Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de

IMI-Analyse 2023/16

Ukrainekrieg und arabische Welt

Hunger, gestärkte Autokraten und Migrationsabwehr

Jacqueline Andres (20.03.2023)

Der Ukrainekrieg bringt verheerende Folgen für die Bevölkerung zahlreicher arabischer Staaten mit sich – während die gestiegenen Getreide-, Düngemittel- und Energiepreise Verarmungsprozesse und Hunger vorantreiben, profitieren u.a. autoritäre Regime der Golfmonarchien von neuen Energielieferketten. Gleichzeitig legen der Ukrainekrieg und die Reaktionen der EU zahlreiche Doppelstandards offen, die hinsichtlich völkerrechtswidriger Kriegshandlungen und Militärbesatzungen angelegt werden, die in arabischen Staaten seit Jahrzehnten zum Alltag gehören, wie z.B. in Libyen, Syrien, Irak, Jemen, Palästina, Westsahara oder auch in der ägyptischen Provinz Sinai.

Doppelstandards


Bezeichnend versprach sich der ehemalige Präsident der USA, George W. Bush, bei einer Rede im Mai 2022 im George W. Bush Center: Während er über den Ukrainekrieg und Russland redet, kritisiert er „die Entscheidung eines einzigen Mannes, eine völlig ungerechtfertigte und brutale Invasion des Irak zu starten“.1 Er korrigiert sich mit „der Ukraine“ und fügt hinzu „der Irak auch“. Das Publikum lacht bei diesem Eingeständnis eines Kriegsverbrechers. Dieser Lapsus stellt ein klares Beispiel von Doppelstandards der NATO-Staaten dar, die in Hinblick auf die Ukraine und die arabische Welt angelegt werden. Abgesehen von einem geständigen Kriegsverbrecher, der nun einen weiteren Kriegsverbrecher verurteilt, ist die mediale Aufmerksamkeit für den Ukrainekrieg weitaus größer, als z.B. für die Kriegshandlungen und Militärbesatzungen in den arabischen Staaten. Während die Bundesregierung Russlands kriegerischen Völkerrechtsbruch immer wieder verurteilt, bleibt sie hinsichtlich der völkerrechtswidrigen Drohnenangriffe und Besatzung des NATO-Mitgliedstaats Türkei in Nordsyrien und Nordirak erstaunlich ruhig. Es scheint fast so, als eröffne der Ukrainekrieg ein zeitliches Fenster, in dem niemand nach Kurdistan, sondern alle auf die Ukraine blicken und auf Putin zeigen – im Schatten des Ukrainekrieges kann sich die türkische Regierung mehr Bellizismus erlauben, denn für die NATO ist ihre Erweiterung und Aufrüstung am wichtigsten und dabei ist die Türkei ein ausschlaggebender Akteur.
Besonders klar schienen die Doppelstandards durch, als Bilder aus Kriegsregionen arabischer Länder in den sozialen Medien fälschlicherweise als Bilder aus der Ukraine ausgegeben wurden und plötzlich für mehr Empörung oder Sympathie sorgten. Bereits einen Tag nach der völkerrechtswidrigen Invasion durch Russland, trug Rayhan Uddin in einem Artikel von MiddleEastEye zahlreiche Beispiele von Bildern und Videos aus Syrien, Libyen, Libanon und Palästina zusammen, die laut Social Media Nutzerinnen aus der Ukraine stammten.2 So kursierte ein Video in den Sozialen Medien, das Luftaufnahmen einer Drohne zeigt, die u.a. Panzer anvisiert und angreift. Nutzerinnen sozialer Medien, u.a. auch der akkreditierte Journalist Aditya Raj Kaul, behaupteten, die Aufnahmen seien in der Nähe der Region Charkiw entstanden. Tatsächlich handelt es sich um syrische Regierungskonvois, die in der syrischen Provinz Idlib angegriffen wurden. Auch der offizielle Account der ukrainischen Landstreitkräfte teilte das gleiche Filmmaterial und behauptete, man veröffentliche das Video einer vermeintlichen Zerstörung russischen Militärgeräts. Bemerkenswert ist, dass Bilder aus Syrien tatsächlich auch russisches Militärgerät abbilden können, da Russland weiterhin militärisch in Syrien präsent ist. Bitter für viele Menschen aus Syrien ist die Tatsache, dass die russischen Bomben in Syrien für weniger Empörung sorgten, als die in der Ukraine. Ein Foto einer Bombenexplosion in Gaza wurde hingegen Kiew zugeordnet und Ahed Tamimi, eine palästinensiche Aktivistin, die sich als junges (blondes) Mädchen israelischen Soldaten in der völkerrechtswidrig besetzten Westbank entgegenstellt, feierten Nutzerinnen sozialer Medien als mutiges ukrainisches Mädchen, dass sich gegen die russische Besatzungsmacht stellt.3 Umgang mit Geflüchteten Die NATO-Staaten bzw. die EU-Staaten verurteilen nicht nur in unterschiedlicher Vehemenz völkerrechtswidrige Kriegshandlungen, sondern sie gestehen Kriegsgeflüchteten auch unterschiedliche Rechte zu. Noch in den Wochen vor Kriegsbeginn richteten die EU-Staaten ihre Aufmerksamkeit auf Belarus und beschuldigten den Präsidenten Lukaschenko, Migrantinnen als „Waffe“ einzusetzen. Tausende von Menschen u.a. aus den Kriegsländern Irak, Syrien, Afghanistan und Jemen harrten bei Minustemperaturen unter menschenunwürdigen Bedingungen im Waldgebiet an der polnischen Grenzen aus – Bedingungen, die immer wieder tödliche Folgen haben. Erst Mitte Januar 2023 wurden die Leichen von drei Menschen gefunden, die bei dem Versuch über Belarus nach Polen zu gelangen, starben.4 Einer von ihnen war der 24-jährige jemenitische Arzt Ibrahim Dihiya, der vor dem Jemenkrieg floh.5 Seit August 2021 konnten bisher 34 Todesfälle entlang der polnisch-belarussischen Grenzen dokumentiert werden, doch die tatsächliche Todeszahl dürfte weitaus höher liegen.6 Mit dem Krieg in der Ukraine öffnete die EU ihre Pforten für Menschen, die vor dem russischen Angriff flohen. Gleichzeitig errichteten EU-Staaten im Baltikum neue Mauern, um andere Kriegsgeflüchtete zu stoppen und die EU plant bis 2024 ganze 800 Millionen Euro in die Intensivierung der Zusammenarbeit mit nordafrikanischen Staaten im sogenannten „Kampf“ gegen illegalisierte Migration zu investieren7 – während der Krieg in der Ukraine die Lebensbedingungen in Nordafrika verschlimmert und den Hunger verschärft.
Rassismus im Umgang mit Geflüchteten ließ sich auch an den Grenzen des EU-Anwärters Ukraine finden – nach Beginn des Krieges durften Busse mit fliehenden Menschen die Ukraine verlassen. Eingeschränkt wurde die Flucht jedoch für Black and People of Colour (BPoC). Die Ukraine stellte zuvor eine beliebte und kostengünstige Option zum Studieren für Menschen aus zahlreichen Ländern dar – vor Kriegsausbruch hielten sich rund 76.000 ausländische Studierende in der Ukraine auf. Eine Studentin aus dem Kongo berichtet: „Es war ein Albtraum, ehrlich gesagt, die Polizisten waren überhaupt nicht nett zu den Ausländern, vor allem zu den Schwarzen […]. Sie beschimpften uns mit allen erdenklichen Namen, richteten Waffen auf uns, schubsten uns.“8 Die Diskriminierung geht in den Zufluchtsländern weiter – schutzsuchende Drittstaatsangehörige aus der Ukraine fallen z.B. in der BRD nicht in die Regelung der sogenannten Massenzustromrichtlinie und haben nicht die gleichen Rechte bzgl. Aufenthalt und Arbeitsmarktzugang wie ukrainische Staatsangehörige, obwohl sie vor den gleichen Bomben flohen. Sie riskieren die Abschiebung in ihre Heimatstaaten, wo sie u.a. politischer Verfolgung und Krieg ausgesetzt sein können.


