IMI-Standpunkt 2023/023
Geopolitischen Dimensionen von Air Defender 23
Rede bei der Kundgebung gegen Air Defender 23 in Tübingen
Yasmina Dahm (26.06.2023)
Liebe Friedensfreund*innen und Friedensfreunde, liebe Passant*innen und Passanten,der militärische Geist ist der gnadenloseste, herzloseste und brutalste überhaupt. Das wusste Emma Goldman schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts und schrieb diese Worte in einem Essay zum Militarismus nieder. „Ich bin der Meinung, dass das Ende des Militarismus gekommen ist, wenn alle freiheitsliebenden Menschen auf der Welt zu ihren Herren sagen: Geht und tötet selber. Wir haben uns und unsere Liebsten lange genug in euren Schlachten geopfert.“ fügte sie hinzu. Über hundert Jahre später stehen wir hier und protestieren ebenfalls gegen den Geist des Militarismus, der seit Anfang dieser Woche sehr konkret in Form des Großmanövers Air Defender 2023 über unsere Köpfe fliegt.
Doch worum geht es bei Air Defender und warum ist es so gefährlich? „Mit der Übung Air Defender zeigen wir, dass die Luftwaffe das erste militärische Mittel in einer Krise ist. […] Wir können sehr schnell, in Stunden, Kräfte aus den USA nach Deutschland verlegen und so für eine glaubhafte Abschreckung sorgen.“, so Luftwaffeninspektor Ingo Gerhartz. Abschreckung lautet das Gebot der Stunde. Der Agressor Russland, der in der am Mittwoch veröffentlichten deutschen Sicherheitsstrategie als die größte Gefahr für die deutsche Sicherheit eingestuft wurde, soll abgeschreckt werden. Komisch bei der Sache nur, dass das provokante Großmanöver Air Defender 2023 schon vor Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine geplant wurde. Gibt es bei der NATO etwa Hellseher*innen? Die Antwort lautet: nein. Denn auch wenn es medial gerade gerne so dargestellt wird, als sei die NATO erst durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine zu mehr Aufrüstung gezwungen worden, hat sich die NATO schon vor Beginn des Krieges keineswegs in Zurückhaltung geübt, sondern im Gegenteil durch die sukzessive Aufrüstung und Eingliederung osteuropäischer Staaten in die NATO und durch immer größere und immer häufigerer Manöver die Eskalation Jahr um Jahr weiter befeuert. Wenngleich der russische Angriff auf die Ukraine durch nichts zu rechtfertigen ist und schnellstmöglich beendet werden muss, sollte seine Vorgeschichte an dieser Stelle berücksichtigt werden.
So übermittelte Russland der NATO noch im Dezember 2021 eine Erklärung mit Forderungen zur Entschärfung der Lage, die von der NATO abgelehnt wurden, wobei unter anderem Sicherheitsbedenken im Kontext von immer größeren und immer häufigeren Manövern und der damit verbundenen Ansammlung von NATO-Truppenverbände an den russischen Grenzen thematisiert wurden. Als Meilensteine der Verstärkung der NATO-Präsenz an der Ostflanke des Bündnisses können hier neben den mittlerweile fünf NATO-Osterweiterungen in den Jahren 1999, 2004, 2009, 2017 und 2020 vor allem die Schaffung schneller Eingreiftruppen im Rahmen des sogenannten „Readiness Action Plans“ nach dem NATO-Gipfeltreffen in Wales 2014 und die nach dem NATO-Gipfel in Warschau 2016 erfolgte permanente Stationierung von 4 Bataillonen mit je 1000 bis 1500 Soldat*innen in Estland, Lettland, Litauen und Polen benannt werden. Schon im April 2014 wurden im Rahmen der Ukraine-Krise die „Kampfjets zur Luftüberwachung des Baltikums vervierfacht, die maritime Präsenz im Schwarzen Meer vergrößert und jede Kooperation mit Russland auf Eis gelegt“ und mit der „Very High Readiness Joint Task Force“ im September desselben Jahres eine schnelle Eingreiftruppe geschaffen, die in der Lage sein soll „innerhalb von 3 bis 5 Tagen 5.000 Angehörige der NATO Landstreitkräfte zu mobilisieren. Als Anlaufstellen der schnellen Eingreiftruppen in Osteuropa wurden bis September 2015 zusätzlich acht neue NATO-Stützpunkte in Estland, Lettland, Litauen, der Slowakei, Ungarn, Polen, Rumänien und Bulgarien errichtet, die als „NATO Force Integration Units“ (NFIUs) bezeichnet werden und regulär nur mit 40 Soldat*innen besetzt wurden. „Mit der „NATO Response Force“ können innerhalb von 5 bis 15 Tagen nochmal 40.000 Soldaten dazu kommen, ergänzt um weitere Streitkräfte im Rahmen der ‚NATO Readiness Initiative‘ innerhalb von 30 Tagen.“ Im gleichen Jahr verdoppelte sich die Anzahl der NATO Manöver auf 162. Für 2016 wurden dann schon 240 Übungen geplant. Dem hinzuzufügen ist mittlerweile die Einrichtung von vier weiteren NATO-Battlegroups in der Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien nach dem NATO-Treffen in Brüssel vom 24. März 2022, wodurch derzeit 8 einsatzbereite, multinationale Battlegroups vom Baltischen Raum bis zum Schwarzen Meer existieren. Liebe Friedensfreund*innen und liebe Friedensfreunde, liebe Passant*innen und Passanten, Air Defender 2023 ist als Teil eines jahrzehntelangen Aufrüstungsprozesses der NATO zu begreifen der statt Sicherheit Krieg und Zerstörung befördert hat und nicht als die Reaktion auf den russischen Angriffskrieg, als die es hierzulande verkauft wird!
