IMI-Analyse 2023/23
Ignorierte Tyrannen
Zum erneuten Bürgerkrieg im Sudan
Pablo Flock (17.05.2023)
Friedensverhandlungen im Sudan scheinen kaum eine Perspektive für Frieden und noch weniger für Demokratie und Gerechtigkeit zu bieten. Mit dem Jahre langen Votum für die Autokratie bleibt auch der Westen verantwortlich für die aktuelle Katastrophe.
Versprochene und immer wieder gebrochene Waffenstillstände, Friedensverhandlungen zwischen Generälen verschiedener Sicherheitsinstitutionen eines Landes und eine schreckliche humanitäre Situationen – seit Mitte April ist der Sudan wieder auf den Titelseiten der Zeitungen und in den TV-Nachrichten zu sehen. Alle sind darüber informiert, welches Land aus dem globalen Norden seine Bürger*innen am schnellsten, entschiedensten, oder – wie es die Bundeswehr gerne über sich hört – am robustesten evakuiert. Die sudanesische Bevölkerung wird währenddessen oft nur mit der Zahl der hunderten Toten bedacht, vielleicht noch ergänzt durch eine halbwegs aktuelle Bezifferung der tausenden Verletzten, der hunderttausenden intern Vertriebenen und Geflüchteten und dem leicht zu unterschätzenden humanitären Faktor, dass vielen Menschen in der Hauptstadt Khartoum das Wasser und die Lebensmittel ausgehen, während eine Flucht aus der Stadt wegen der Straßenkämpfe lebensgefährlich bis unmöglich ist. Beide Kriegsherren scheinen keine Probleme damit zu haben, Wohngebiete zu bombardieren bzw. als menschliche Schutzschilde zu verwenden. Kritische zivile Infrastruktur wie Krankenhäuser werden angegriffen und fallen auf Grund von Stromausfällen und Materialmangel aus, während sich Krankheiten ausbreiten. Besonders in Gebieten der Miliz Rapid Support Forces RSF wird auch von Angriffen auf Zivilist*innen und sexueller Gewalt berichtet. Tausende sitzen wegen fehlenden Papieren z.B. auf der Flucht nach Saudi-Arabien im Port Sudan fest oder fliehen in die ebenso kriegszerrütteten Länder Südsudan und Äthiopien.
Für die seit dem Putsch der Generäle immer wieder in Großprotesten aufbegehrende und dabei mehrfach auch massakrierte Bevölkerung kommt das nicht überraschend. Ein Nachfolgekrieg zwischen den beiden Generälen, die während anhaltender Protesten im Jahr 2019 ihren damaligen Chef an der Staatsspitze ersetzten, war stets eine Möglichkeit, da beiden Verfahren wegen Kriegsverbrechen drohen könnten, wenn die Macht von zivilen, gewählten Volksvertretern übernommen würde. Eine Integration der RSF in die regulären Streitkräfte, wie es von den zivilen Kräften für Freiheit und Veränderung (FFC), die am sogenannten Übergangsprozess beteiligt waren, wie auch von den davon ausgeschlossenen Übergangskomitees gefordert wurde und im Dezember letztendlich auch beschlossen wurde,[1] erschien kaum wahrscheinlich – weder in den vom obersten General al-Burhan anvisierten zwei Jahren, noch in den vom Milizenführer Mohamed Hamdan Dagalo vorgeschlagenen zehn Jahren.
Von der ethnischen Gewalt zur Gewaltökonomie
Zu groß sind die Reichtümer, die individuellen politischen Chancen und wirtschaftlichen Netzwerke, aber eben auch drohende Strafen, die die beiden Generäle in den vorangegangenen Bürgerkriegen im Sudan aufgehäuft haben. Auch wenn der jetzige Konflikt keiner dieser typischen postkolonialen Konflikte über Landverteilung und Staatsdominanz zwischen verschiedenen in einem Staat zusammengepferchten Ethnien ist, entspringen die materiellen und sozialen Ressourcen der beiden durch Gewalt geadelten Streithähne solchen postkolonialen und zudem durch den Klimawandel angeheizten Konflikten.
Die Bevölkerung im nicht-muslimischen, schwarzafrikanischen Südsudan und dem vormals unabhängigen Kalifat Darfur im Westen des Landes wurde während der britischen Kolonialzeit und bei der Entkolonialisierung der Hauptstadt Khartoum im arabischen Norden unterstellt. Nachdem die Bevölkerung im Südsudan keine Lebensverbesserung spürte, während seit Jahrzehnten die Ölquellen sprudelten, begann 1983 der schreckliche Bürgerkrieg, der 2011 letztendlich zur Gründung des Südsudans führte. In Darfur führte der Rückgang des fruchtbaren Landes zu ethnischen Spannungen endete in dem, was Harald Welzer in seinem gleichnamigen Buch den ersten „Klimakrieg“ nennt.[2] Die Regierung unter dem Langzeit-Diktator Omar al-Bashir bewaffnete die aus arabischen, viehtreibenden Gruppen rekrutierten Dschandschawid Milizen, welche die Fur und andere, oft als „afrikanisch“ identifizierte, Ackerbau betreibenden Bevölkerungsteile teilweise vertrieben und dabei einen Genozid mit über einer viertel Millionen Toten begingen.
