Zugehörigkeitsgefühl zu Deutschland bröckeln und verstärken bei manchen die Hinwendung in die „eigene Community“ und zur Türkei als vermeintlich „starkes Vaterland“. Weil man sich eben fühlt, als ob man nicht „dazugehört“.

Dabei ist diese Propaganda häufig auch militaristisch. Die Türkei inszeniert sich zunehmend als militärische Weltmacht, die von äußeren Mächten bedroht und „unten gehalten“ werde und sich dagegen behaupten müsse. Und das ist hier konkret spürbar: So wird in dem Moscheenverband DITIP, der mit etwa 1.000 Moscheen den größten islamischen Religionsverband in Deutschland darstellt und der mit der türkischen Religionsbehörde DIYANET verbunden ist, auch für den „Sieg“ der türkischen Armee vorgebetet. In der Vergangenheit wurden in einigen Moscheen sogar Kinder in Soldatenuniformen präsentiert und die türkische Armee heroisiert. Auch türkische Fernsehserien die z.B. auf Netflix ausgestrahlt werden und das Osmanische Reich glorifizieren oder Kämpfe gegen kurdische Rebellen heroisieren, verstärken dieses Bild.

Du hast die Vermischung von Propaganda und militaristischer Inszenierung angesprochen. Welche Rolle spielt der türkische Militärdienst für Jugendliche, die in Deutschland leben?

Alle männlichen türkischen Staatsbürger sind grundsätzlich wehrpflichtig – auch wenn sie in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Mit Vollendung des 20. Lebensjahres werden sie einberufen. Der Wehrdienst kann bis zum 38. Lebensjahr aufgeschoben werden. Alternativ gibt es die Möglichkeit, sich „freizukaufen“ – aktuell für rund 280.850 Türkische Lira (ca. 6.050 €). Dieser Betrag wird halbjährlich an die Inflation nach oben angepasst (im ersten Halbjahr lag er bei 243.013 TL). „Freikaufen“ bedeutet wiederum nicht, dass es dann vorbei wäre mit dem Militärdienst. Freikaufen bedeutet, dass man diesen Betrag zahlt und mehrere Wochen (28 Tage) entweder an einer kurzen militärischen Ausbildung oder an einer militärischen Fernausbildung teilnehmt. In jedem Fall soll also eine militaristische Indoktrination stattfinden.

Natürlich können die Jugendlichen die Einberufung ignorieren – dann werden sie zu Deserteuren. Das heißt dann wiederum: sobald sie in die Türkei einreisen, werden sie als „Fahnenflüchtige“ gefasst und eingezogen. Kriegsdienstverweigerung wird nicht anerkannt. Solange die Jugendlichen nicht in die Türkei einreisen, passiert ihnen in der Regel nichts. Aber die nächsten Verwandten vor Ort, also in der Türkei, werden drangsaliert und sie müssen erklären, wo der Fahnenflüchtige ist. Auch die Eltern können bei der Einreise mehrere Stunden an der Grenze angehalten und nach ihrem Sohn befragt werden. Irgendwann müssen diese Jugendlichen aber zum türkischen Konsulat, um ihren Pass zu verlängern – spätestens dann müssen sie dieses Problem aus der Welt schaffen. Der türkische Staat ist da sehr erfinderisch: Man zahlt als „Fahnenflüchtiger“ einen zusätzlichen Strafbetrag (ca. 4.000 TL) zum normalen Freikaufbetrag – dann ist wieder alles in Ordnung.

Viele unserer Mitglieder sind nicht betroffen, da sie einen deutschen Pass besitzen. Dennoch ist das Thema Wehrpflicht ständig präsent. Wir fordern, dass im Ausland lebende türkeistämmige Jugendliche grundsätzlich vom Wehrdienst in der Türkei befreit werden – bedingungslos.

Können Jugendliche dem türkischen Wehrdienst entgehen, indem sie die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen?

Viele Jugendliche besitzen weiterhin die türkische Staatsbürgerschaft – allein oder in Kombination mit der deutschen. Prinzipiell sind sie damit wehrpflichtig, selbst wenn sie nie in der Türkei waren. Die einzige dauerhafte Möglichkeit zur Befreiung ist die Ausbürgerung. Diese ist jedoch nur mit doppelter Staatsbürgerschaft möglich – und selbst dann nur, wenn zuvor der Wehrdienst geleistet oder der Freikauf vollzogen wurde. Wir wenden uns gegen jede Form von nationalistischer und fundamentalistischer Propaganda – sei es aus der Türkei oder hier in Deutschland –, die versucht, türkeistämmige Jugendliche zu spalten und von ihren deutschen Mitschülern, Kommilitonen oder Kollegen zu entfremden. Die türkische Staatsbürgerschaft rechtzeitig abzulegen ist dabei ein legitimes Mittel, um sich später nicht Freikaufen zu müssen.