Hunger und Inflation


Durch die ausbleibenden Weizenlieferungen aus der Ukraine nach Beginn des Krieges breitete sich in arabischen Staaten Hunger aus, besonders in Tunesien, Ägypten, Libanon und Jemen. Vor Kriegsausbruch importierte der Libanon rund 80 Prozent des Weizens aus Russland und der Ukraine. Die ausbleibenden Lieferungen führten im Libanon zu einer Lebensmittelinflation von 200 Prozent im Jahr 2021 und 300 Prozent im Jahr 2023. Der Krieg trieb Lebensmittelpreise hoch und trug dazu bei 80% der Bevölkerung in die Armut zu drängen. Doch auch wenn das Brot bezahlt werden konnte, das seinen Preis um ein sechsfaches steigerte: Es gab nicht genug. Schon vor dem Öffnen der Bäckereien bildeten sich in Beirut lange Schlangen, um überhaupt noch Brot erstehen zu können. Seit dem Finanzkollaps im Jahr 2019 beschränken die Banken im Libanon die monatlichen Abhebesummen auf rund 400$. Die große Misere und die Inflation zusätzlich zur Kontozugangsbeschränkung trieben im Herbst 2022 zahlreiche Menschen dazu an, Banküberfälle besonderer Art auszuführen. Am 14. September 2022 betrat Sally Hafiz ihre Bank mit einer falschen Pistole und forderte, 13.000$ von ihrem eigenen Konto zu erhalten, um die Chemotherapie ihrer krebskranken Schwester zu bezahlen. Unterstützung erhielt sie von der Gruppe Sarkhit Moudiin (Aufschrei der Kontoinhaberinnen).9 Allein im September und Oktober 2022 erfolgten 16 solcher Überfälle im Libanon. Auch ein Polizist forderte bei einem Überfall sein Geld, um es seinem Sohn zu schicken, der zu dem Zeitpunkt in der Ukraine studierte. Im Februar 2023 zündeten Demonstrierende mindestens sechs Banken im Libanon an und Ende Februar stürmte eine Gruppe libanesischer Polizisten eine Bank in Tyr und verlangte die Auszahlung ihrer ungezahlten Gehälter.10

