Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de

IMI-Analyse 2023/08 (Update 25.5.2023)

Der Ukraine-Krieg

Vorgeschichte – Verlauf – Interessen – Waffen!

Jürgen Wagner (22.02.2023)

Ohne Zweifel handelt es sich bei dem russischen Angriff auf die Ukraine um einen eklatanten Bruch des Völkerrechts. Russland trägt demzufolge einen Großteil der Schuld an der katastrophalen Situation. Ebenso deutlich wie dies immer wieder klargestellt werden muss, gilt es aber auch zu betonen, dass dieser Krieg auch eine Vorgeschichte hat, die von einer nicht vernachlässigbaren Mitverantwortung erzählt, die nicht bei Russland liegt, sondern bei der Politik des Westens. Und gerade weil diese Mitverantwortung hierzulande nahezu vollständig ausgeblendet wird, ist es zentral, sie ebenfalls zum Gegenstand der Kritik zu machen.

Doch auch seit Kriegsbeginn gießt der Westen immer weiter Öl ins Feuer: Vor allem seine Rolle beim Abbruch der Istanbul-Gespräche, bei denen die Ukraine und Russland Ende März 2022 kurz vor einer Verhandlungslösung standen, führte direkt zu der anschließenden Eskalation, die seither mit westlichen Waffen immer weiter befeuert wird. Inzwischen fällt in Sachen westlicher Waffenlieferungen auch und gerade in Deutschland nahezu jedes Tabu. Wenn parallel dazu Verhandlungen kategorisch abgelehnt werden bis völlig unrealistische Bedingungen erfüllt sind, dann läuft dies zwangsläufig auf einen lang andauernden, immer mehr Opfer fordernden Abnutzungskrieg hinaus – und genau hierauf scheint die westliche Strategie derzeit abzuzielen, um so eine maximale Schwächung Russlands zu erreichen. Inzwischen mehren sich aber die Stimmen, die eine grundlegende Kursänderung in Richtung Verhandlungen fordern. Es ist dringend notwendig, dass es in den nächsten Wochen und Monaten noch deutlich mehr werden.

Kollision mit Ansage

Viele der „Stationen“, die in den Krieg geführt haben, sind inzwischen bekannt und ausführlich an anderen Stellen beschrieben worden.[1] Aus diesem Grund folgt hier lediglich ein kursorischer Überblick, angefangen mit der „Ursünde“, dem inzwischen gut belegbaren Bruch der Zusagen, die der Sowjetunion bzw. Russland Anfang der 1990er Jahre gemacht worden waren. Damals sicherte nahezu jedes westliche Staatsoberhaupt zu, im Tausch für die NATO-Mitgliedschaft des wiedervereinigten Deutschlands werde es zu keiner weiteren  Osterweiterung des Militärbündnisses kommen – dass dies nur mündlich und nicht in Form eines juristisch sattelfesten Dokumentes erfolgte, tut hier für das in der Folge zerschlagene Porzellan kaum etwas zur Sache. Es folgten die erste NATO-Osterweiterung (1999) sowie die – ebenfalls eklatant völkerrechtswidrigen – Angriffskriege der NATO gegen Jugoslawien (1999) und der US-geführten Koalition gegen den Irak (2003). Von russischer Seite stets als „rote Linie“ wurde die zweite NATO-Osterweiterung (2004) bezeichnet, da sie mit den baltischen Staaten auch ehemalige Gliedstaaten der Sowjetunion mit einschloss. Besonders fatal wirkte sich dann die Entscheidung im April 2008 aus, der Ukraine und Georgien eine Beitrittsperspektive in die NATO zu eröffnen. Dies geschah im vollen Wissen, dass eine solche NATO-Mitgliedschaft von Moskau als existenzielle Bedrohung eingestuft wurde.[2]