Der jetzige Armeechef General Abdel Fattah al-Burhan machte in Darfur militärische Karriere unter dem Diktator al-Bashir. Dieser wartet mittlerweile in Den Haag auf sein Verfahren wegen diesem Genozid, nachdem al-Burhan ihn gemeinsam mit Dagalo wegputschte und auslieferte, dessen Rapid Support Forces die institutionalisierten Dschandschawid-Milizen sind.
Dagalo, der mit seinen schweren Menschenrechtsverbrechen in Darfur, an Demonstranten in Khartoum und seiner fehlenden staatlichen Legitimation im jetzigen Konflikt die größten Chancen auf internationale Strafverfahren hat, hat natürlich auch kein Interesse, an Souveränität einzubüßen und sich unterzuordnen und damit auslieferbar zu machen. Mit sicheren Cashflows und Waffenversorgung kann er es wagen und könnte es sich lohnen, die zahlenmäßig überlegene Armee herauszufordern. So können international vernetzte Warlords und Reste einer diktatorischen Militärverwaltung auf dem Rücken einer demokratiehungrigen Bevölkerung ihren Krieg um Macht und Pfründe austragen.
Ein geopolitischer Stellvertreter-Bürgerkrieg?
Beide haben über die Jahre ihres Aufstiegs natürlich auch im Ausland Verbündete gesammelt und verschiedene Mächte werden verdächtigt, Stellvertreterkonflikte auszutragen. Ausgiebig thematisiert wurden in den westlichen Medien natürlich die Verbindungen Dagalos zur Söldnerarmee Gruppe Wagner des russischen Oligarchen Jewgeny Prigoschin. Dessen Firmen Meroe Gold und M-Invest sind – wie auch in der angrenzenden Zentralafrikanischen Republik – stark im sudanesischen Goldgeschäft involviert, das hauptsächlich von Dagalo dominiert wird, dem dabei Schmuggel und Raub nachgesagt werden. Die Lieferung von Flugabwehrraketen durch ein Flugzeug der Söldnergruppe, über die einhellig berichtet wurde, scheint dabei jedoch die einzige unmittelbare Unterstützung zu sein. Die Gruppe Wagner bestreitet, im Land aktiv zu sein. Ebenso durch das Gold an Dagalo gebunden sind die Vereinigten Arabischen Emirate, die dessen größter Abnehmer sind und die Miliz im Vorfeld mit Waffen versorgten.
In dem Licht sehen die internationalen Verbindungen seines Widersachers, des offiziellen Staatschefs während der Übergangszeit, al-Burhan eher bescheiden aus. Etwas Legitimationsshow konnte er sich bei einem Besuch in Ägypten abholen und zumindest scheint es, nachdem Dagalos RSF einige ägyptische Soldaten gefangen nahm und ein ägyptisches Flugzeug zerstörte, dass al-Burhan auch etwas militärische Unterstützung bekam.
Natürlich haben auch die anderen Nachbarstaaten Interessen und Präferenzen. Uwe Kerkow mutmaßt im Onlinemagazin Telepolis, dass die äthiopische Führung eher Dagalo favorisiere, weil al-Burhan eben von Ägypten unterstützt wird, welches Äthiopien wegen des Aufstauens des Nils im Grand Etiopian Renaissance Damms mehrfach bedrohte. Belege dafür bleibt er allerdings schuldig.[3]
Zudem wichtige Akteure in der generell destabilisierten Region sind Warlords und Rebellengruppen. Wie Hannah Wettig in der jungle.world schreibt,[4] sei der Gründer der Dschandschawid Milizen, Musa Hilal, schon länger mit Dagalo verfeindet und nun explizit mit al-Burhan verbündet, was wiederum den Tschad auf al-Burhans Seite ziehe, da Musas Tochter mit dem ehemaligen Diktator, dem Vater des jetzigen Diktators, verheiratet war. In der Zentralafrikanischen Republik sei es wiederum andersherum: Dagalo kämpfe zusammen mit den Wagner-Söldnern an Seite der Regierung, während die bekämpften Rebellen von Musa unterstützt würden.
