Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de

IMI-Analyse 2025/15

Zum Begriff der Kriegswirtschaft

Sebastian Thome (05.06.2025)

Unter dem programmatischen Titel „ReArm Europe“ will die EU-Kommission in den nächsten Jahren bis zu 800 Mrd. Euro für Rüstung mobilisieren, den einzelnen Mitgliedsstaaten im Rahmen der europäischen Schuldenregeln mehr Spielraum für Verteidigungsausgaben ermöglichen sowie Auflagen und Vorschriften für die Rüstungsindustrie lockern.[1] Gleichzeitig fallen in Deutschland alle Ausgaben für Rüstung, die über 1% des BIP hinausgehen, nach einer unter demokratischen Gesichtspunkten zumin-
dest fragwürdigen Änderung des Grundgesetzes künftig nicht mehr unter die Regelung der Schuldenbremse.[2] Die Zeiten könnten für die Rüstungsindustrie besser kaum laufen, während die meisten Menschen sich auf künftige Entbehrungen im Sinne der „Kriegstüchtigkeit“ einstellen sollen. „Die Industrie im Norden entkoppelt sich von der gesamtdeutschen Entwicklung, wobei der Aufschwung in der Rüstungsindustrie hier eine zentrale Rolle spielt“, sagte jüngst ein Mitarbeiter des Ifo-Instituts dem NDR.[3] Entsprechend der gestiegenen Nachfrage plant Rheinmetall, zwei seiner deutschen Standorte, die bislang für die Produktion von Autoteilen zuständig waren, auf die Produktion von Waffen und Munition umzustellen.[4] Auch die Zusammenarbeit mit Volkswagen will der Konzern weiter ausbauen. Das VW-Werk Osnabrück soll in Zukunft für die Produktion von Militärfahrzeugen genutzt werden.[5]

Steuert Europa, steuert die Bundesrepublik Deutschland somit auf eine „Kriegswirtschaft“ zu? Noch dominiert im öffentlichen Diskurs der Bezug auf die russische Wirtschaft, wenn von Kriegswirtschaft die Rede ist, doch ein diskursiver Wandel zeichnet sich unzweifelhaft ab. Mitte März brachte Manfred Weber von der Europäischen Volkspartei (EVP) den Begriff mit der europäischen Wirtschaft prominent in Zusammenhang. „Wir müssen unser Denken in Europa jetzt auf Kriegswirtschaft umstellen“, mahnte er in einem Interview mit der Welt am Sonntag an.[6] Das bedeute unter anderem beschleunigte Genehmigungsverfahren bei Rüstungsgütern und eine verbesserte Zusammenarbeit unter den europäischen Rüstungsproduzenten. Weiterhin brachte er ein zentralisiertes Beschaffungswesen in Form eines europäischen Führungskommandos ins Spiel sowie die Idee, Unternehmen, die bislang Güter für zivile Zwecke produziert haben, vermehrt für die Produktion von Waffen zu nutzen. Auf die Gründe für seinen Vorschlag angesprochen, antwortete Weber im Gespräch mit dem Deutschlandfunk: „Wir haben zu viel konsumiert und zu wenig investiert“. Da es nicht mehr selbstverständlich sei, „dass wir in Frieden, Freiheit und Demokratie leben dürfen“, gelte es nun, Europa „militärisch so stark [zu] machen, dass wir faktisch auch Krieg führen können“.[7]


