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IMI-Analyse 2023/18

Konturen alternativer Sicherheitsarchitekturen in Europa

René Jokisch (23.03.2023)

Schon länger wird eine alternative Sicherheitsarchitektur gefordert und das Versagen bisheriger Strukturen wurde in den vergangenen Kriegsmonaten bewusster denn je. Dennoch ist erstaunlich unklar, was darunter genau zu verstehen ist. Ohne mit einem vollständig ausgereiften Konzept glänzen zu können, soll der nachfolgende Artikel Elemente und Konturen einer solchen Sicherheitsarchitektur skizzieren.

Grundlagen und Grundfragen für die Debatte

Sicherheit soll mehr sein als Abwesenheit von Krieg, mehr als die Zeit der Vorbereitung auf den nächsten Krieg. Sicherheit ist nur Sicherheit auf Dauer und soll hier auf den Aspekt der gewaltsamen Durchsetzung des eigenen gegen einen anderen Willen konzentriert werden. Für die staatliche Perspektive spielt die Sicherheit des eigenen politischen Regimes eine grundlegende Rolle. Die Akzeptanz des staatlichen Anderen macht eine dauerhafte friedliche Koexistenz erst möglich.
Im Begriff der Sicherheitsarchitektur schwingen interessante Bedeutungen mit: Im klassischen Verständnis sind drei Aspekte zentral: Die Stabilität, die Nützlichkeit und die Schönheit der Architektur. Im modernen Verständnis ist das planvolle Entwerfen und Konstruieren der zentrale Inhalt der Architektur, bei der es um die Auseinandersetzung mit dem vom Menschen geschaffenen Raum und die Wechselbeziehungen zwischen Mensch, Raum und Zeit geht.
Dieses moderne Verständnis trifft die dynamische Entwicklung in der geopolitischen Welt: Keine internationale Institution ist naturgegeben, sondern konkrete Menschen und Staaten haben in historischen Prozessen gezielt Entwicklungen befördert und an historischen Momenten mit Entscheidungen Machtverhältnisse in Architektur gegossen.
Während die Frage des Nutzens der Sicherheitsarchitektur offensichtlich erkenntnisleitend ist, scheint mir die Annahme von Stabilität problematisch. Politische Institutionen sind grundsätzlich vergänglich, müssen sich reproduzieren, an Veränderungen anpassen und einem politischen Nutzen-Kalkül der staatlich-politischen Akteure gerecht werden. Der Topos der europäischen Sicherheitsarchitektur führt in die Irre, wenn er eine stabile und wohlgeordnete institutionelle Ordnung suggeriert. Stattdessen könnte man ebenso von einer permanenten Baustelle ausgehen oder retrospektiv von einer gescheiterten Konstruktion, die auf Sand gebaut war.
An die Kategorie der Schönheit von Architekturen lässt sich allerdings anknüpfen: Inwiefern erwarten wir unbewusst eine Ordnung, die sich vor allem auf schriftlich fixierte Verträge stützt? Wie empfinden wir eine Ordnung auf der Basis der gegenseitigen Androhung von Gewalt? Wie „schön“ erscheinen uns internationale und rechtsprechende Institutionen? Und wie halten wir es mit eher „sozialen Verträgen“, die auf persönlichem Vertrauen basieren oder auf tiefergehenden grundsätzlichen Veränderungen der gegenseitigen Wahrnehmung, die die gesamte Gesellschaft betreffen?
Der deutsch-französische Aussöhnungsprozess hat die Erbfeindschaft aufgehoben und verdeutlicht, welche Rolle das Vertrauen zwischen Regierungschefs, Institutionen und der Bevölkerung spielen kann. Dazu brauchte es mehr als ein paar Seiten des Elysée-Vertrags von 1963, dessen Nutzen zudem hart umstritten war: Die Sowjetunion protestierte, da sie eine Bedrohung des Warschauer Paktes fürchtete. Andererseits war das deutsche Verhältnis zu den USA durch den Vertrag bedroht: Der Deutsche Bundestag stellte dem Vertrag daher eine transatlantische Präambel vor und düpierte den französischen Präsidenten, der eine stärkere europäische Eigenständigkeit anstrebte. Die Frage europäischer Eigenständigkeit und Sicherheit auf Kosten anderer Staaten steht unverändert auf der Tagesordnung. Im Sinne der Intentionalität von Architektur stellt sich auch die Frage, an welcher Stelle ein vergleichbar tiefer Aussöhnungsprozess wie mit Frankreich auch mit Russland möglich gewesen wäre und möglich ist.

