Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de

IMI-Analyse 2023/36

Militarisierung messen?

Eine Vorstellung des Globalen Militarisierungsindexes

Markus Bayer und Paul Rohlede (10.07.2023)

Mit zwei Weltkriegen und dem Kalten Krieg mit seinem umfassenden Wettrüsten, das immer größere Ressourcen der Gesellschaften östlich und westlich des Eisernen Vorhangs verschlang und Waffen mit immer zerstörerischen Kapazitäten hervorbrachte, kann das letzte Jahrhundert ohne Zweifel als „Zeitalter der Militarisierung“1 bezeichnet werden. Allerdings sind solche allgemeinen Aussagen über historische Trends mit Vorsicht zu genießen, da sie immer vom zu Grunde liegenden Konzept der Militarisierung und dessen Operationalisierung abhängen. Dies machen auch die widersprüchlich anmutenden Aussagen von Jacques van Doorn deutlich. Dieser verwies 1975 – also zu Hochzeiten des Kalten Krieges – auf den Niedergang der Massenarmeen im Westen, welcher in Kontrast zu den steigenden Militärausgaben dieser Zeit stand. Der Bedarf nach spezialisierten Truppen, so van Doorn damals2, bedeute das Ende des aus Zeiten der französischen Revolution stammenden Konzepts des Volks unter Waffen und der damit verbundenen Wehrpflicht. Dies würde bedeuten, dass weniger Menschen mit der Institution des Militärs und seinen Werten und Rationalitäten in Kontakt kämen. Zugleich könne dieser Prozess aber ohne Probleme – ob der gesteigerten Effektivität und Zerstörungskraft des Militärs – als Remilitarisierung begriffen werden.3 Van Doorn bietet hier viele unterschiedliche Indikatoren zur Messung von Militarisierung an: Truppenzahl, Militärausgaben, Normen. Letztlich macht er Militarisierung aber maßgeblich an Effektivität bzw. Zerstörungspotenzial fest.

Dieser Gegensatz offenbart erste Probleme bei der Quantifizierung der Militarisierungsforschung. Dennoch eröffnen solche Ansätze trotz ihrer Schwächen auch das Potenzial zum systematischen Vergleich und zur Analyse von langfristigen Dynamiken. In diesem Artikel möchten wir den Globalen Militarisierungsindex (GMI) als ein solches Instrument vorstellen und kritisch diskutieren.

Der Globale Militarisierungsindex

Der GMI wurde vom Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC) als Beratungswerkzeug für das Bundesministerium für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (BMZ) konzipiert, um Militarisierung global mess- und vergleichbar zu machen. Hintergrund ist der Gedanke, dass die dem Militär durch den Staat zugewiesenen Ressourcen tendenziell in anderen staatlichen Aufgabenbereichen – etwa dem Gesundheits- oder Bildungssektor – fehlen und daher zu begrenzen sind. Dieser Grundsatz ist auch bei Rüstungsexporten zu berücksichtigen und wurde über das Kriterium 8 des gemeinsamen Standpunktes der EU kodifiziert. In Deutschland entscheidet final der Bundessicherheitsrat über die Genehmigung von Rüstungsexporten. Das BMZ ist über die Ministerin an diesen Entscheidungen beteiligt; der GMI dient ihr hierbei als Bewertungsgrundlage.

Vor diesem Hintergrund basiert der GMI auf einem recht engen Verständnis von Militarisierung, welches zum einen staats-, zum anderen ressourcenzentriert ist. Betrachtet wird lediglich die staatliche Ressourcenzuweisung zugunsten des Militärs und offizieller paramilitärischer Einheiten.

Hierbei werden drei Kategorien der Ressourcenzuweisung gemessen:

a) Ausgaben

b) Personal

c) Schwere Waffen.

Diese werden in drei ‚Subindexen‘ abgebildet, die eine genauere Aussage über die Form der Militarisierung zulassen. Dabei folgt der GMI einem relationalen Ansatz. Das heißt, er misst keine absoluten Werte, sondern setzt die dem Militär zur Verfügung gestellten Ressourcen in Bezug zu den allgemein verfügbaren und in entwicklungstechnisch relevanten Bereichen eingesetzten Ressourcen eines Staates. So wird z.B. die Anzahl der Soldat:innen in ein Verhältnis zur Anzahl praktizierender Ärzt:innen sowie zur Bevölkerungszahl gesetzt; den Verteidigungsausgaben werden die jeweiligen Gesundheitsausgaben gegenübergestellt, und auch die Anzahl schwerer Waffen wird relativ zur Bevölkerung betrachtet. Diese Indikatoren gehen dann gewichtet in die Berechnung ein (siehe Abb. 1.).

