IMI-Aktuell 2024/035
Gaza: IGH (II)
(17.01.2024)
Am Abend des 16. Januar 2023 berichtet tagesschau.de, dass die Bundesregierung die Lieferung von Panzermunition aus Beständen der Bundeswehr prüfe und ihr im Grundsatz bereits zugestimmt hätte. Ein Verweis darauf, dass der Internationale Gerichtshof aktuell darüber verhandelt, ob Israel möglicherweise einen Völkermord in Gaza begeht, fehlt in diesem Zusammenhang.
Erst in der Woche zuvor hatten Vertreter Israels und Südafrikas – das die Klage eingereicht hatte – erstmals vor Gericht ihre Positionen dargelegt. Gleich im Anschluss darauf hatte die Bundesregierung ihre Einschätzung über den Regierungssprecher verkünden lassen: „Die Bundesregierung weist den gegen Israel erhobenen Vorwurf des Völkermordes entschieden zurück. Er entbehrt jeder Grundlage.“ Kurz darauf gab es eine – ungewohnt – heftige Erklärung Namibias, über die tagesschau.de nur im Liveblog zum Nahost-Krieg vom 16. Januar kurz berichtete: „Namibia hat Deutschland für seine Entscheidung scharf kritisiert, die von Südafrika vor dem Internationalen Gerichtshof erhobenen Völkermord-Vorwürfe gegen Israel zurückzuweisen. ‚Namibia lehnt Deutschlands Unterstützung für die völkermörderischen Absichten des rassistischen israelischen Staates ab‘, erklärte Präsident Hage Geingob. Er warf Berlin vor, den ‚Tod von mehr als 23.000 Palästinensern (…) zu ignorieren‘ und beklagte ‚Deutschlands Unfähigkeit, Lehren aus seiner schrecklichen Geschichte zu ziehen’“. Den brisanten Zusammenhang zwischen beiden Stellungnahmen erläutert Dominic Johnson in der taz:
„Es war zwar Zufall, dass der Verhandlungsbeginn beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag über Südafrikas Klage gegen Israel wegen Völkermordes in Gaza mit dem 120. Jahrestag des Beginns des deutschen Völkermordes an den Herero und Nama auf dem Gebiet des heutigen Namibia zusammenfiel. Es war aber Absicht, dass die Bundesregierung als Regierung zu diesem Jahrestag kein Wort verlor und am gleichen Tag Südafrikas Völkermordvorwurf in einer Erklärung genau zum Ende des südafrikanischen Vortrags in Den Haag pauschal zurückwies: ‚Dieser Vorwurf entbehrt jeder Grundlage‘. So, als hätten die südafrikanischen Juristen den ganzen Tag nur Blödsinn geredet und als brauche man gar kein IGH-Urteil abzuwarten, um das zu wissen. Missachtung der internationalen Justiz, Zurückweisung juristischer Argumente ohne Prüfung, Ignoranz eines Gedenktages – alles in einer einzigen dürren Erklärung. Chapeau. In Südafrika ist man über Deutschlands Arroganz irritiert.“
Außerdem hat die Bundesregierung angekündigt, sich als Drittpartei durch eine Nebenintervention zu beteiligen. Den delikaten Hintergrund, dass sich Deutschland zuvor bei einer Klage Gambias gegen Myanmar wegen des mutmaßlichen Völkermordes an den Rohingya ebenfalls eingeschaltet und damals für eine weite Auslegung der Völkermordkonvention eingesetzt hatte, erläutert Christian Walter auf dem Verfassungsblog. Er findet es richtig, dass Deutschland sich entsprechend einbringt, wobei unklar bleibt, ob es dabei unparteiisch agieren oder – wie in der Überschrift formuliert wird – „dem von Südafrika gegen Israel erhobenen Vorwurf des Völkermords entgegentreten sollte“. Gerade vor dem Hintergrund, dass der Autor hier eher staatstragend deutsch argumentiert, ist bemerkenswert, was gerade bei vielen deutschen Völkerrechtler*innen – oft eher zwischen den Zeilen – durchschimmert: Das Ergebnis des Verfahrens scheint auch für Christian Walter durchaus offen.
Zwar wird ein abschließendes Urteil erst in Jahren erwartet, eine Entscheidung zum südafrikanischen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz allerdings bereits in den nächsten zwei Wochen. Es kann z.B. durchaus sein, dass der IGH Anzeichen für einen drohenden Völkermord sieht und deshalb Israel zur sofortigen Einstellung seiner Kampfhandlungen auffordert – dass zumindest Einschränkungen angeordnet werden, scheint wahrscheinlich. Vor diesem Hintergrund ist die anhaltende Diskussion um Waffenlieferungen schwierig und befremdlich, insbesondere, wenn das laufende Verfahren dabei gar nicht einbezogen wird.
Zumindest in einem Punkt – der bislang selten angesprochen wird – ist mit einem klaren Urteil zu rechnen. Denn nach der Völkermordkonvention sind Personen, die zum Völkermord anstacheln, zu bestrafen. Südafrika hat in seiner Anklageschrift zahlreiche Zitate hochrangiger israelischer Politiker*innen und Militärs aufgeführt, die unter diesen Tatbestand fallen dürften. Israel dürfte aufgefordert werden, u.a. seinen Präsidenten, Premierminister und Verteidigungsminister wegen entsprechender Aussagen zu sanktionieren. Zumindest in dieser Hinsicht nämlich scheint die Einschätzung der Bundesregierung, die Anklage entbehre „jeglicher Grundlage“, daneben zu liegen.