Entwicklungen der europäischen Sicherheitsarchitektur

Die europäische Sicherheitsarchitektur ist von drei Konfigurationen geprägt. Erstens setzen die Vereinten Nationen, als kollektives Sicherheitssystem, einen völkerrechtlichen Ordnungsrahmen: Gewalt ist verboten und jeder Staat wird grundsätzlich kollektiv durch das System vor der möglichen Gewaltanwendung anderer Staaten geschützt. Angriffskriege sind damit nicht ausgeschlossen, bleiben aber als Bruch des Völkerrechts erkennbar. Neben dem Selbstverteidigungsrecht gibt ausschließlich der Sicherheitsrat die rechtliche Kompetenz für den Einsatz von Waffengewalt zur Beendigung unrechtmäßiger Gewaltanwendung. Dabei haben sich die fünf ständigen Sicherheitsratsmitglieder das Vorrecht herausgenommen, alle entsprechenden Entscheidungen des Sicherheitsrates gegen ihre Kriege mit dem Veto zu verhindern.
Zweitens prägt die Konstellation von Militärbündnissen auf Grundlage militärischer Abschreckung die europäische Sicherheitsarchitektur. Im Gegensatz zur universalen Struktur aller Staaten haben diese partikularen Strukturen eine institutionelle Eigendynamik der militärisch-politischen Integration nach innen und nach außen. Sicherheit soll für die Mitglieder der Militärbündnisse durch gemeinsame Stärke über die Beistandsverpflichtung erreicht werden, die einen Angriff des Gegners abschrecken soll. Das führt zum Problem, dass jeder Gewinn an Sicherheit durch Aufrüstung gleichzeitig eine neue Bedrohung für die Gegenseite darstellt, auf die mit eigener Aufrüstung reagiert werden kann. Militärbündnisse tendieren aufgrund der gegensätzlichen Sicherheitsinteressen zu Rüstungsspiralen und wachsenden Eskalationsgefahren.
Nach der Auflösung des Warschauer Paktes spielt die NATO in Europa mit der Osterweiterung eine entscheidende Rolle. Aber auch andere Bündnisse existieren: Neun Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes haben mit der OVKS ein Militärbündnis unter Führung Russlands gegründet. Auch die EU ist mit dem in Kraft treten des Vertrags von Lissabon 2009 zu einem Militärbündnis geworden, das auch Nicht-NATO-Mitglieder einschließt.
Als Drittes haben Foren der gemeinsamen Sicherheit nach Möglichkeiten der Entspannung, Vertrauensbildung, gegenseitigen Anerkennung, zur Abrüstung und einer gemeinsamen langfristigen Entwicklung in Europa gesucht. Mit dem KSZE-Prozess haben die verfeindeten Blöcke des Kalten Krieges und neutrale Staaten ab 1973 eine freiwillige und rechtlich unverbindliche Struktur erschaffen und sich in einer Absichtserklärung zur Unverletzlichkeit der Grenzen, friedlicher Streitregelung, Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten, Wahrung der Menschenrechte und zur friedlichen Koexistenz bekannt.
Trotzdem gab es weitere Rüstungsspiralen: 1979 wurde mit dem NATO-Doppelbeschluss die Stationierung neuer atomarer Mittelstreckenraketen eingeleitet, mit der Begründung neue Ausrüstung hätte die sowjetische Überlegenheit in Europa vergrößert. Gleichzeitig verlangte die NATO bilaterale Verhandlungen der Supermächte über die Begrenzung ihrer atomaren Mittelstreckenraketen.
Im Rahmen der KSZE wurde 1982 das Konzept gemeinsamer Sicherheit entwickelt: Beide Seiten brauchen Sicherheit, nicht vor dem Gegner, sondern mit dem Gegner. Eigene Sicherheit kann nicht auf Kosten der Sicherheit des Gegners erreicht werden. Sicherheit wird nur erreicht, wenn die Gewaltanwendung grundsätzlich ausgeschlossen wird, und kann nicht „errüstet“ und Bedrohungen können nicht „weggerüstet“ werden. Sicherheit auf Dauer ist nur durch vertraglich vereinbarte Abrüstung möglich.
Zwar kam es trotzdem zur „Nachrüstung“ der NATO, aber im Laufe der 80er Jahre gab es weitgehende Abrüstungsschritte, nachdem Michail Gorbatschow in seiner Amtseinführung 1985 erklärte, dass die Sowjetunion das Streben nach militärischer Überlegenheit aufgegeben habe. Beispielhaft wurde mit dem INF-Vertrag die ganze Gattung landgestützter Kurz- und Mittelstrecken-Atomwaffen vernichtet.