Neue Energielieferketten – Profiteure und Verliererinnen


Gestärkt aus dem Krieg gehen Energieunternehmen und autokratische Regime in den Golfstaaten hervor. Die staatliche Abu Dhabi National Oil Company (ADNOC) aus den VAE liefert Flüssiggas und Diesel.11 Ab 2026 soll der katarische Energieriese Qatar Energy jährlich zwei Millionen Tonnen LNG an Deutschland liefern.12 Zur Erschließung neuer Energiequellen schloss die BRD auch mit Ägypten eine Absichtserklärung zu Flüssiggas und grünem Wasserstoff,13 trotz der Militärdiktatur in Ägypten, der miserablen Menschenrechtslage, der mehr als 60.000 politischen Gefangenen und der Involvierung Ägyptens in die Kriege in Jemen und Libyen. Auch die Zusammenarbeit mit nordafrikanischen Staaten hinsichtlich sogenannter erneuerbaren Energien steigt – durch den Krieg in der Ukraine erhielt der jahrzehntealte EUropäische Traum der Nutzung der Saharasonne für den europäischen Stromverbrauch laut dem tunesische Nachrichtenportal Inkyfada neuen Auftrieb. In Tunesien plant das tunesisch-britische Unternehmen TuNur den Bau des neuen größten thermodynamischen Solarkraftwerks der Welt. Der günstige Strom soll nach Italien, Frankreich und Malta exportiert werden und den Bedarf von 2 Mio. europäischen Haushalten decken. Es soll in ein zukünftiges Netz solarthermischer Kraftwerken in Nordafrika und Westasien eingegliedert werden, „um bis 2050 mehr als 15 % des europäischen Strombedarfs zu decken und so den europäischen Volkswirtschaften ein Wachstum ,im Gleichgewicht mit der Umwelt‘ zu ermöglichen.“14 Für die Bevölkerung vor Ort verspricht die kolonial anmutende Nutzung der durchaus bewohnten Wüste jedoch zahlreiche Nachteile: Die tunesische Regierung erklärte das zukünftige Baugebiet zur Militärzone und hindert Hirten der dort ansässigen Nomadengemeinschaften an der Nutzung des Landes. Erfahrungen mit der Solaranlage Solar Noor im marokkanischen Ouarzazate zeigen laut Inkyfada, dass der „grüne“ Strom den Anwohner*innen ihre wertvollste und existentiellste Ressource raubt: das bereits durch die Klimakrise immer knapper werdende Wasser, mit dem die Solarreflektoren gewaschen und abgekühlt werden.

Anmerkungen


1 Nadja Austel: George W. Bush gesteht versehentlich: Irakkrieg war „ungerechtfertigt“ und „brutal“, fr.de, 19.5.2022
2 Rayhan Uddin: Russia-Ukraine war: These videos of the invasion are actually from the Middle East, middleeasteye.net, 25.2.2022
3 Nur Ayoubi: ‚Ukrainian girl confronting a Russian soldier‘ is actually Palestine‘s Ahed Tamimi, middleeasteye.net, 28.2.2022
4 3 Migrant Bodies Found at Poland’s Border With Belarus, schengenvisainfo.com, 17.1.2023
5 Peggy Lohse: Grenze zu Belarus bleibt tödlich, nd-aktuell.de, 22.1.2023
6 Bogumila Hall: Death and solidarity in the ‘graveyard’ at the Belarus-Poland border, opendemocracy.net, 2.2.2023
7 Italy hands over patrol boat to Libyan government, infomigrants.net, 8.2.2023
8 Nissim Gasteli: Face à la guerre, l‘exode des Tunisien·nes d‘Ukraine, inkyfada.com, 3.3.2022
9 Dunja Ramadan: Ein Land feiert eine Bankräuberin, sueddeutsche.de, 15.9.2022
10 In Lebanon, police join ‚robbers‘, storm bank to get their own money, al-monitor.com, 28.2.2023
11 Deutschland bekommt Flüssiggas aus den VAE, dw.com, 25.9.2022
12 Katar liefert LNG an Deutschland, tagesschau.de, 29.11.2022
13 Energiekooperation mit Zukunft: Deutschland und Ägypten unterzeichnen Absichtserklärungen zu Flüssiggas und grünem Wasserstoff, kairo.diplo.de, 3.11.2022
14 Aïda Delpuech und Arianna Poletti: TuNur : les zones d‘ombre derrière l‘export du soleil tunisien vers l‘Europe, inkyfada.com, 11.11.2022

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