Das durch Tiefflüge und die Beeinträchtigung des zivilen Flugverkehrs besonders sichtbare Manöver Air Defender 2023 reiht sich als größte Luftwaffenverlegeübung seit Bestehen der NATO mit knapp 100 Kampf-, Tank- und Transportflugzeugen der Luftwaffenreserve aus den USA und über 100 weiteren Militärflugzeugen aus 23 europäischen Staaten fast krönend ein in eine Reihe von unzähligen Kriegsübungen mit kuriosen Namen, die sich in den letzten Jahren vor allem im Baltikum und im Schwarzmeerraum mit einer steigenden Anzahl von Beinah-Zusammenstößen häuften und immer größere und bedrohlichere Dimensionen annahmen. Im Kontext der stetig wachsenden Großmanöver der NATO sollten hier die sogenannten „Defender-Europe“ Übungen, und die „Sea Breeze“ Übungen Erwähnung finden, die Spannungen im Schwarzmeerraum in den letzten Jahren immer weiter verschärften. Der Schwarzmeerraum wird von NATO-Militärstrategen wie Ben Hodges als Schlüsselregion definiert, in der es darum gehe sich im Wettbewerb mit anti-demokratischen Kräften zu behaupten um den eigenen Einfluss und strategische Interessen durchzusetzen. Der autokratische und verbrecherische türkische Präsident Erdogan, der durch den Vertrag von Montreux die geopolitisch wichtige Kontrolle über den Bosporus und die Dardanellen, hat gilt dabei interessanterweise nicht als Anti-Demokrat, sondern als zentraler Verbündeter. Gleichzeitig gilt die russische Schwarzmeerflotte als „das strategische Rückgrat der Machtprojektion Russlands über den Bosporus hinaus ins östliche Mittelmeer und den Nahen Osten“ und die Schwarzmeerregion ist zentral für die russische Anbindung an den Welthandel.
Die Defender-Übungen 2020-2022 dienten dabei nicht nur dazu die Transport- und Lagerlogistik einzuüben und die Zusammenarbeit der verschiedenen nationalen Militärverbände zu üben, sondern gingen teilweise auch mit „langfristigen Verlegung von Panzern, Militärtransportern, Munition und sonstigem Gerät als Teil einer praktischen Mobilmachung gegen Russland“ einher. Nachdem der Fokus des Großmanövers Defender 2020 auf dem Baltikum lag, stand bei Defender 2021 das Schwarze Meer im Mittelpunkt. „Mit der Zunahme der Manöver steigt auch die Gefahr, dass dabei feindliche Truppen gewollt oder ungewollt aneinandergeraten. In der allgemein aufgeheizten Stimmung besteht dabei die Gefahr, dass solch ein Zusammenstoß der Anstoß für eine weitergehende Eskalation mit kaum absehbaren Folgen sein könnte“so Tobias Pflüger in „Manöver als gefährliche Machtdemonstrationen“ Ende März 2022. Laut einer von Pflüger angeführten Untersuchung des „European Leadership Network“ kam es so allein in den zwölf Monaten zwischen März 2014 und März 2015 zu 66 Beinahe-Zusammenstößen zwischen westlichen und russischen Truppen.Dadurch, dass bei der Untersuchung nur Hochrisiko-Ereignisse gezählt wurden, sei trotz der enormen Anzahl an Vorfällen eine vergleichsweise niedrigere Zahl angeführt worden, so Pflüger. Ein Beitrag auf warontherocks.com, zählte dagegen mit Bezug auf den Zeitraum zwischen Januar 2013 und Dezember 2020 etwa 2.900 „berichtete Ereignisse zwischen NATO-Verbündeten und Russland, die Einsätze durchführten, die sie in gefährliche Nähe zueinander brachten.“Ein populäres Beispiel für einen Beinahe-Zusammenstoß, der im Sommer 2021 Schlagzeilen machte, ist der Fall des Britischen Zerstörers HMS-Defender, der am 23. Juni 2021, einen Monat vor der anschließenden Sea-Breeze Übung, in die 12-Meilen Zone vor der Krim eindrang. Wenige Wochen nach dem Vorfall tauchten an einer Bushaltestelle in Kent, Südengland, durchnässte Dokumente des britischen Geheimdienstes auf, die nahelegten, dass der Vorfall in provokanter Absicht erfolgte. Zuletzt wurde am 15. März 2023 von einer US-Drohne berichtet, die nach einer Kollision mit russi-schen Jets ins Schwarze Meer stürzte, worin der Nachrichtentik-ker Reuters „die erste bekannte direkte Konfrontation zwischen den Supermächten seit Russlands Einmarsch in die Ukraine“ sah. Auch im Rahmen von Defender 2023 sind tägliche Hin- und Rückflüge nach Estland und Rumänien und damit an die unmittelbare Ostgrenze des Bündnisgebietes vorgesehen, wodurch allein im Hinblick auf mögliche Beinah-Zusammenstöße ein enormes Eskalationspotential gegeben ist. Dem stellen wir uns klar entgegen! Abrüsten statt Abschrecken!