Von der Wendezeit zur Zeitenwende

Nach dem Fall der Mauer gab es 1990 große Hoffnung auf einen grundlegenden Fortschritt der europäischen Sicherheitsarchitektur: In der Charta von Paris proklamierten die europäischen Staaten zusammen mit den USA und Kanada, „eine neue Qualität in unseren Sicherheitsbeziehungen an(zu)streben. …die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden. Wir verpflichten uns daher … bei der Förderung der Rüstungskontrolle und Abrüstung zusammenzuarbeiten.“ Leider muss man konstatieren, dass die Versprechen dieser Charta nicht umgesetzt wurden.
Ein Schiedsgerichtshof wurde nur von 34 Staaten ratifiziert, von den USA und dem Vereinigten Königreich nicht einmal unterzeichnet und daraufhin von Russland nicht ratifiziert. 1994 wurden russische Vorschläge für eine Entwicklung zu einem regionalen kollektiven Sicherheitssystem abgelehnt: Die OSZE (früher: KSZE) wurde 1995 lediglich dem Namen nach eine Organisation und blieb ohne völkerrechtliche Eigenständigkeit und von Freiwilligkeit und Einstimmigkeit bestimmt. Die OSZE stellte danach zwar einen Gesprächsrahmen und Instrumentenkasten zu Vertrauensbildung und Konfliktmanagement, enttäuschte aber die Erwartungen vom Anfang der 90er Jahre und befand sich in einem Erosionsprozess.
Der NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien 1999 und die später folgende Sezession des Kosovo waren Schlüsselmomente, da das Prinzip der territorialen Integrität verletzt wurde. Mit der 1999 beginnenden Osterweiterung der NATO wurden zwar keine Verträge, aber höchstwahrscheinlich doch persönlichen Versprechen gebrochen, die der russischen Seite 1990 und auch noch danach gemacht wurden. Das Prinzip, die eigene Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten zu steigern, wurde aus russischer Sicht verletzt.
Die Entscheidung von 2008, Georgien und die Ukraine (trotz Bedenken von Deutschland und Frankreich) perspektivisch in die NATO aufzunehmen, wird vom ehemaligen Leiter der Münchener Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, als „Sündenfall“ charakterisiert. Russland begann danach seine militärisch gestützte Destabilisierung in Georgien mit der Abtrennung von Regionen, die eine Aufnahme ins Bündnis ausschließen sollte. Das OSZE-Prinzip der freien Bündniswahl wurde mit dem Scheitern des Ansatzes der gemeinsamen Sicherheit von Russland zunehmend in Frage gestellt.
Parallel wurde die Anpassung des Vertrags zur Begrenzung Konventioneller Streitkräfte (KSE) von den NATO-Staaten nicht ratifiziert, da als sachfremde Bedingung der Abzug der russischen Truppen aus Georgien sowie den Abzug der russischen Truppen aus Moldawien-Transnistrien gestellt wurde. Im Ergebnis setzte Präsident Putin 2007 den alten KSE-Vertrag außer Kraft, mit der Begründung, dass die neuen NATO-Staaten nicht erfasst waren und die USA neue militärischen Stützpunkte in Rumänien und Bulgarien sowie den US-Raketenschirm in Osteuropa ankündigten, mit dem Russland seine atomare Zweitschlagsfähigkeit unterminiert und das nukleare Gleichgewicht (des Schreckens) verletzt sieht.
Der Konflikt in der Ukraine seit 2014 verdeutlicht das Scheitern der OSZE: Für Russland waren die Instrumente der Förderung von Demokratie und Menschenrechten schon länger zu einem Kampfinstrument geworden, das mit Farbrevolutionen die politische Ausrichtung der Staaten an seinen Grenzen verändern und nicht zuletzt die Sicherheit des russischen Regimes selbst bedrohen würde. Der innerukrainische Konflikt wurde offensichtlich von US-amerikanischer, russischer und europäischer Seite intensiv beeinflusst: Die von Russland militärisch begleitete Sezession, die Aufnahme der Krim und die Unterstützung der „Volksrepubliken“ im Osten der Ukraine waren offensichtliche Verletzungen der OSZE-Prinzipien, aber auch der maßgeblich von den USA unterstütze Putsch gegen den ukrainischen Präsidenten wurde mit Blick auf die Konsequenzen für die umstrittene tiefere Integration der Ukraine in die EU und die NATO als Verletzung der OSZE-Prinzipien gesehen. Letztlich scheiterte der von Deutschland, Frankreich, der Ukraine und Russland – wohlgemerkt ohne die USA – ausgehandelte Minsker Friedensprozess, bei dem die OSZE lediglich als Monitoring-Instrument benutzt wurde.