Einen ersten Höhepunkt erreichten die Auseinandersetzungen im Georgien-Krieg (August 2008), als georgische Truppen mit US-Unterstützung die abtrünnigen Provinzen Südossetien und Abchasien wiedereingliedern wollten. Russland regierte hierauf mit einem massiven Militäreinsatz, der den Status quo wieder herstellte. Besonders die Ukraine entwickelte sich in der Folge dann aber zum zentralen Schauplatz der immer erbitterter geführten Auseinandersetzungen zwischen Russland und dem Westen. Auslöser der nächsten Eskalation waren die Konflikte um die Unterzeichnung eines Assoziationsabkommens zwischen der Ukraine und der Europäischen Union. Weil das Abkommen auf die (periphere) Eingliederung des Landes in die westliche Einflusssphäre abzielte, wurde hierum heftig gestritten. Nachdem der gewählte ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch im November 2013 die Verhandlungen um das Abkommen auf Eis legte, begannen die sogenannten Maidan-Proteste. Ursprünglich durchaus zumindest in Teilen mit nachvollziehbaren Motiven begonnen (zum Beispiel gegen korrupte lokale Eliten), wurden die Proteste schnell von einem Bündnis aus pro-westlichen und faschistischen Akteuren übernommen und mündeten schließlich im Februar 2014 in den Sturz von Janukowitsch, der unter Gewaltandrohung aus dem Land floh. Es bildete sich eine dezidiert pro-westliche Übergangsregierung, die unter anderem die schnellstmögliche NATO-Mitgliedschaft anstrebte und den Pachtvertrag mit der russischen Schwarzmeerflotte auf der Krim kündigen wollte. Weil die Übergangsregierung das erforderliche Quorum im Parlament nicht erreicht hatte, wurde der ganze Vorgang in Russland als Putsch bewertet und mit der Unterstützung pro-russischer Kräfte in der Ostukraine sowie der Absicherung des Referendums auf der Krim beantwortet, die kurz darauf eingegliedert wurde.

Der anschließende Krieg in der Ostukraine endete vorläufig in dem von der Ukraine, Russland, Frankreich und Deutschland ausgehandelten Minsker Abkommen vom 12. Februar 2015. Es sah neben einem sofortigen Waffenstillstand unter anderem den Rückzug schwerer Waffen, einen Autonomiestatus für die Volksrepubliken Donezk und Lugansk sowie Wahlen und den Abzug aller ausländischen bewaffneten Einheiten vor. Die Umsetzung des Minsker Abkommens scheiterte in den Folgejahren an der vom Westen zumindest geduldeten Weigerung der ukrainischen Regierung, seine Kernbestandteile umzusetzen. Unterdessen wurde die Ukraine mit westlichen Waffen aufgerüstet, die NATO-Militärpräsenz an Russlands Grenzen ausgebaut und Vorbereitungen für die Stationierung von Mittelstreckenraketen, insbesondere Hyperschallwaffen („Dark Eagle“) nahe Russland aufgenommen, was von Moskau in aller Deutlichkeit als ernste Bedrohung seiner Sicherheit kritisiert wurde.[3]

Trotz des Minsker-Abkommens endeten die Kämpfe in der Ostukraine nie vollständig und bis Februar 2022 fielen ihnen nach Schätzungen der Vereinten Nationen insgesamt etwa 14.000 Menschen zum Opfer.[4] Die Lage spitzte sich weiter zu, nachdem der ukrainische Präsident Dekret Nr. 117 vom 24. März 2021 unterzeichnet hatte, mit dem faktisch eine Rückeroberung der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk sowie der Krim anvisiert wurde.[5] Russland wiederum begann, massiv Truppen zusammenzuziehen und übermittelte im Dezember 2021 einen Forderungskatalog, der vom Westen verlangte, keine NATO-Erweiterungen mehr durchzuführen, die militärische Infrastruktur auf den Stand von 1997 (dem Abschluss der NATO-Russland-Akte) zurückzufahren und von der Stationierung von Angriffswaffensystemen in russischer Grenznähe abzusehen. Obwohl Moskau deutlich mit militärischen Konsequenzen drohte, existierte auf westlicher Seite keinerlei ernsthafte Bereitschaft, über einen oder gar mehrere dieser Punkte zu verhandeln. Es folgte am 21. Februar 2022 die Rede Putins zur Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk und am 24. Februar 2022 begann der russische Angriff auf die Ukraine.