Aus dem Kontext ergibt sich die Bedeutung

Linguistisch gesprochen handelt es sich bei dem Wort Kriegswirtschaft zunächst einmal um ein Determinativkompositum. Das dahinterliegende Wortbildungsverfahren nennt man Komposition. Bei einer einfachen Komposition treten zwei i.d.R. frei im Sprachgebrauch vorkommende Elemente aneinander und bilden eine neue, komplexe Wortform. Merkmal eines Determinativkompositums ist, dass die semantische Beziehung seiner Glieder eine klare Hierarchie aufweist. Das erste Glied bestimmt das zweite näher. Das zweite Glied bildet somit den Oberbegriff zum Kompositum. Ohne Weiteres verstehen wir allein aufgrund unseres – oftmals nur impliziten – Sprachwissens, dass das Wort Kriegswirtschaft eine bestimmte Form der Wirtschaft bezeichnet, ohne dabei schon über die spezifischen Besonderheiten gegenüber anderen Wirtschaftsformen Kenntnis haben zu müssen. Wir verstehen auch, dass die Bedeutung des Wortes Kriegswirtschaft nicht die gleiche ist wie die des Wortes Wirtschaftskrieg, dass ersteres eine Form der Wirtschaft, letzteres eine Form des Krieges bezeichnet.

Poster von Ernst Ludwig Franke zum Kauf von Kriegsanleihen in Österreich, 1918. postermuseum.com

Betrachtet man Determinativkomposita losgelöst von ihrem jeweiligen Gebrauchskontext, stößt man häufig auf ein Phänomen, das in der Linguistik als Unterdeterminiertheit bezeichnet wird. Damit ist gemeint, dass Determinativkomposita dazu neigen, mehrere, mitunter stark voneinander abweichende Lesarten zu eröffnen. Bezogen auf das Wort Kriegswirtschaft zeigt sich diese Unterdeterminiertheit darin, dass sich zu dem Kompositum mehrere Paraphrasen mit unterschiedlichen Sinnrichtungen bilden lassen. So könnte das Wort Kriegswirtschaft einerseits temporal oder situativ für „eine Wirtschaft in einem Krieg“ stehen, andererseits aber auch in einem finalen Sinne gebraucht werden als „Wirtschaft, deren Ziel es ist, einen Krieg vorzubereiten, zu führen oder zu unterstützen“. Auch lässt sich eine kausale Paraphrase denken im Sinne einer Wirtschaft, die „sich durch den Krieg entwickelt hat“ oder „durch den Krieg bedingt ist“; oder eine instrumentale, die die „Wirtschaft als Mittel des Krieges“ ausweist. Für sich allein betrachtet, weist das Wort Kriegswirtschaft – wie zahlreiche andere Determinativkomposita auch – eine nicht unbeträchtliche semantische Unschärfe auf.


Derartige Unschärfen führen im alltäglichen Sprachgebrauch jedoch nur selten zu kommunikativen Problemen. Die Linguistin Elke Donalies weist darauf hin, dass dieser theoretisch große Interpretationsspielraum im Sprachgebrauch praktisch keine Rolle spielt, da „die Produktion und Interpretation […] in der Regel durch den direkten Kontext gesteuert [wird]“[8]. Dahinter steht eine Erkenntnis, die sich in der modernen Linguistik weitgehend durchgesetzt hat und auf den österreichischen Sprachphilosophen Ludwig Wittgenstein zurückgeht: dass die Bedeutung eines Wortes von seinem Gebrauch in der Sprache nicht zu trennen ist, dass sie nichts ist, was einem Wort essenziell innewohnt, sondern vielmehr etwas, das ihm performativ in einer konkreten Sprachgebrauchssituation zukommt. Anders ausgedrückt: dass ein Wort nicht eine Bedeutung hat, sondern dass es bedeutet. Die Bedeutung eines Wortes zu kennen, heißt zu wissen, wie man es gebrauchen kann. Diese Bedeutung linguistisch zu beschreiben, setzt voraus, Wissen über den Kontext, in dem das Wort gebraucht wurde, zu erlangen. Nicht zuletzt erfordert eine sprachkritische Bewertung und Einordnung des jeweiligen Wortes eine angemessene Beschreibung seiner Bedeutung. Denn kritikwürdig sind nicht die Wörter an sich, sondern allenfalls ihr Gebrauch durch diejenigen, die mit ihnen sprachlich handeln, und damit die sprachlich Handelnden selbst.[9]
Wollen wir die Frage, was das Wort Kriegswirtschaft bedeutet, also linguistisch beantworten, so müssen wir zunächst weitere stellen. Wir müssen beispielsweise wissen, wer das Wort gebraucht, warum und wozu dies geschieht, was mit seinem Gebrauch bedeutet werden soll. In dem obigen Beispiel ist es mit Manfred Weber der Vorsitzende der größten Partei im Europaparlament. Er gebraucht das Wort in einem Zeitungsinterview im Zusammenhang mit einer politischen Forderung und Ideen zu ihrer Umsetzung. Den Vorschlag einer Kriegswirtschaft auf europäischer Ebene bringt er ein, weil er die verteidigungspolitische Lage Europas für problematisch hält. Weiterhin bringt er ihn ein, damit auf europäischer Ebene Maßnahmen zu einer zentralisierten wirtschaftlichen Planung im Bereich der Rüstungspolitik ergriffen werden. Kennzeichnend für die Kriegswirtschaft ist hier also eine Engführung des Begriffs auf die Bündelung von gesellschaftlichen Ressourcen wie Arbeitskraft, Gebäuden und Maschinen zur Herstellung von militärischem Gerät und Waffen. Wenn Weber von Kriegswirtschaft spricht, klingt darin deutlich die oben skizzierte finale Lesart des Wortes an. Die europäische Wirtschaft soll die europäischen Länder in die Lage versetzen, Krieg führen zu können, sie soll einen möglichen Krieg vorbereiten. Webers Vorschlag zu einer Kriegswirtschaft steht somit ganz im Zeichen der diskursiven Mobilmachung, die wir seit Russlands Angriff auf die Ukraine allenthalben beobachten können.


