IMI-Standpunkt 2024/19
„Blank“ dastehen und trotzdem überall mitmischen?
Gedanken aus Anlass der Debatte über einen Einsatz der Bundeswehr in „Nahost“
Christoph Marischka (06.08.2024)
Es ist bezeichnend für die aktuelle „sicherheitspolitische“ Debatte, wie dieselben Protagonisten zugleich ziemlich widersprüchliche Positionen vertreten können und dabei von einem Großteil der Medien sekundiert werden.
Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 ist die Behauptung des Inspekteurs des Heeres, wonach dieses „mehr oder weniger blank da[steht]“, auf die gesamte Bundeswehr verallgemeinert zum geflügelten Wort geworden. Kurz darauf wurde vom Bundeskanzler die „Zeitenwende“ ausgerufen und ein „Sondervermögen“ angekündigt, das in Windeseile unter Umgehung der Schuldenbremse umgesetzt wurde. Ausnahmen kennt die Schuldenbremse laut Grundgesetz eigentlich nur „[i]m Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen“. Um sicherzugehen, wurde auch das Sondervermögen Bundeswehr ins Grundgesetz aufgenommen. Ein „verfassungsrechtliches Novum“, so Hanno Kube, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Heidelberg: „Man mag darüber streiten, ob eine solche ad hoc-Regelung, die keinesfalls eine allgemeine, fundamentale Norm des Zusammenlebens betrifft, des Verfassungsrangs würdig ist.“1
Kaum jemand stellte bereits damals die Frage, wie oder warum sich eine Bundeswehr, die angeblich „blank“ dasteht, an der Seite ihrer „Verbündeten“ zwei Jahrzehnte in Afghanistan und ein Jahrzehnt in der Sahel-Region an kostspieligen militärischen Abenteuern beteiligen konnte – in beiden Fällen teilweise als zweitgrößer Truppensteller nach den USA bzw. Frankreich. Die Tatsache, dass die vermeintlich blanke Truppe, zu deren Sanierung zu äußersten Mitteln gegriffen werden müsse, massenhaft Material an die Ukraine abgeben konnte und die Rüstungsexporte einer angeblich nicht verteidigungsfähigen deutschen Rüstungsindustrie alle Rekorde brach, löste ebenfalls wenig Widerspruch aus. Auch unabhängig vom Sondervermögen wuchs – trotz Schuldenbremse und als nahezu einziger Einzelplan – der Verteidigungshaushalt weiter und längst stehen Forderungen im Raum, weitere Sondervermögen aufzulegen. Die Wehrbeauftragte des Bundestags, Eva Högl und Roderich Kiesewetter (s.u.) nannten einen Bedarf von bis zu 300 Mrd. Euro.2
„Verteidigungsbereit“ oder „Kriegstüchtig“?
Vor allem der Bundesverteidigungsminister Pistorius wird nicht müde, mehr Geld für sein Ressort einzufordern, weil das trotz ständiger Erhöhung stets „zu wenig“ sei. Begründet wird dies – wie vieles andere – zunehmend mit einem vermeintlich bevorstehenden Angriff Russlands auf die NATO. Damit kann man womöglich tatsächlich begründen, warum die Bundeswehr erstmals in ihrer Geschichte dauerhaft eine ganze Brigade im Ausland, in Litauen, stationiert. Wie das aber eine „blank“ dastehende Truppe in dieser Geschwindigkeit und Dimension schafft, ist bemerkenswert: „Bis 2027 wird eine komplette Kleinstadt für rund 10.000 Menschen (5.000 Soldaten und Zivilangestellte plus Familien) errichtet. Neben dem bereits vorhandenen Truppenübungsplatz Rukla wird außerdem nahe der Hauptstadt Vilnius der neue Truppenübungsplatz Rudninkai gebaut, der für übende Panzer geeignet sein muss. Er ist mit 170 Quadratkilometern etwas größer als die Stadtfläche von Mannheim.“3
Aber eigentlich geht es offenbar nicht nur um „Verteidigungsfähigkeit“ sondern, das sagt der Kriegsminister ja eigentlich recht deutlich, um „Kriegstüchtigkeit“. Das macht er auch mit seinem Verhalten klar. Im Februar 2024 besuchte er die Fregatte Hessen auf ihrem Weg zu einem Einsatz gegen die Huthi im Roten Meer. Fregattenkapitän Volker Kübsch kündigte an, man werde „bis Ende April ‚im Kriegsmarsch‘ unterwegs sein“ und Pistorius kündigte an: „Jetzt geht es um den Ernstfall“. Weiter führte er feierlich und viel zitiert aus: „Man kann ohne Übertreibung sagen: Es ist der ernsthafteste, auch der gefährlichste Einsatz der Marine seit Jahrzehnten.“4 Auf welche anderen, gefährlichen Einsätze der deutschen Marine vor Jahrzehnten er dabei anspielte, bleibt unklar und wurde nicht hinterfragt.