Diese „kurze“ Auflistung an westlichen Schritten, die mit zu dieser Katastrophe beigetragen haben, beansprucht keineswegs auch nur ansatzweise Anspruch auf Vollständigkeit – sie sollte aber zeigen, dass auch hier ein Teil der Verantwortung für diesen Krieg zu suchen ist. Und auch wenn sich hierdurch das durch den russischen Angriff verursachte Leid in keiner Weise entschuldigen lässt, so muss der Westen sich die Frage gefallen lassen, ob er nicht mit seiner Politik massiv zu dem abgrundtiefen Misstrauen beigetragen hat, das schließlich mitentscheidend für die russische Kriegsentscheidung gewesen sein dürfte. Die Verbitterung jedenfalls, mit der Wladimir Putin in seiner Rede zur Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk über den Westen sprach, hätte zum Nachdenken zwingen sollen, ja müssen: „Nachdem die USA den INF-Vertrag gekündigt haben, hat das Pentagon offen zahlreiche landgestützte Angriffswaffen entwickelt, darunter ballistische Raketen, die Ziele in einer Entfernung von bis zu 5.500 km treffen können. Wenn solche Systeme in der Ukraine stationiert werden, können sie Ziele im gesamten europäischen Teil Russlands erreichen. Die Flugzeit von Tomahawk-Marschflugkörpern nach Moskau wird weniger als 35 Minuten betragen; ballistische Raketen aus Charkow benötigen sieben bis acht Minuten und Hyperschall-Angriffswaffen vier bis fünf Minuten. Das ist wie ein Messer an der Kehle. Ich habe keinen Zweifel daran, dass sie hoffen, diese Pläne zu verwirklichen, wie sie es in der Vergangenheit schon oft getan haben, indem sie die Nato nach Osten ausdehnten, ihre militärische Infrastruktur an die russischen Grenzen verlegten und unsere Bedenken, Proteste und Warnungen völlig ignorierten. Verzeihen Sie mir das so zu sagen, aber sie haben sich einfach nicht für derlei Belange interessiert und getan, was sie für notwendig hielten.“[6]

Augenscheinlich sah und sieht sich Russland angesichts dieser Entwicklungen fundamental bedroht – man muss diese Einschätzungen im Übrigen überhaupt nicht teilen und hätte den russischen Bedenken dennoch entgegenkommen können, Möglichkeiten gab es hierzu sowohl vor als auch nach dem Kriegsausbruch mehr als genug.

Torpedo gegen die Istanbul-Verhandlungen

Immer wieder ist zu hören, Moskau (oder meist „Putin“) sei nicht zu Verhandlungen bereit, man könne sich also jeden Versuch in diese Richtung schenken. Dies ist zumindest für die Frühphase des Krieges definitiv falsch, schließlich handelten russische und ukrainische Vertreter*innen ein Dokument aus, das Ende März 2022 unterschriftsreif vorgelegen hatte. Kernpunkte dieser Istanbul-Verhandlungen waren ein sofortiger Waffenstillstand, die Neutralität der Ukraine (mit Garantiestaaten) sowie die Ausklammerung der offenen Fragen um Teile des Donbas sowie der Krim, verbunden mit der Vereinbarung eine nicht-militärische Lösung innerhalb der nächsten 15 Jahre anzustreben.[7]

Damit war ein Weg aus diesem Krieg vorhanden, was dann im Detail geschah, ist bis heute unklar. Mit Sicherheit lässt sich aber sagen, dass der Westen der ukrainischen Regierung unmissverständlich nahelegte, diese Verhandlungslösung abzulehnen – verknüpft mit Zusagen für Waffenlieferungen, um den Kampf gegen Russland „erfolgreich“ fortsetzen zu können. Schon am 5. April 2022 berichtete die Washington Post, diverse NATO-Staaten würden eine Fortsetzung der Kampfhandlungen befürworten: „Das führt zu einer unangenehmen Realität: Einige in der NATO halten es für besser, wenn die Ukrainer weiter kämpfen und sterben, als dass ein Friede herauskommt, der zu früh und mit zu hohen Kosten für Kiew und den Rest Europas verbunden ist.“[8]