Deutschland ist bei alldem als Logistikknoten und Zwischenstation für NATO-Kampftruppen, die von Westen nach Osten ziehen wortwörtlich mittendrin. Durch die zentrale Lage Deutschlands inmitten der NATO-Staaten zwischen der Ostküste der USA und dem Schwarzmeerraum ist das Land vor allem als Durchgangs- und Stationierungsraum für das Bündnis von Bedeutung. Das sogenannte Joint Support and Enabeling Command (JSEC) in Ulm, welches für die Koordinierung von „Truppenbewegungen, Aufmarschrouten und die Absicherung militärisch relevanter Infrastruktur im rückwärti-gen Raum der NATO in Europa“ verantwortlich ist gilt als wichtigste NATO-Logistikzentrale. Um dafür zu sorgen, dass „innerhalb der EU militärische Truppen, Fahrzeuge und Geräte ungehindert Landesgrenzen passieren können“, gibt es von Seiten der NATO Ambitionen zum Ausbau der sogenannten Militärischen Mobilität. Diese soll von der Europäische Union zwischen 2021 und 2027 mit 1,7 Mrd.Euro gefördert werden, wovon Mitte April 2022 bereits 60% in Mitgliedstaaten an der NATO-Ostflanke investiert wurden. Wir fordern Geld für das Gesundheitswesen, für Bildung und soziales Wohnen, aber nicht für Militärische Mobilität!
Liebe Friedensfreund*innen und liebe Friedensfreunde, dass Abschreckung und „grat power competition“ nicht, wie Militärstrategen beteuern, „great power conflict“ vorbeugt und Militärmanöver wie Airdefender, Seabreeze, Springstorm und co. nicht zu mehr Sicherheit, sondern zu immer mehr militärischen Zusammenstößen und Krieg führen, sehen wir gerade leider in aller Deutlichkeit. Im Krieg verlieren alle außer der Rüstungsindustrie und man kann einen Krieg nicht gewinnen, insbesondere wenn er von Atommächten geführt wird. Um Sicherheit zu gewährleisten brauchen wir kein Militär und keine provokanten Manöver, sondern Deeskalation und Verhandlungen. In einer Stellungnahme verschiedener FriedensforscherInnen des Peace Research Institute Frankfurt (PRIF) heißt es dazu: „Friedens- und Sicherheitspolitik, die an einer gerechten, stabilen und langfristigen Ordnung interessiert ist, beginnt dort, wo die Interessen, Ängste und Befindlichkeiten der anderen Seite ernst genommen werden. Das bedeutet nicht, dass alle Ansprüche und Behauptungen gerechtfertigt sind. Und es bedeutet schon gar nicht, völkerrechtswidriges Verhalten zu entschuldigen oder zu akzeptieren. Aber es bedeutet, nicht nur die eigene nationale Sicherheit als alleinigen Maßstab zu nehmen, sondern gleichsam systemisch zu denken und die Herstellung von Stabilität, Sicherheit und Frieden als gemeinsame Herausforderung zu begreifen. […] Das Ende des Friedens darf nicht das Ende der Friedenspolitik sein. Im Gegenteil muss er der Beginn eines neuen Nachdenkens über die Zukunft einer europäischen und globalen Friedensordnung sein.“
Es bleibt notwendig sich den Kriegsspielen der NATO hier und überall entgegenzustellen.