„Mitmischen“ im Indopazifik
Viel zitiert wurde zuletzt eine Rede von Pistorius am Donnerstag, dem 1. August 2024, am US-Institut für Asiatisch-Pazifische Sicherheit (APCSS) in Honolulu. Die FAZ fasst zustimmend zusammen: „Der aktuelle Haushalt wird dem Wunsch des Verteididungsministers nach mehr Geld nicht gerecht. Aber gerade in der Zukunft müsse Deutschland wegen der Bedrohung aus Russland für die Sicherheit aufstocken.“ Konkret zitiert wird der Minister mit den folgenden Worten: „Wir müssen über das Zwei-Prozent-Ziel hinausgehen. Und vor dem Hintergrund der russischen Aggression müssen wir das schnell machen.“
Ausführlich berichtete u.a. das ZDF über den Kontext dieser Rede: „Eine Woche lang reist Verteidigungsminister Pistorius in den Indopazifik. Die erste Station ist Hawaii. Dort nehmen deutsche Soldaten am größten See-Manöver der Welt teil.“5 In einem anderen Beitrag erläutert Ines Trams, Korrespondentin im ZDF-Hauptstadtstudio: „Wenn man so will, ist Pistorius die politische Vorhut, der die Marine dann folgt: Beide Schiffe, sowohl die Fregatte als auch der Einsatzgruppenversorger setzen nach ihrer Teilnahme am RIMPAC-Manöver das Indo-Pacific Deployment fort, ihre Tour durch die Indopazifik-Region… Konkret dürfte Pistorius‘ Ziel und auch das Ziel des Indo-Pacific Deployments sein, der Welt und konkret vor allem dem Partner USA zu demonstrieren: Seht her, wir stehen an Eurer Seite, auch in dieser Region der Welt. Dass Deutschland bereit ist, sich auch dort sicherheitspolitisch zu engagieren. Obwohl wir einen Krieg in Europa haben, der ziemlich viele Kräfte bindet… Die aktuelle Botschaft Deutschlands: Wir sind da und wollen mitmischen.“6
Und diese Botschaft wird in Dauerschleife wiederholt und durch neue Inszenierungen ergänzt. Von Hawaii ging es weiter an die Grenze zwischen Nord- und Südkorea, wo Pistorius feierlich Deutschlands Beitritt zum US-geführten „United Nations Commands“ unterzeichnete und bis Ende des Jahres auch personelle Beiträge der Bundeswehr in Aussicht stellte. Von da ging es dann weiter nach Manila, wo er eine Vereinbarung über die Zusammenarbeit mit den Phillippinen im Verteidigungsbereich unterschrieb.
Eskalation um Israel
Während der deutsche Verteidigungsminister im Indopazifik unterwegs war, drohte die Situation zwischen Israel, dem Iran und seinen Verbündeten infolge der israelischen Angriffe auf Führungspersonen der Hamas und der Hisbollah in Beirut und Teheran drastisch zu eskalieren. Die iranische Führung drohte massive Vergeltung an, auf die sich Israel vorbereitet, während die Bevölkerung im Libanon offenbar massive israelische Luftschläge befürchtet. Die USA verlegen massiv Truppen in die Region und kündigten Israel militärische Unterstützung an. Entsprechende Forderungen, dass sich auch die Bundeswehr am Schutz Israels beteiligen sollte, erreichten Pistorius noch auf der Koreanischen Halbinsel, wo er erstmal antwortete, das sei für ihn „gerade völlig unvorstellbar“ – um dann das Offensichtliche zu ergänzen, nämlich dass dafür ein Mandat des Bundestages nötig wäre. Außerdem zeigte er sich offen für andere Formen der militärischen Unterstützung.