Eine entscheidende Rolle spielte dabei wohl der damalige britische Premier Boris Johnson, auch wenn mit Sicherheit anzunehmen ist, dass er nicht ohne Rückendeckung aus Washington agierte. Er soll laut Guardian Anfang April 2022 zu einem Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Selenski gefahren sein und von ihm verlangt haben, „keine Zugeständnisse an Putin zu machen“.[9] Auch der ehemalige Bundeswehr-Generalinspekteur und Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, Harald Kujat, bestätigt dies: „Russland hatte sich in den Istanbul-Verhandlungen offensichtlich dazu bereit erklärt, seine Streitkräfte auf den Stand vom 23. Februar zurückzuziehen, also vor Beginn des Angriffs auf die Ukraine. […] Nach zuverlässigen Informationen hat der damalige britische Premierminister Boris Johnson am 9. April in Kiew interveniert und eine Unterzeichnung verhindert. Seine Begründung war, der Westen sei für ein Kriegsende nicht bereit.“[10]

Diese Angaben werden inzwischen auch durch Aussagen des damaligen israelischen Premiers Naftali Bennett betätigt, der im Februar 2023 folgendermaßen zitiert wurde: „Ein Waffenstillstand sei damals, so Bennett, in greifbarer Nähe gewesen, beide Seiten waren zu erheblichen Zugeständnissen bereit. Doch vor allem Großbritannien und die USA hätten den Prozess beendet und auf eine Fortsetzung des Krieges gesetzt. […] Auf die Frage, ob die westlichen Verbündeten die Initiative letztlich blockiert hätten, antwortete Bennett: ‚Im Grunde genommen, ja. Sie haben es blockiert, und ich dachte, sie hätten unrecht.‘ Sein Fazit: ‚Ich behaupte, dass es eine gute Chance auf einen Waffenstillstand gab, wenn sie ihn nicht verhindert hätten.‘“[11]

Waffen – Waffen – Waffen!

Sicher spielen Aspekte wie die Sanktionen und anderes ebenfalls eine wichtige Rolle, entscheidend ist und bleibt jedoch die Frage der westlichen Waffenlieferungen. Dabei sind die USA weiterhin der zentrale Akteur, die laut Pentagon-Angaben bis Anfang Mai 2023 Waffen im Wert von rund 36 Mrd. Dollar an die Ukraine geliefert haben. In der EU ist Deutschland Spitzenreiter: 2022 wurden 2 Mrd. Euro ausgegeben, für dieses Jahr waren ursprünglich weitere 2,2 Mrd. Euro vorgesehen, die allerdings bereits Ende März auf 5,4 Mrd. Euro erhöht wurden. Für die kommenden Jahre wurden weitere 8,8 Mrd. Euro an „Verpflichtungsermächtigungen“ ausgelobt. Bezahlt werden die deutschen Waffenlieferungen nicht aus dem Verteidigungshaushalt, sondern aus dem Allgemeinen Haushalt. Außerdem gibt es ein EU-Budget für Waffenlieferungen, in das Deutschland 25 Prozent einzahlt. Der Name dieses Budgets ist mehr als zynisch: „Europäische Friedensfazilität“. Bis Mai 2023 wurden über die Friedensfazilität 5,6 Mrd. Euro für Waffen an die Ukraine und Munitionsnachkäufe beschlossen.

Doch nicht nur die Beträge, auch die Feuerkraft der gelieferten Waffen nimmt ständig zu – man kann förmlich zusehen, wie die Eskalationsleiter immer weiter hochgeklettert wird: Erst waren es Helme, dann Panzerhaubitzen, dann Flakpanzer (Gepard), anschließend Schützenpanzer (Marder) und Ende Januar 2023 wurde dann auch noch grünes Licht für die Lieferung von Leopard-2-Kampfpanzern gegeben. Und kaum ist eine rote Linie überschritten, wird gleich die nächste ins Visier genommen, wenn nun etwa zum Beispiel von Christoph Heusgen, dem Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, auch die Lieferung von Kampfflugzeugen gefordert wird.[12]

