Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de

IMI-Standpunkt 2023/050 - in: Ausdruck Dezember 2023

Editorial. Eine Momentaufnahme zur Einleitung

Pablo Flock und Christoph Marischka (18.12.2023)

Es ist Ende November, heute Nacht fiel hier der erste Schnee. Mittlerweile und ziemlich plötzlich wird die „Frühjahrsoffensive“ der ukrainischen Streitkräfte allgemein als gescheitert angesehen. Plötzlich ist auch in vielen Leitmedien von „Kriegsmüdigkeit“ die Rede, und zwar auch im Hinblick auf die ukrainische Bevölkerung, quer durch alle Kanäle. Wieder schreiben alle voneinander ab. „Wenig Konkretes für die Ukraine“ betitelt die Tagesschau ihren Beitrag über das Treffen der NATO-Außenminister,¹ „Kriegsmüde, leere Munitionsdepots“ die taz den ihren. Darin heißt es einleitend und zusammenfassend, der NATO-Generalsekretär Stoltenberg habe appelliert, „über den Nahostkonflikt den Ukraine-Krieg nicht zu vernachlässigen“.² Eine bemerkenswerte Formulierung. Als wäre der Krieg ein Kind, um das man sich sich kümmern müsste.
Wenige Tage zuvor sendete der Deutschlandfunk prominent einen Kommentar, wonach sich die Ukraine wohl mit Gebietsverlusten abfinden müsse.³ Peter Nowak schreibt dazu bei Telepolis treffend: „Für ähnliche Positionen waren noch vor einigen Monaten Politiker, Publizisten medial massiv angegriffen worden“.4 Im Kommentar beim Deutschlandfunk ist auch die Rede davon, wie sich die Soldatenfriedhöfe in der Ukraine in den letzten Monaten gefüllt hätten, es kursieren auch zunehmend Schätzungen zur Zahl der ukrainischen Verluste insgesamt.
Zumindest aktuell, wenn vielleicht auch nur kurzfristig, zeichnet sich ein Wendepunkt in der Berichterstattung über den Krieg ab. Die Ukraine, die über Monate nur als einheitliche, heldenhafte Nation gedacht wurde, mit der man uneingeschränkt solidarisch sein müsse, zerfällt in eine (leidende) Bevölkerung, eine Regierung (die an der Macht bleiben will) und ein Militär (das in Teilen kämpferisch und in Teilen resigniert dargestellt wird). Von verschiedenen Seiten, auch hochrangigen Persönlichkeiten aus den USA, wird über die Notwendigkeit von Verhandlungen sinniert – ohne einen Sturm der Entrüstung auszulösen. Der Meinungskorridor weitet sich.
Vieles, was in diesem Schwerpunkt zu „Medien im Krieg“ dargestellt wird, scheint sich gegenwärtig zu relativieren oder auf den Gaza-Konflikt zu verschieben und wird sich in Zukunft vielleicht im Hinblick auf die Ukraine nicht mehr so eindeutig beobachten lassen. Eigentlich ein guter Zeitpunkt, um diesen Schwerpunkt fertigzustellen und ihm eine Momentaufnahme voranzustellen. Denn auch wenn die Berichterstattung zum Krieg in der Ukraine in Zukunft wieder etwas ausgeglichener und vielseitiger wird, dürfen wir nicht vergessen, wie zugespitzt, teilweise hetzerisch, geradezu kriegsbesoffen sie auf den bisherigen Höhepunkten der Krise war.
Im Mai 2000 sprach die damalige Leiterin des ARD-Studios in Paris, Sonia Mikich, auf einer Konferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung zu „Medien im Konflikt“ kurz nach dem Kosovokrieg „Über die Diskussion post festum“:5 „Die Selbstkritik gleicht sich: Wie wir Journalisten zu viel Schwarz-Weiß-Malerei betrieben haben, wie wir unbedacht das Vokabular der Militärs übernahmen, wie wir uns von Jamie Shea [damals Pressesprecher der NATO] oder Joschka Fischer oder Rudolf Scharping haben einwickeln lassen. Parallel zur Selbstkritik und Medienschelte kommt die Wahrheit über den Krieg langsam zu Tage. Gräueltaten, Massaker – sie werden erst jetzt in ihrem Kontext gezeigt, manchmal relativiert, manchmal als Propagandamärchen entlarvt. Wir zweifeln dann noch mehr an der Möglichkeit, je eine angemessene Krisenberichterstattung leisten zu können, und ich fürchte, nach dem nächsten Medienkrieg wird es wieder so sein“.
Sonia Mikichs Prognose scheint sich auch jetzt wieder, fast ein Vierteljahrhundert später, bewahrheitet zu haben. Ob allerdings heute noch eine Bereitschaft zu Selbstkritik und Zweifel existiert, wird sich zeigen.
Es ist Ende November, heute Nacht fiel hier der erste Schnee. Im Bekanntenkreis geht wieder Corona um – sicherlich in einer Variante mit viel weniger schwerem Verlauf. An Weihnachten werden Geimpfte und Ungeimpfte wieder beisammen sitzen und vielleicht feststellen, dass beide Seiten ein wenig Recht hatten und in vielen Punkten auch übers Ziel hinausgeschossen sind. Eine Debatte darüber, wie die Medien auch hier zur Spaltung beigetragen und einer autoritäre Krisenbearbeitung das Wort geredet haben, findet jedoch zumindest in der Öffentlichkeit nicht statt. Eine politische Aufarbeitung dieser Krisenbearbeitung wird fast ausschließlich von rechten Kräften eingefordert und vorangetrieben. Diesen haben die linken Bewegungen in den vergangenen Jahren auch weitgehend das Feld der Medienkritik überlassen. Das muss sich ändern. Eine Erklärung für die hier dargestellten Tendenzen der Medien in Krisenzeiten – in diesem Falle v.a. dem Krieg in der Ukraine – bleiben wir weitgehend schuldig. Als Bestandsaufnahme und Dokumentation mag sie einer sich hoffentlich herausbildenden linken Analyse und Kritik vielleicht dienlich sein.

Anmerkungen

1 Sabrina Fritz: Wenig Konkretes für die Ukraine, tagesschau.de (28.11.2023).

2 Eric Bonse: Kriegsmüde, leere Munitionsdepots, taz.de (28.11.2023).

3 Moritz Gathmann: Kommentar zum Kriegsverlauf in der Ukraine – Wenig Bewegung, viel Abnutzung, DLF Kommentare und Themen der Woche, deutschlandfunk.de (25.11.2023).

4 Peter Nowak: Anti-Kriegs-Demo – Die Angst hat abgenommen, telepolis.de (26.11.2023).

5 Friedrich-Ebert-Stiftung: Medien im Konflikt – Mittäter oder Mediatoren?, Dokumentation einer Konferenz vom 11. Mai 2000 in Berlin, https://library.fes.de/pdf-files/iez/00960.pdf.

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