Konturen möglicher Alternativen zur Sicherheitsarchitektur

Ich will zur Frage der Architektur zurückkehren und auf die Wechselwirkungen der drei Ebenen der UN, der Militärbündnisse und der OSZE schauen. Die herrschende Meinung argumentiert, dass es ohne die Bedrohung der Militärbündnisse keine Bereitschaft zur Annäherung und ziviler Konfliktlösung geben würde. Die drei Elemente wären also ergänzende Komponenten, die als gemeinsame Säulen die stabile Architektur tragen würden.
Doch diese Perspektive scheint mir trügerisch, da die imperialistische Logik der Militärbündnisse die völkerrechtliche Ordnung und Grundlagen gemeinsamer Sicherheit untergräbt und zu Konflikten und Eskalationen führt. Die von Russland wahrgenommene Bedrohung durch die NATO-Osterweiterung kann keine Rechtfertigung für den völkerrechtswidrigen Ukraine-Krieg sein. Aber es ist ebenso offensichtlich, dass eine Integration Russlands in die kapitalistische Wirtschaft und in die NATO, zu der Russland und vor allem Putin bereit waren, vom Westen ausgeschlossen wurde. Vermeintliche Fortschritte dieser Integration, wie die NATO-Russland-Grundakte, wurden pointiert als simulativ-palliative Institutionen beschrieben, die den eigentlichen Konflikt nicht lösten. Der Versuch der osteuropäischen Staaten, Sicherheit vor Russland durch den NATO-Beitritt zu erreichen, hat zumindest für die Staaten, die noch nicht Mitglied geworden sind, die Sicherheit verringert, und man könnte auch argumentieren, dass mit der Osterweiterung erst die Spannungen entstanden sind, die die russische Bedrohung für diese Staaten begründet hat.
Die OSZE spielt im Ukrainekrieg praktisch keine von der NATO-Linie unabhängige Rolle: Zwar gibt es weiterhin direkten Kontakt zu Russland im ständigen sicherheitspolitischen Komitee in Wien, aber darüber hinaus gibt es keine Initiativen der OSZE in dieser fundamentalen Krise des europäischen Sicherheitssystems. Die Verhinderung der Teilnahme des russischen Vertreters am Außenministertreffen im Dezember 2022 in Polen und der angekündigte Boykott der Ukraine und anderer Staaten aufgrund der seit dem Krieg erstmalig ermöglichten russische Teilnahme an der Sitzung der Parlamentarischen Versammlung der OSZE in Wien im Februar 2023 verdeutlichen die grundlegende Krise der Institution.
Die EU hat mit dem im März 2022 verabschiedeten Strategischen Kompass nach dem Angriffskrieg keine Orientierung auf mögliche Institutionen gegeben, sondern setzt außenpolitisch auf bilaterale „maßgeschneiderte“ Beziehungen und Abkommen. Eine Strategie für eine Sicherheitsarchitektur, für Abrüstung oder gemeinsame Sicherheit gibt es nicht einmal in Ansätzen, vielmehr werden Russland und immer mehr auch China als Rivalen festgeschrieben.
Die Rolle der Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) bleibt unklar: Ihr erstes Treffen von 43 Staaten demonstrierte Geschlossenheit gegenüber Russland. Mit dabei waren auch autoritäre und zuletzt völkerrechtswidrige Angriffskriege führende Staaten (Türkei und Aserbaidschan). In Macrons Konzept zur Zukunft Europas in drei konzentrischen Kreisen, die anstelle einer einheitlichen EU treten sollen, entspricht die EPG dem äußersten Kreis, in dem die Kooperation auch mit offen autoritären Ländern gemäß den europäischen Interessen gesucht werden soll, während im demokratischen (Macht-)Zentrum mit Deutschland und Frankreich eine vertiefte Integration, und im zweiten Kreis nur der gemeinsamen Binnenmarkt erhalten werden soll. Allerdings ist die Ausgestaltung der EPG noch unklar: Aus deutscher Sicht besteht ihre Innovation darin, dass keine Institution geschaffen wird, sondern die Staatschefs in verschiedenen Formaten frei über gemeinsame Anliegen sprechen können.
Das einzige konkrete Ergebnis des EPG-Treffes war eine EU-Beobachtungsmission an der Grenze Armeniens. Damit wurde die OSZE als Gesprächsrahmen und als Instrument für Monitoringmissionen geschwächt. Nebenbei hat der Angriff Aserbaidschans auch die Schwäche der OVKS offengelegt: Armenien forderte im September 2022 den militärischen Beistand nach Artikel 4, doch Russland lehnte die Ausrufung des Bündnisfalles ab.