Selbst ein gestandener Hardliner wie Markus Kaim von der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ kritisierte unlängst, die „Politik“ drohe jedes „Maß und Mitte zu verlieren“, sie laufe Gefahr zur „Getriebenen“ derjenigen zu werden, die am lautesten nach immer mehr Waffen schreien würden: „Die Ukraine solle das erhalten, was für das Selbstverteidigungsrecht wichtig sei. Angesichts dieser dürftigen Begründung für deutsche Waffenlieferungen stockt einem fast der Atem: Mit einem derartigen Freibrief ließe sich auch die Lieferung taktischer Nuklearwaffen an die ukrainischen Streitkräfte rechtfertigen.“[13]

Raus aus der Eskalationslogik!

Eine ganze Reihe von Gründen spricht gegen die Waffenlieferung, am prominentesten wird dabei auch aus Ecken, die der Friedensbewegung gänzlich fern stehen, die Gefahr einer Eskalation hin zu einem westlich-russischen Krieg benannt. Seit Mai 2022 werden in Deutschland ukrainische Soldaten für die Panzerhaubitzen 2000 ausgebildet, seit Ende Januar 2023 wird hierzulande an den Marder-Schützenpanzern trainiert, einen Monat später folgte die Ausbildung den Leopard-2-Kampfpanzern. Das ist brandgefährlich: Erinnert sei hier nur an das im Mai 2022 erschienene Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages „Rechtsfragen der militärischen Unterstützung der Ukraine durch NATO-Staaten zwischen Neutralität und Konfliktteilnahme“. Das Gutachten kam zu dem Ergebnis, die Lieferung von Kriegsgerät sei noch nicht als Kriegsbeteiligung zu werten, die Ausbildung ukrainischer Soldaten an diesen Geräten hingegen schon.[14]

Das ist aber nur ein Grund gegen diese Waffenlieferungen. Mindestens ebenso wichtig ist die Frage, was mit ihnen bezweckt werden soll: Wie gesagt, Ende März 2022 standen die Ukraine und Russland kurz vor einer Verhandlungslösung, die dann aber vom Westen torpediert wurde. Und es war genau zu diesem Zeitpunkt, als Umfang und Feuerkraft der westlichen Waffenlieferungen enorm zunahmen. Das war nichts anderes als die klare Botschaft an die Adresse der Ukraine, den Krieg fortzusetzen. Doch mit welchem Ziel? Oft ist zu hören, die Ukraine müsse den Krieg gewinnen – aber was heißt das und vor allem: ist das realistisch?

Das ist nicht der Fall, zumindest wenn man jemandem Glauben schenkt, der es wissen sollte: US-Generalstabschef Mark Milley. Er schaltete sich bereits im November 2022 mit dem Argument in die Debatte ein, die Ukraine habe mit dem russischen Rückzug aus Cherson das Maximum des Möglichen erreicht, ein Sieg über Russland auf dem Schlachtfeld sei unmöglich, es sei deshalb nun wichtig, sofortige Verhandlungen aufzunehmen.[15] Stattdessen werden nun also (nicht nur) deutsche Kampfpanzer geliefert, deren einziger Zweck darin besteht, eine ukrainische Offensive zu unterstützen, die nach Meinung von immer mehr Expert*innen keine Entscheidung auf dem Schlachtfeld wird herbeiführen können.

Gleichzeitig werden Verhandlungen weiter nahezu kategorisch abgelehnt – wenn aber Waffen im vollen Wissen geliefert werden, dass sie nur zu einem Abnutzungskrieg und weiteren Todesopfern führen, dann ist wohl genau das das zynische Ziel des Unterfangens. Ungeschminkt beschreibt einer der renommiertesten US-Politikwissenschaftler, John Mearsheimer, dieses Kalkül mit folgenden Worten: „Wir haben beschlossen, dass wir Russland in der Ukraine besiegen werden. […] Man könnte argumentieren, dass der Westen, insbesondere die Vereinigten Staaten, bereit sind, diesen Krieg bis zum letzten Ukrainer zu führen. Und das Endergebnis ist dann, dass die Ukraine tatsächlich als Land zerstört wird. […] Tatsache ist, dass die Vereinigten Staaten den Ukrainern nicht erlauben werden, einen Deal abzuschließen, den die Vereinigten Staaten für inakzeptabel halten.“[16]

In den USA mehren sich die Stimmen, die Verhandlungen fordern und auch die nicht enden wollenden westlichen Waffenlieferungen in Frage stellen. Es steht zu hoffen, dass auch hierzulande immer mehr Menschen die Sackgasse erkennen, in die hier derzeit mit Höchstgeschwindigkeit gefahren wird.