Kriegswirtschaftslehre nach Otto Neurath


Eine weitaus differenziertere Perspektive auf den Begriff eröffnet ein Blick in das Werk Otto Neuraths. Der österreichische Ökonom, der der Welt heute vor allem durch seine bildpädagogischen Arbeiten bekannt ist, entwickelte vor knapp 100 Jahren aus der Erfahrung des Ersten Weltkrieges eine Wirtschaftstheorie, die er als Kriegswirtschaftslehre bezeichnete. Die Kriegswirtschaftslehre verfolgte das Ziel, Erkenntnisse über das wirtschaftliche Geschehen in einem Krieg systematisiert darzustellen und zu theoretisieren. Neuraths Faszination an der Kriegswirtschaft galt vor allem ihrem Potenzial, das wirtschaftliche Handeln vollständig auf die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und eine effiziente Nutzung gesellschaftlicher Ressourcen auszurichten. Neurath erblickte in der Kriegswirtschaft die Möglichkeit, einen umfassenden ökonomischen Wandel in die Wege zu leiten. Dieser Wandel – so Neurath in seinem Text „Kriegswirtschaft, Verwaltungswirtschaft, Naturalwirtschaft“ – vollziehe eine Abkehr von der Verkehrswirtschaft, in der sich das wirtschaftliche Handeln nach dem zu erwartenden monetären Gewinn richte und die gesellschaftlichen Potenziale nur insoweit genutzt würden, als diese die Gewinnerwartungen steigerten. Gleichzeitig bedeute er die Hinwendung zu einer Verwaltungswirtschaft, die mittels eines an den menschlichen Bedürfnissen und Fähigkeiten orientierten Wirtschaftsplans eine solche „Minderausnützung im Interesse des Reingewinns nicht an[erkenne]“[10]. Dabei betonte Neurath – so z.B. in einem „Gesellschaftstechnischen Gutachten“ aus dem Jahr 1919 –, dass „der Ausdruck Verwaltungswirtschaft […] mit dem Ausdruck Staatssozialismus nicht bedeutungsgleich [sei]“[11], da die zentrale Verwaltungsstelle nicht notwendigerweise ein Staat sein müsse, sondern ebenso gesellschaftlich organisiert werden könne. Nach dem Ersten Weltkrieg weitete Neurath seine Überlegungen aus. Seine Beobachtungen zur Kriegswirtschaft mündeten in die Idee einer Vollsozialisierung der Wirtschaft. Darunter verstand er letztlich eine vollständige Vergesellschaftung der Produktionsmittel und ihre „planmäßig[e] Verwaltung zugunsten der Gesellschaft durch die Gesellschaft“[12]. Der Friedensbewegung seiner Zeit attestierte er einen ökonomisch verengten Blick, denn diese – so Neurath in „Die Kriegswirtschaft als Sonderdisziplin“ – komme in ihrer Argumentation „häufig über recht unzulängliche Berechnungsversuche nicht hinaus, welche die durch die Kriege verursachten Verluste in Geldsummen zum Ausdruck zu bringen suchen“[13]. Die Kriegswirtschaft habe jedoch gezeigt, dass es grundsätzlich möglich sei, wirtschaftliches Handeln und Kalkulieren in einem gesellschaftlichen Maßstab nicht mit Blick auf „Rentabilität und Profit für wenige“, sondern im Sinne von „Produktivität und Bedarfssicherung für alle“ zu organisieren, sodass umsichtige planerische Vernunft an die Stelle gewinnorientierter ökonomischer Rationalität trete.[14]