Damit war die Debatte freilich eröffnet. Als herausragender Protagonist positionierte sich auch hier mal wieder Roderich Kiesewetter: „‚Angesichts der drohenden iranischen Attacke muss die Bundesregierung endlich aufwachen und Israel auch militärischen Beistand zur Abwehr anbieten‘, sagte Kiesewetter dem ‚Spiegel‘. Er ergänzte: ‚Denkbar ist die Betankung von Kampfjets befreundeter Nationen, aber auch der Einsatz von eigenen Eurofightern der Bundeswehr, zum Beispiel zur Abwehr von iranischen Drohnen.‘ … Die Bundesregierung solle nicht warten, bis sie von Israel um Hilfe gebeten wird, sondern diese aus eigenem Antrieb anbieten und im Bundestag dafür werben.“ Etwas zurückhaltender, in der Richtung aber ähnlich äußerten sich bereits einige Vertreter*innen der Regierungspartei FDP und der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein.
Bedrohungsbewusstsein durch zweifelhafte Experten
Roderich Kiesewetter ist Berufssoldat, Oberst a.D. und seit 2009 Mitglied des Bundestages für die CDU. Zwischen 2011 und 2016 war er zusätzlich Präsident des Reservistenverbandes und ist aktuell stellvertretender Vorsitzender des Parlamentarischen Kontrollgremiums – der Schnittstelle zwischen Parlament und Geheimdiensten. Erst im Februar hatte er sich gegenüber der Deutschen Welle in Rage geredet und gefordert: „Der Krieg muss nach Russland getragen werden. Russische Militäreinrichtungen und Hauptquartiere müssen zerstört werden. Wir müssen alles tun, dass die Ukraine in die Lage versetzt wird, nicht nur Ölraffinerien in Russland zu zerstören, sondern Ministerien, Kommandoposten, Gefechtsstände.“ Später plädierte er dafür, dass westliche Staaten die Flugabwehr über dem Westen der Ukraine übernehmen sollten. Ebenfalls im Februar hatte Kiesewetter gefordert, „wegen des Ukraine-Krieges eine Haushaltsnotlage auszurufen und damit auch die Schuldenbremse auszusetzen“.7 Gegenüber dem Tagesspiegel meinte er damals: „Die Bundesrepublik Deutschland ist gegenwärtig nicht verteidigungsbereit und sie ist heute ,blanker’ als vor einem Jahr“. Überhaupt ist die Kiesewetter nicht weit, wenn von der Bedrohung durch Russland die Rede ist oder die Vokabel „verteidigungsbereit“ fällt. Um angesichts der Bedrohung diese „Verteidigungsbereitschaft“ zu erreichen, hatte er von der Bundesregierung auch gefordert, „der Rüstungsindustrie finanzielle Zusagen und auch Bürgschaften zu geben sowie Flexibilität in den Arbeitszeiten zu ermöglichen, damit mehr produziert werden kann.“8 Kurz darauf brachte er mit seinen Fraktionskolleginnen einen Antrag in den Bundestag ein, der unter dem Titel „Für eine echte Zeitenwende in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik“ u.a. die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern in die Ukraine forderte.9 Die erste der insgesamt 28 geforderten Maßnahmen zu einer „echten Zeitenwende“ lautete allerdings: „Russland als existentielle Bedrohung anzuerkennen, der Bevölkerung transparent die daraus abgeleiteten Herausforderungen zu erläutern und dadurch ein Bedrohungsbewusstsein zu schaffen“.
Und Kiesewetter arbeitet mit voller Kraft an dieser Bedrohungswahrnehmung. Im Juli 2023 gab er gegenüber der taz an, Russland plane das Kernkraftwerk Saporischschja zu sprengen10 und gibt sich nach wie vor überzeugt, dass Russland hinter den Anschlägen auf die Nord Stream Pipelines steckt. Den Vogel völlig abgeschossen hatte er – von Faktencheckern des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks unbehelligt – nach dem Massaker der Hamas im Oktober 2023, als er bei Markus Lanz unwidersprochen kundtat: „Der 7. Oktober, der Angriff der Hamas auf Israel, war der Geburtstag von Putin. Das ist ein Symbol, aber es ist kein zufälliges Symbol.“ Ähnlich hatte sich beim ZDF-Mittagsmagazin – ebenfalls unwidersprochen – Marie-Agnes Strack-Zimmermann von der FDP geäußert,11 die ebenfalls bei jeder Gelegenheit vor einem russischen Angriff auf die NATO oder gar Deutschland warnt.