Anmerkungen


[1] Siehe zum folgenden ausführlich mit Quellen bspws. Wagner, Jürgen: Der NATO-Prolog des Ukraine-Krieges, IMI-Analyse 2022/06.

[2] Wie sich bspws. anhand von bei Wikileaks veröffentlichten Depeschen des damaligen US-Botschafters in Russland, William Burns, nachweisen lässt. Siehe Scheben, Helmut: Ukraine: Der Russe ist an allem schuld, infosperber.ch, 08.09.2014.

[3] Die russischen Sorge vor US-Mittelstreckenraketen ist bis heute sicher eine der zu wenig beachteten Triebkräfte im Hintergrund der gesamten Konfliktkonstellation. Siehe z.B. Wernicke, Jens: Dark Eagle – ein Déjà-vu mit Pershing-2, Redebeitrag zum Friedensratschlag in Kassel, 10.12.2022.

[4] Conflict-related civilian casualties in Ukraine, UNHCR, 27.01.2022.

[5] Nato und Ukraine: „Wir bleiben wachsam“, Berliner Zeitung, 06.04.2021.

[6] Putins Ukraine-Rede im Wortlaut, Spiegel Online, 23.02.2022.

[7] Waffenstillstand und Frieden für die Ukraine, IPPNW, 15.11.2022.

[8] Birnbaum, Michael, Ryan, Miss: NATO says Ukraine to decide on peace deal with Russia — within limits, Washington Post, 05.04.2022.

[9] Siehe IPPNW, 15.11.2022.

[10] Ukrainekonflikt: «Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, die abgebrochenen Verhandlungen wieder aufzunehmen» Interview mit General a. D. Harald Kujat, zeitgeschehen-im-fokus.ch, 18.01.2023.

[11] Scheidler, Fabian: Naftali Bennett wollte den Frieden zwischen Ukraine und Russland: Wer hat blockiert? Berliner Zeitung, 06.02.2023.

[12] Heusgen befürwortet Lieferung von Kampfjets an die Ukraine, Deutschlandfunk, 29.01.2023.

[13] Kaim, Markus: Warum nicht gleich Nuklearwaffen? Spiegel Online, 19.01.2023.

[14] Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages: Rechtsfragen der militärischen Unterstützung der Ukraine durch NATO-Staaten zwischen Neutralität und Konfliktteilnahme, Sachstand, 16.03.2022.

[15] Baker, Peter: Top U.S. General Urges Diplomacy in Ukraine While Biden Advisers Resist, New York Times, 10.11.2022.

[16] Kolenda, Klaus-Dieter: „… im Grunde ein Krieg zwischen den USA und Russland“, Telepolis, 26.04.2022; siehe auch ganz ähnlich die Aussagen von Ex-Bundeswehr-Generalinspekteur Harald Kujat: „Die Ukraine kämpft um ihre Freiheit, um ihre Souveränität und um die territoriale Integrität des Landes. Aber die beiden Hauptakteure in diesem Krieg sind Russland und die USA. Die Ukraine kämpft auch für die geopolitischen Interessen der USA. Denn deren erklärtes Ziel ist es, Russland politisch, wirtschaftlich und militärisch so weit zu schwächen, dass sie sich dem geopolitischen Rivalen zuwenden können, der als einziger in der Lage ist, ihre Vormachtstellung als Weltmacht zu gefährden: China.“ (Interview mit General a. D. Harald Kujat, zeitgeschehen-im-fokus.ch, 18.01.2023)

------------

Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de