Anders verhält es sich mit der Ukraine, die nicht zuletzt wohl deshalb in einen Territorialkonflikt gestürzt wurde, da der offene Konflikt eine NATO-Mitgliedschaft faktisch ausschließen sollte. Obwohl die Ukraine kein Mitglied ist, wird sie nicht nur rhetorisch von der NATO verteidigt, sondern in ihrem Recht zur Selbstverteidigung so massiv unterstützt, dass der Verteidigungskrieg von einem Stellvertreterkrieg zumindest überlagert wird.
Während vertragliche Bindung der „alten“ Institutionen in Frage stehen, stärken sich losere Foren, in denen über Sicherheitsfragen auch für Europa verhandelt wird: die G7, die nach dem Ausschluss Russlands als rein westliches Forum agiert, und die G20, in der die westlichen Staaten mit weiteren zentralen Akteuren wie China, Russland, Indien und Brasilien zusammenkommen. Beim letzten G20-Treffen wurde eine kritische gemeinsame Erklärung zum russischen Krieg angenommen, die festhielt, dass es andere Ansichten und unterschiedliche Einschätzungen der Situation und der Sanktionen gibt, dass die friedliche Beilegung von Konflikten sowie Diplomatie und Dialog unerlässlich sind und die G20 nicht das Forum für die Lösung von Sicherheitsfragen sind. Damit bleibt aber völlig offen, wie die unerlässliche diplomatische Konfliktlösung erreicht werden kann.
Die Entwicklung der europäischen Sicherheitsarchitektur ist davon gekennzeichnet, dass Institutionen und vertragliche Regelungen zunehmend geschwächt und informale, persönliche Beziehungen von exekutiven Personen immer mehr die Prozesse und Entscheidungen dominieren. Damit verbunden ist die Tendenz zu wechselnden Akteurs-Konstellationen, Formaten und Ebenen, anstatt der Zusammenarbeit in konstanten politischen Gemeinschaften. Dabei wachsen die Bedeutung und der Einfluss nicht-europäischer Staaten, wie der USA und China, aber auch der Türkei. Die Krise von Institutionen wirkt auch im Inneren der Staaten und führt zur Stärkung autoritärer Tendenzen: Der Einfluss autoritären Regime wird auf allen Seiten stärker und von der EU auch innen (Ungarn, Polen, Italien) und außen (Trump, Türkei, …) akzeptiert. Das verdeutlicht die Doppelmoral des Versuchs, die neue Konfrontation der USA mit Russland und mit China als Konflikt zwischen wertegeleiteter Demokratie versus bedrohlichem Autoritarismus zu framen.
Die EU steht selbst immer wieder vor grundlegenden Krisen. Mit dem Krieg hat sich das politische Gewicht zugunsten der osteuropäischen Staaten verschoben und neue Konflikte sind entstanden. Auch wenn die NATO momentan gestärkt scheint, ist die demonstrative Einigkeit prekär: So betonte Scholz im Bundestag, dass „jede Dissonanz, jede Spekulation über mögliche Interessenunterschiede… einzig und allein … Putin und seiner Propaganda nutzt.“ Man muss sich daran erinnern, dass Macron die NATO noch 2019 als hirntot bezeichnet hatte. Die augenscheinlich unterschiedlichen sicherheitspolitischen und ökonomischen Interessen der USA und verschiedener Staaten in der EU sind offensichtlich gerade nicht öffentlich und demokratisch verhandelbar. Trotzdem gibt es leichte Hinweise auf die eigenen Interessen, die sich zum Beispiel beim Besuch des Bundeskanzlers in China andeuteten.
Nicht zuletzt zeigt sich, dass das Paradigma von militärischer und wirtschaftlicher Machtprojektion, Stärke und Rivalität wieder hegemonial wird, und die Orientierung auf Kooperation unter grundsätzlich Gleichberechtigten, auf Vertrauen und gemeinsame Sicherheit verloren zu gehen droht. Exemplarisch zeigt sich das am Konflikt zwischen den USA und China, der langfristig auf verschiedenen Ebenen ausgetragen wird und bei dem es seitens der USA keine Perspektive auf eine kooperative Lösung gibt. Auch die Bundesrepublik und die EU verstärken ihre Aufrüstungsbemühungen massiv.