Aus der Türkei erreichen uns immer wieder Berichte über die Unterdrückung der Opposition oder verschiedener Minderheitengruppen. Gleichzeitig versucht sich die Türkei als Regionalmacht im Nahen Osten zu profilieren. Wie blickt ihr aus Deutschland auf die türkische Politik?

Auch die Außenpolitik der Türkei lehnen wir ab – wie z.B. die Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung, die Einmischung in Nachbarländer wie z.B. Syrien, sowie die Durchsetzung geopolitischer Interessen als NATO-Mitglied mit westlicher Unterstützung. In der Türkei wird regelmäßig über den Wehrdienst diskutiert. Kürzlich hieß es, er solle auf drei Monate verkürzt werden – kurz darauf wurde dies vom Verteidigungsministerium dementiert. Die türkische Armee wird seit Jahren professionalisiert: 2021 lag die Zahl der Berufssoldaten bei rund 216.000(von insgesamt ca. 391.000Soldaten). Eine Berufsarmee kann leichter gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt werden – das zeigt die politische Realität in der Türkei. Trotz staatlicher Glorifizierung des Militärs gibt es laut offiziellen Zahlen etwa 550.000 Fahnenflüchtige – ein deutliches Zeichen dafür, dass viele den Wehrdienst ablehnen.

Ebenso kritisieren wir die Aufrüstung in Deutschland. Die Bundeswehr soll mit dem größten Aufrüstungsprogramm nach dem Zweiten Weltkrieg zur stärksten Armee Europas ausgebaut werden, damit Deutschland erneut zur Weltmacht werden und seine politischen und ökonomischen Interessen im Ausland noch effektiver durchsetzen kann. Deshalb gilt unsere Kriegsgegnerschaft prinzipiell, ob in der Türkei, Deutschland oder irgendwo anderes auf der Welt. Perspektivlosigkeit und Zukunftsangst treiben immer mehr türkeistämmige Jugendliche in die Bundeswehr. Die geplante Erhöhung des Soldes führt dazu, dass gerade Jugendliche ohne Perspektive für den Dienst in der Bundeswehr angeworben werden. Eine solche „Unterschichtarmee“, wie sie bereits in den USA existierte, lehnen wir entschieden ab. Wir fordern: gute Arbeit, gute Bildung und eine lebenswerte Zukunft für alle Jugendlichen in Deutschland – auch ohne Laufbahn im Militär.

Wir stellen uns grundsätzlich gegen Militarismus – ob in der Türkei, in Deutschland oder anderswo auf der Welt. Und unterstützen die Forderung nach der Möglichkeit einer Kriegsdienstverweigerung für türkische und deutsche Staatsbürger. Wir unterstützen die Demokratiebewegung, die Arbeiterbewegung und die kurdische Freiheitsbewegung in der Türkei. Wir informieren die demokratische Öffentlichkeit in Deutschland, fordern Solidarität und kritisieren die Bundesregierung für ihre Militärhilfen und das sogenannte „Flüchtlingsabkommen“.

Mit solchen Positionen seid ihr weit weg von dem, was sich Erdogan von seinen Bürger:innen wünscht. Erfahrt ihr Repression für eure Arbeit hier in Deutschland?

Unsere Arbeit schafft nicht nur freundliche Anerkennung und Unterstützung. Wir werden sehr wahrscheinlich auch durch den türkischen Geheimdienst ausspioniert. Dass es eine sehr rege Zusammenarbeit zwischen dem türkischen Geheimdienst (MIT) und deutschen nachrichtendienstlichen Behörden gibt, ist ja kein Geheimnis. Das hat in der Vergangenheit öfters auch zu kontroversen Diskussionen in der Öffentlichkeit geführt. Es gibt immer wieder Berichte über die Aktivitäten des MIT in Deutschland, insbesondere in Bezug auf die Überwachung von Organisationen wie unseren. Die deutschen Behörden, wie das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), beobachten und analysieren die türkeistämmige Community in Deutschland und geben ihre Erkenntnisse an die türkischen Behörden weiter. Das Ganze hat uns bis jetzt nicht abgehalten, das zu machen, was wir als richtig und wichtig erachten, das wird sich auch in Zukunft nicht ändern.

------------

Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de