Wenngleich Neurath immer wieder betonte, dass die von ihm entwickelte Kriegswirtschaftslehre unpolitisch sei, also weder im Dienst des Krieges noch des Friedens stehe, kann man seine begrifflichen Reflexionen aus einer pazifistischen Perspektive auch als eine Anregung lesen, über die Kriegswirtschaft in einer Weise nachzudenken, die sich für die Friedensarbeit nutzbar machen ließe. Mit den aus dem Krieg erwachsenen wirtschaftlichen Instrumenten könnte „auch im Frieden effizienter produziert und gerechter verteilt werden“[15]. Das Wort Kriegswirtschaft könnte eine Wirtschaftsform bedeuten, die den Krieg gerade nicht zu ermöglichen, sondern zu verunmöglichen versucht. Ein pazifistisches Sprechen sollte sich derartiger begrifflicher Potenziale bewusst werden. Denn nur auf der Grundlage eines fundierten begrifflichen Wissens lässt sich der zunehmenden Militarisierung unserer Sprache und unseres Denkens etwas entgegensetzen.


Anmerkungen



[1] EU will bis 2023 massiv aufrüsten, Tagesschau, 20.3.2025.
[2] Bei den Staatsfinanzen wird geklotzt, nicht gekleckert, Deutschlandfunk, 22.3.2025.
[3] Wirtschaftswachstum: Im Norden läuft es besser als im Rest des Landes, NDR, 15.4.2025.
[4] Rheinmetall könnte zwei Werke auf Waffenproduktion umstellen, Spiegel, 24.2.2025.
[5] Christian Müßgens: Rheinmetall ist an Übernahme eines VW-Werks interessiert, FAZ, 28.3.2025. [6] Christoph B. Schlitz: Wir müssen unser Denken in Europa jetzt auf Kriegswirtschaft umstellen, Welt,
15.3.2025. [7] Barbara Schmidt-Mattern: EVP-Chef Weber will mehr europäische Rüstungsproduktion, Deutschlandfunk, 20.3.2025.
[8] Donalies, Elke (2003): „Gebt endlich die Wortbildung frei!“ Über unsinnige und sinnige Kritik an der Wortbildung. IDS-Sprachforum 13. November 2002. In: IDS Sprachreport 1/2003. S. 26-32.
[9] vgl. Schiewe, Jürgen & Wengeler, Martin (2005): Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur. Einführung
der Herausgeber zum ersten Heft. In: Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur 1/1. S. 1-12.
[10] Neurath, Otto (1919): Durch die Kriegswirtschaft zur Naturalwirtschaft. München: Callwey, S. 149.
[11] Neurath 1919, S. 209.
[12] Ebd.
[13] Neurath 1919, S. 4.
[14] Sandner, Günther (2014): „Was Menschenkraft zu leisten vermag“. Otto Neurath und die Kriegswirtschaftslehre. In: Dornik, Wolfram et al. [Hrsg.]: Frontwechsel. Österreich-Ungarns „Großer Krieg“ im Vergleich. Wien: Böhlau. S. 377–397, hier S. 387.
[15] Ebd.

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