Trotz Bedrohung durch Russland eine nicht „verteidigungsbereite“ Bundeswehr in den Indopazifik zu schicken und nun auch noch beim großen Krieg mit dem Iran teilnehmen zu wollen – das passt irgendwie nicht zusammen. Durch den Aufbau einer Drohkulisse Gelder in die „Kriegstüchtigkeit“ umzuschichten, damit man weltweit „mitmischen“ kann – das macht schon deutlich mehr Sinn. Vielleicht merkt’s ja auch irgendwann die Qualitätspresse…
Zur Aktualisierung: IMI-Aktuell 2024/520
Natürlich entwickelt die Debatte um einen Einsatz der Bundeswehr zum „Schutz Israels“ (siehe IMI-Standpunkt 2024/19) ihre Dynamik. Matthias Gebauer weist bei Spiegel-Online just darauf hin, dass die Bundeswehr bereits in Jordanien vor Ort ist:
„Die Luftwaffe fliegt vom jordanischen Al-Azraq im Rahmen einer Antiterrormission seit Jahren Operationen über Syrien und dem Nord-Irak und verfügt über mehrere Flugzeugtypen, die zur Luftbetankung geeignet sind. Diese könnten bei einer weiteren Verteidigungsoperation Jets von befreundeten Nationen auftanken. Die Luftbetankung gilt weltweit als militärische Mangelressource. Ein solcher Einsatz der Luftwaffe wäre bei den Partnern sicherlich willkommen… Deutsche Kampfjets vom Typ Eurofighter sind mit ihren Luft-Luft-Raketen für Abschüsse von iranischen Drohnen gut geeignet. Auch sie starteten schon von Al-Azraq aus in Einsätze. Zudem haben die Deutschen in den vergangenen Jahren bei gemeinsamen Übungen bereits enge Beziehungen zur israelischen Luftwaffe geknüpft. Also wäre eine Beteiligung an der Schutzkoalition machbar. Die Luftwaffe kann die Jets innerhalb kürzester Zeit verlegen.“
Zwar zitiert Gebauer auch einige Politiker*innen, die einen solchen Einsatz im Moment nicht sehen oder befürworten, kommt aber zu dem Schluss: „Im Parlament würde sich vermutlich eine breite Mehrheit für eine Beteiligung am Schutz Israels finden, wenn die Regierung dafür werben würde.“
Auf die mit solch einem Einsatz verbundenen Gefahren geht Gebauer mit keinem Wort ein – obwohl noch vor dem erwarteten, großen Angriff am Tag zuvor z.B. erneut US-Soldaten bei einem Raketenangriff verletzt wurden, wie u.a. FAZ (online) vermeldet:
„Bei einem Angriff auf einen Militärstützpunkt in Irak sind nach ersten Erkenntnissen des Pentagons mehrere US-Soldaten verletzt worden. Das sagte ein Sprecher des US-Verteidigungsministeriums der Deutschen Presse-Agentur in Washington. Demnach war der von US-Truppen und Partnern genutzte Luftwaffenstützpunkt Al-Asad mutmaßlich mit einer Rakete angegriffen worden… Seit Beginn des Gazakriegs greifen proiranische Milizen immer wieder US-Militärstützpunkte in Irak und in Syrien an. Ende Januar wurden bei einer der Attacken in Jordanien nahe der syrischen Grenze drei US-Soldaten getötet. Die USA reagierten mit umfangreichen Luftangriffen auf Stellungen solcher Milizen in Irak und in Syrien.“
Anmerkungen
1 Hanno Kube: Optionen und Perspektiven eines Bundeswehr-Sondervermögens, verfassungsblog.de, 28.2.2022.
2 „Deutschland trifft Nato-Quote“, Börsen-Zeitung vom 15.02.2024, Seite 9.
3 Jürgen Rahmig: Finanzierung der Litauen-Brigade hängt in der Luft, esut.de, 05.07.2024.
4 Axel Hofmann: Deutsche Fregatte im „Kriegsmarsch“ ins Rote Meer, Nordkurier, 22.02.2024.
5 Mathis Feldhoff: Pistorius-Reise – China-Konflikt im Fokus, zdf.de, 30.07.2024.
6 Ines Trams: Update am Morgen – Boris Pistorius‘ Reise um die halbe Welt, zdf.de, 30.7.2024.
7 https://www.deutschlandfunk.de/kiesewetter-cdu-fuer-aussetzen-der-schuldenbremse-wegen-ukraine-krieg-102.html
8 Ellen Hasenkamp: Raus aus der Schmuddelecke – Wieso die Rüstungsindustrie jetzt so umworben wird, swp.de, 14.02.2024.
10 „Deutschland ist Kriegsziel“, taz.de, 10.07.2024.
11 André Mielke: Das sind alles keine Zufälle, Berliner Zeitung, 01.11.2023.