Ein weiterer wichtiger Warlord in der Region ist Khalifa Haftar, Führer der Libyan National Army, der zusammen mit dem Abgeordnetenhaus in Tobruk den größten Teil Libyens regiert. Dieser lieferte wohl Waffen an Dagalo und kämpft ebenfalls mit der Wagnergruppe. Allerdings wird Haftar auch von Ägypten unterstützt, was die eindeutige Einteilung der bewaffneten Gruppen in der Region in zwei Lager unterminiert.
Multipolarität der MENA-Region
Da beide Seiten im sudanesischen Konflikt bis vor Kurzem eine recht geschmiert laufende geteilte Macht ausübten und beide, die sudanesische Armee und die RSF, im Verbund mit verschiedenen arabischen Staaten Seite an Seite im Jemen kämpften, scheitern Versuche, die Konfliktparteien zu Stellvertretern größerer Mächte zu reduzieren. Russland, das von Dagalo eine Zusage für eine Militärbastion im roten Meer bekam, ist die einzige überregionale Großmacht, die aber auch nur über die private Söldnerarmee mit Waffenlieferungen und Goldschmuggel involviert ist, welche, wie kürzlich in der Ukraine gesehen, oft recht eigenständig agiert. Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate und die afrikanischen Nachbarländer werden ihre Interessen sicherlich zu sichern suchen – doch ein ausgedehnter Krieg im Land nutzt auch diesen wenig.
Saudi-Arabien, das wohl reichste und mächtigste Land der Region, scheint deshalb auch kaum Partei zu ergreifen und bewirtschaftet stattdessen zusammen mit den USA die Friedensverhandlungen und bietet Zuflucht für Geflüchtete. Auch wenn die einzige westliche Großmacht sozusagen bei den Friedensbrokern sitzt, sind dies keine besonders guten Nachrichten für die Menschen im Sudan. Natürlich wird das Schweigen der Waffen von allen vorrangig begrüßt werden. Doch die Zeiten, in denen demokratische Kräfte und normale Menschen des Sudans an Verhandlungen über die institutionelle Zukunft teilnahmen, sind wohl vorerst vorüber, und das eigentlich auch schon lange.
Denn Autokratie und Gewaltherrschaft sind nicht nur für Russland, die monarchischen Golfstaaten und das ebenfalls durch ein Militärregime regierte Ägypten Normalität. Obwohl ihr Einfluss hier minimal erscheint, erhalten auch die USA und die europäischen Mächte nur allzu gerne autokratische Regime in der Region, solange diese ihren Interessen entsprechen – was im Sinne europäischer Mächte bedeutet, dass diese sich nur anschicken sollen, die Durchreise von Migranten aus den von bewaffneten Konflikten und Klimawandel geplagten Gegenden Afrikas in Richtung Europa zu unterbinden.
Grenzposten Sudan
Ebenso wie in Ägypten, Libyen, Marokko und der Türkei hatten die EU und ihre Mitgliedsstaaten auch im Sudan keine Probleme damit, autoritäre und menschenverachtende Regime in seine Grenzschutzstrategien einzubinden und ihre repressiven Gewaltapparate dafür aufzurüsten.
So berichtete im Jahr 2016 beispielsweise der Spiegel über rund 46 Millionen aus der EU für den Grenzschutz im Sudan, von dem besonders die RSF profitiert hätten,[5] die laut Human Rights Watch jedoch oft gemeinsame Sache mit den erpressenden und vergewaltigenden Schmugglern machten. Deutschland sei dabei federführend bei den Verhandlungen gewesen. Eine Studie der Menschenrechtsorganisation Oxfam veröffentlichte 2017 Ergebnisse, die belegen, dass von 400 Mio. Euro des im Rahmen des Khartoum Prozesses verteilten Emergency Trust Fund for Africa „nur drei Prozent in die Entwicklung sicherer und legaler Migrationsrouten flossen. Der größte Teil ging an die Migrationskontrolle.“[6]
Da diese Zusammenarbeit schon dem ehemaligen Diktator al-Bashir gute Dienste im Sinne einer gewissen internationalen Akzeptanz durch den Westen sowie mutmaßlich 2017 auch eine Lockerung der US-Sanktionen einbrachte, war es für Dagalo nach dem Putsch naheliegend, gegenüber den europäischen Ländern zu bekräftigen, dass sie die Migrationskontrolle nicht im Eigeninteresse ausführten und sich die Länder im Norden ihren Wohlstandsschutz etwas – am besten eine Flotte neuer Geländewagen – kosten lassen sollten und das Militärregime besser akzeptieren sollten.[7]