Szenarien

In einem möglichen Szenario soll Sicherheit nur noch gegen den „Terrorstaat“-Russland erreicht werden und jede Kooperation auch nach einem möglichen Ende des Krieges abgebrochen werden: Das Paradigma gemeinsamer Sicherheit würde als historischer Fehler desavouiert und Aufrüstung und Abschreckung als einzige realistische Antwort präsentiert. Es wurden bereits der Ausschluss Russlands aus der OSZE und aus der UNO gefordert und damit alle Ebenen der Sicherheitsarchitektur in Frage gestellt bis auf die NATO. In diesem Szenario würden die weitgehenden Sanktionen der EU gegen Russland keinen diplomatischen Hebel zur Beendigung des Krieges, sondern Maßnahmen zur fundamentalen Änderung der wirtschaftlichen Beziehungen Europas auf Dauer darstellen. Eine Normalisierung der Beziehungen soll erst mit einem pro-westlichen Wechsel des russischen Regimes möglich werden, der allerdings nicht absehbar ist: Vielmehr könnten bei einem Sturz Putins konkurrierende, deutlich national-chauvinistischere Fraktionen im Kampf miteinander die staatliche Integrität Russlands in Frage stellen und ganz neue Sicherheitsrisiken nach innen und außen entstehen lassen. Die politische Bedrohung des russischen Regimes durch vom Westen geförderte Farbrevolutionen gehört neben der militärischen Bedrohung seit langem zur russischen Sicherheitsdoktrin und wird in diesem Szenario vom Westen bestätigt.
In einem anderen Szenario soll über neue Formen des Zusammenlebens mit Russland nach dem Krieg nachgedacht werden und auf eine Verhandlungslösung hingewirkt werden. Putins Russland würde trotz deutlicher Kritik als faktische Macht in Europa anerkannt und zumindest ein Umgang mit ihr gesucht werden. Im Hintergrund stehen hier aus Europa Perspektiven auf eine wirtschaftliche Normalisierung der Beziehung, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Behauptung von souveränen europäischen geopolitischen Interessen im Unterschied zu den USA. Selbst wenn es gelänge, den Ukraine Konflikt einzufrieren, fehlt diesem Szenario aber jede Perspektive, wie eine Lösung des grundlegenden Konflikts zwischen Russland und der NATO erreicht werden soll: Wenn nur oberflächlich nach pragmatischen Lösungen gesucht wird, werden die von Russland bedrohten Staaten auf mehr Aufrüstung und Abschreckung durch die NATO setzen und Russlands Bedrohungswahrnehmung würde ebenfalls nicht abgebaut. Russland hatte vor dem Angriff ein Ultimatum an die NATO gestellt, auf das bezeichnenderweise ausschließlich die USA mit einem begrenzten Gegenangebot antwortete. Das Ultimatum selbst blieb aber in der Konfliktlogik und forderte letztlich eine Pufferzone, ohne eine Perspektive auf eine Lösung des Konflikts im Sinne gemeinsamer Sicherheit zu skizzieren.