Der GMI geht damit über die Erhebung reiner Militärausgaben wie der des Stockholm International Peace Research Institut (SIPRI) hinaus. Im Kontrast zu van Doorns Ansatz oder dem Global Firepower Index versteht der GMI Militarisierung also nicht im Sinne militärischer Schlagkraft, sondern als „das relative Gewicht und die Bedeutung des staatlichen Militärapparats in Bezug auf die Gesellschaft als Ganzes”.4

So kann der GMI als quantifizierender Ansatz dazu genutzt werden, langjährige Militarisierungstrends in einzelnen Ländern zu eruieren, regionale oder globale Aufrüstungsdynamiken zu untersuchen, oder – durch Korrelationen mit weiteren Indexen – die Beziehung zwischen Militarisierung und anderen Phänomenen wie bspw. Hunger, fragiler Staatlichkeit oder Geschlechterungleichheit besser zu verstehen. Diese Erkenntnisse können auch politikberatend eingesetzt werden: So können über die Korrelation des GMI mit dem Human Development Index kritische Rüstungsempfängerländer identifiziert werden. Ist ein Land bspw. sehr niedrig entwickelt, aber hoch militarisiert – wie der Tschad, Angola oder Mauretanien5 – sollten Rüstungslieferungen zumindest nach Kriterium 8 der EU unterlassen werden.

Schwächen des Ansatzes

Auch wenn der GMI die dem Militär zur Verfügung gestellten Ressourcen ins Verhältnis zu anderen gesellschaftlichen Bereichen setzt, so bleibt er damit doch eindimensional. So betonen Wissenschaftler wie Bowman6, dass Militarisierung als ein Prozess zu verstehen sei, der nicht nur das Militär und seine Ressourcen, sondern auch dessen politischen und gesellschaftlichen Einfluss betrifft. Inwieweit also das Militär z.B. politischen Einfluss oder gar eine Veto-Macht besitzt, ob es das politische Regime mittels Repressionen gegen das eigene Volk absichert, oder ob es als ökonomischer Akteur in Erscheinung tritt, bildet der GMI nicht ab. Dies ist insofern problematisch, als dass das enge Militarisierungskonzept des GMI nur schwer an ein Konzept von Militarismus anknüpfungsfähig ist, welches eine Extremform oder einen Endpunkt eines Militarisierungsprozesses bilden könnte.

Durch die enge Fokussierung auf (Para)Militärs werden zudem Militarisierungsprozesse vernachlässigt, die sich auf andere Staatsorgane wie polizeiliche Einheiten oder nichtstaatliche Gewaltakteure (z.B. private Militärunternehmen) beziehen bzw. von diesen ausgehen. Insbesondere die Militarisierung der Polizei ist in einigen westlichen Demokratien – allen voran den USA – aktuell ein vieldiskutiertes Phänomen.7

Zu guter Letzt erlaubt das dem GMI zu Grunde liegende Konzept von Militarisierung keine Aussagen über die Rolle des Militärs als eine an die staatliche Autorität gebundene Institution, welche das Monopol auf die Verfügung über Kriegswaffen hat (Kümmel 2005) und Zwangsgewalt zu verschiedenen Zwecken ausüben kann: zur Abwehr äußerer Bedrohungen oder aber zur Herrschaftssicherung nach innen.8 Die Frage, inwieweit Militarisierung sich also positiv oder negativ auf die Sicherheit der Bevölkerung auswirkt, bleibt damit unbeantwortet.

Ausblick

Einige dieser Schwachstellen sollen im Zuge eines von der Deutschen Stiftung Friedensforschung finanzierten Projektes adressiert werden. In einer Kooperation zwischen dem Institut für Politische Wissenschaft (IPW) der Universität Heidelberg, der Fakultät für Politikwissenschaft der Universität von Rhode Island und dem BICC wird derzeit ein mehrdimensionales Konzept von Militarisierung entwickelt und ein entsprechender Datensatz aufgebaut, um insbesondere die Wechselwirkungen zwischen den unterschiedlichen Dimensionen von Militarisierung (sozial, politisch, materiell) erforschen zu können. Damit soll es in Zukunft etwa möglich sein, zu untersuchen, ob bzw. unter welchen Umständen sich ein wachsender politischer Einfluss des Militärs etwa auf die ihm zur Verfügung gestellten Ressourcen auswirkt oder ob ein größerer gesellschaftlicher Einfluss – etwa wenn das Militär auch als ökonomischer Akteur in Erscheinung tritt – die Regimestabilität und die Demokratie beeinflusst.

Anmerkungen

1 Wallensteen, P.; Galtung, J. und C. Portales (Hrsg.). Global Militarization. Routledge: New York 2019, S. XI.

2 van Doorn, J.. The Decline of the Mass Army in the West: General Reflections. Armed Forces & Society, 1 (2) 1975, S. 147-157, S. 149.

3 Ebenda, S. 155.

4 von Boemcken, M.; Mutschler, M.; Bayer, M.; Alberth, R.; Bales, M.; Schlüsing, C.; Rohleder, P.; Brandsch, J. und S. Hauk (2022). Globaler Militiarisierungsindex – Codebook, Version 2.0, 2022.

5 Grebe, J. und M. Mutschler (2015). Globaler Militarisierungsindex 2015, BICC: Bonn 2015, S.11.

6 Bowman, K. S.. Militarization, Democracy, and Development: The Perils of Praetorianism in Latin America, Pennsylvania State University Press 2002.

7 z.B. Bieler, S.. Police militarization in the USA: the state of the field, Policing: An International Journal, 39 (4), 2016, S. 586-600.

8 vgl. Hacker, B. C.. Military Institutions and Social Order: Transformations of Western Thought since the Enlightenment. War & Society, 11(2) 1993, S. 1–23, S.1.

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