Ein neues „Mythbusting“-Factsheet des Auswärtigen Diensts der EU (EEAS),[8] das seit dem Ausbruch der Kämpfe ganz oben bei den Suchmaschinen erscheint, gibt jedoch an, die EU hätte dem Sudan niemals im Rahmen des sogenannten Khartoum Prozess, dem Migrationsforum mit den ostafrikanischen Ländern, Gelder zur Migrationskontrolle bereitgestellt. Der Kapazitätsaufbau im Rahmen des Better Migration Management Programms mit der deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) sei wegen der politischen und der Sicherheitslage ausgesetzt. Ebenso das Regional Operational Center in Khartoum (ROCK), in dem die verschiedenen, größtenteils autokratischen Länder der Region Daten über Grenzkontrolle und -schutz, Schleuserkriminalität und Migrationsrouten austauschen. Wie die Deutsche Welle berichtete, geschah dies nachdem im Juni 2021 die RSF ein Massaker an über 120 Demonstranten in der Hauptstadt verübte.[9]
„Demokratische Werte“ im Sudan hinten angestellt
In jedem Fall war die Unterstützung gering, welche die Protestbewegung gegen die Herrschaft der Militärs nach der Machtübernahme durch die zwei Generäle bekam. Es wurden zwar z.B. in Deutschland Geberkonferenzen organisiert, wo 1,8 Mrd. Euro an finanziellen Hilfen für den Sudan gesammelt wurden, und die EU stellte 100 Mio. zur sozialen Absicherung bereit.[10]
Doch die Unterstützung eines Übergangssprozesses, der durchgehend durch Militärs geprägt war und nicht die Unterstützung der Masse der Bevölkerung genoss, war zum Scheitern verurteilt. Im Gegensatz zu Mali, das einen von breiten Massen der Bevölkerung unterstützten Putsch erlebte und Sanktionen von Seiten der EU und seines regionalen Blocks erlebte, hielten sich diese Druckmittel im Falle der viel unpopuläreren Putschregierung im Sudan in Grenzen. Und das, obwohl die Aktivisten der Widerstandskomitees drei Jahre lang vor einer solchen Situation wie jetzt warnten.[11] Diese revolutionäre Basisorganisationen nahmen deshalb auch nicht am Transitionsprozess der Generäle teil – waren aber auch nicht dazu eingeladen.
Nun bleibt auch den Kräften für Freiheit und Wandel, den zivilgesellschaftlichen Organisationen, die am Übergangsprozess beteiligt waren, nichts anderes übrig, als Friedensverhandlungen zu begrüßen. Eine zivile Beteiligung an der Gestaltung der institutionellen Zukunft des Sudans bleibt an diesem Punkt unwahrscheinlich. Die Widerstandskomitees sind derweil zum Rückgrat der von den Kämpfen betroffenen Zivilbevölkerung geworden, managen improvisierte Erste-Hilfe-Zentren, dokumentieren Kämpfe in Echtzeit, um sicherere Fluchtbewegungen zu ermöglichen und richten Shuttle-Services ein[12] – kümmern sich um den Scherbenhaufen, den man die bewaffneten Kräfte hat anrichten lassen, in dem Glauben, dass diese ihre Macht irgendwann einfach aufgeben würden.
[1] Al-Rujuob, Awad: Sudan leader says to build professional army under elected civilian authority aa.com.tr 26.03.2023
[2] Welzer, Harald: Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird. Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn 2008
[3] Kerkow, Uwe: Eskalation im Sudan: Anzeichen eines neuen Stellvertreterkrieges. telepolis.de 23.04.2023
[4] Wettig, Hannah: Krieg statt Demokratie. shop.jungle.world 27.04.2023
[5] Dahlkamp, Jürgen und Maximilian Popp: EU to Work with African Despot to Keep Refugees Out. 13.05.2016 spiegel.de
[6] Zitat aus: Chandler, Caitlin: Inside the EU’s flawed $200 million migration deal with Sudan. thenewhumanitarian.org 30.01.2018 ; Oxfam Briefing Note: An Emergency Trust Fund for Whom? The EU Emergency Trust Fund – migratory routes and development aid in Africa. November 2017 oxfam.org
[7] Rosca, Matei: Top Sudan general warns country could be source of refugee influx to Europe politico.eu 01.12.2021
[8] Mythbusting: What the EU Really does in Sudan. Download: eeas.europa.eu
[9] Wills, Tom: EU stops Sudan border control projects amid repression fears. 22.07.2019 dw.com
[10] Erklärungen des Auswärtigen Amts in der Regierungspressekonferenz vom 07.01.2022 auswaertiges-amt.de;
European Union announces €100 million to support the democratic transition process in Sudan. 01.03.2020 reliefweb.int
[11] Luck, Taylor: Sudanese to world: Violence in Khartoum shows strongmen can’t be trusted. 18.04.2023 csmonitor.com
[12] Palermo, Rachel: Amid Sudan’s Chaos, Youth Groups Work for Peace. usip.org 02.05.2023