Ausblicke für eine linke alternative Sicherheitsarchitektur

Auch wenn man die Frage der territorialen Integrität der Ukraine außen vor lässt, bleibt die Grundlage für einen dauerhaften Frieden zweifelhaft: Die ernsthafte Arbeit an einem Paradigma gemeinsamer Sicherheit kommt je nach Perspektive entweder viel zu spät oder viel zu früh: Mit dem Scheitern der Charta von Paris gibt es keine Grundlage auf der ein dauerhafter Frieden für Russland und die Ukraine glaubwürdig scheint. Andererseits braucht es erst einmal einen Frieden und weitere Schritte, um Vertrauen zwischen der Ukraine, der NATO und Russland zu entwickeln, auf dem eine Perspektive der gemeinsamen Sicherheit aufgebaut werden könnte.
Dabei muss man NATO und OSZE nicht notwendig als sich gegenseitig ausschließend denken: In den 90er Jahren wollten Russland und auch die SPD die Militärblöcke ablösen und ein vertragliches europäisches Sicherheitssystem schaffen, in dem die Militärbündnisse aufgehen. Denkbar wäre beispielsweise ein Frieden, bei dem Russland als Folge seines Angriffskrieges die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine akzeptieren müsste, aber glaubwürdig am Aufbau eines gemeinsamen (perspektivisch kollektiven) Sicherheitssystems und eine Überwindung der NATO arbeiten könnte, das auch die Interessen Russlands aufnimmt.
Bevor es um vertragliche Entwürfe dafür geht, die dies auch zwingend gewährleisten würden, braucht es erst einmal den Wandel in den Einstellungen der politischen Klasse und der persönlichen Beziehungen der Staatsvertreter:innen. Die Einstellungen der Bevölkerung der Staaten könnten sich in einer internationalen friedenspolitischen Bewegung verändern, um eine gemeinsame Sicherheits- und Entwicklungsperspektive in der Debatte zu stärken.
Das grundlegende Konzept der gemeinsamen Sicherheit sollte als neues Fundament wieder in Erinnerung gebracht werden. Der globale Süden leidet massiv unter dem Konflikt in Europa und könnte in der Debatte eine große Rolle spielen. Umgekehrt wäre es im Großkonflikt zwischen den USA und China gerade Europa, das mit einer eigenständigen Politik eine deeskalierende Rolle spielen könnte. Dafür wären eine Analyse und öffentliche Debatte darüber nötig, wer Interesse an einer weiteren Aufrüstung der EU, an einer Eskalation und Blockbildung hat.
Letztlich stehen wir auch vor der Frage, inwiefern eine rein europäische Abrüstungsinitiative erfolgversprechend sein kann. Zuletzt sind die USA 2019 aus dem INF-Vertrag ausgestiegen und der New-START-Vertrag läuft 2026 aus, wurde aber von Russland Ende Februar 2023 ohnehin ausgesetzt. Die Forderung nach einer gemeinsamen Erklärung, um den Erst-Einsatz von Atomwaffen auszuschließen, werden weder von der EU, den USA noch von Russland aufgenommen. Russland und vor allem die USA werden wohl zur nuklearen Abrüstung nur bereit sein, wenn auch China eingebunden ist.
Vielleicht sollten wir mehr an den Grundsätzen einer wirklich feministischen Außenpolitik arbeiten, die den Fokus auf staatliche, zentral gelenkte Institutionen des Zwangs und der Stärke und der Fiktion von souveräner Allmacht überwindet. Statt Macht als Fähigkeit zur Durchsetzung des eigenen Willens (Max Weber), sollten wir sie als Fähigkeit zur kommunikativen Einigung auf gemeinsames Handeln (Hannah Arendt) verstehen. Statt einer Erklärung der Unabhängigkeit und Souveränität braucht es für Europa und die Welt ein Verständnis der gegenseitigen Abhängigkeit und gemeinsamen Lösung von Problemen, nicht nur der Sicherheit.

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