Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de

IMI-Analyse 2022/62 - in: Ausdruck Dezember 2022

Krieg und Ökologie in Rojava

Make Rojava Green Again (14.12.2022)

Die Revolution von Rojava


Die Themen Krieg und Umwelt sind an keinem Ort der Welt unabhängig voneinander zu betrachten. Insbesondere in Regionen, die über Jahrzehnte hinweg direkt von Kriegen geprägt sind, ist die ökologische Situation verheerend. Die autonome Region Nord- und Ostsyrien ist ein Beispiel dafür. Syrien befindet sich in einem seit 2011 andauernden Krieg. Nur ein Jahr nach Kriegsbeginn konnte die Bevölkerung im Nordosten des Landes mithilfe der Erfahrung der kurdischen Freiheitsbewegung eigene Selbstverteidigungseinheiten und eine autonome Selbstverwaltung aufbauen. Diese Region wird als „Rojava“ bezeichnet (kurdisch für „Westen“, da dies der westliche Teil Kurdistans ist).
Die Revolution von Rojava ist inspiriert und beeinflusst vom Paradigma der kurdischen Freiheitsbewegung, welche sich auf die drei Säulen Ökologie, Frauenbefreiung und direkte Demokratie stützt. Das Paradigma bietet nicht nur Lösungen in explizit gesellschaftlichen oder politischen Fragen für den Mittleren Osten, sondern auch für ökologische Fragen auf globaler Ebene. Auch aus diesem Grund steht die Autonomie-Region wortwörtlich unter ständigem Beschuss der umliegenden Staaten sowie der imperialen Kriegsmächte, da die dargelegten Lösungsansätze ein Ende des Krieges und somit ein Ende des Profits dieser Mächte bedeuten würden.
Insbesondere der türkische Staat hat mehr als nur ein Interesse, die Revolution im Keim zu ersticken. So führt das Erdoğan-Regime einen ununterbrochenen Krieg auf mehreren Ebenen gegen die Menschen, die dort tagtäglich für den Neuaufbau ihrer Heimat kämpfen. Von direktem Artilleriebeschuss über die Grenze bis hin zu wöchentlichen Drohnenangriffen, bei welchen schon dutzende Menschen ermordet wurden. Außerdem greift der türkische Staat immer wieder auf eine Kriegsführung zurück, die auf die Zerstörung der Umwelt und der natürlichen Ressourcen abzielt – mit dem Zweck, das Land auszutrocknen und die Menschen und Tiere verhungern zu lassen.

Wasser als Waffe

Die möglicherweise größte Waffe in der Hand des türkischen Regimes ist das Wasser des Euphrats, des Tigris und des Chabur-Flusses, welche auf türkischem Staatsgebiet entspringen und zuvor Millionen von Menschen im Norden Syriens und Iraks mit sauberem Trinkwasser versorgten. Mit dem Bau von 22 Staudämmen im Rahmen des „Southeastern Anatolia Project (GAP)“i wird der Durchfluss des Wassers nach Syrien und in den Irak schwer vermindert.[2]
So herrscht nicht nur enorme Knappheit an Trinkwasser, es ist vor allem auch ein schwerer Schlag für die Agrikultur im Norden Syriens. Der Großteil der nordsyrischen Ökonomie lebt von der Landwirtschaft. Aufgrund des Wassermangels vertrocknen die Felder und die Ernte bleibt aus. Ein weiterer großer Teil der Bevölkerung lebt von der Viehzucht. Durch die rapide Desertifikation bleibt auch die Nahrung der unzähligen Schafherden aus. Traditionelle Tätigkeiten können immer weniger ausgeübt werden.
Das Wasser als Waffe greift auf humanitärer Ebene an. In den vergangenen Monaten sind die Entwicklungen der Region in Bezug auf die Wassersituation besonders akut. Durch verminderte Hygiene-Möglichkeiten verbreiten sich Krankheiten insbesondere über unreines, abgestandenes Wasser. So werden erst seit wenigen Monaten immer mehr Fälle von Cholera identifiziert.[3]
Es gibt verschiedene Ansätze und nicht-militärischen Widerstand gegen diese Wasserpolitik. Ende 2021 fand etwa ein Wasserforum in Hesekê statt, wobei Lösungsschritte und Strategien entwickelt wurden.[4]

Abholzung und Chemiewaffen

Der Krieg gegen Mensch und Natur im Nordosten Syriens hat viele Facetten. In den vom türkischen Staat und von durch die Türkei unterstützten islamistischen Gruppierungen besetzten Gebieten ist dies ganz besonders ersichtlich. Dort wurde der Natur regelrecht der Krieg angesagt. Im seit 2018 besetzten Afrin werden mehrere tausend Bäume abgeholzt und auf dem Markt verkauft oder einfach verbrannt.[5] Die Region Afrin ist bekannt für ihre olivenbaumreiche Landschaft und war bis zur Besatzung die grünste Region im Norden Syriens. Die Bevölkerung Afrins identifiziert sich hauptsächlich über diese natürliche Ressource. Die Menschen aus Afrin, die wir kennengelernt haben, haben eine ganz besondere emotionale Bindung zu ihren Olivenbaumfeldern. So ist die Baumrodung nicht nur ein ökologischer und ökonomischer, sondern auch ein kultureller Angriff auf die Menschen der Region. Die Abholzung von Seiten des türkischen Regimes begrenzt sich jedoch nicht nur auf den westlichen Teil Kurdistans (Nordsyrien), sondern nimmt auch in Nordkurdistan (Südosttürkei) immense Ausmaße an.[6]

Der grausamste Aspekt der türkischen Kriegsführung ist jedoch der Einsatz von Chemiewaffen. So wurden 2019 z.B. Phosphorbomben bei der Invasion in Serê Kaniyê eingesetzt.[7] Es gibt starke Indikationen, dass die türkische Armee seit April dieses Jahres in den Bergen Südkurdistans (Nordirak) verbotene Chemiewaffen wie z.B. Chlorpikrin und Pfefferspray gegen die kurdische Guerilla einsetzt.[8] Allein in den sechs Monaten von April bis Oktober 2022 wurden nach Angaben der Volksverteidigungskräfte (HPG) mindestens 2004-mal international verbotene Bomben und chemische Waffen von Seiten der türkischen Armee eingesetzt.[9] Dies führt nicht nur zum Tod von kurdischen KämpferInnen und ZivilistInnen, sondern hat langfristig desaströse Folgen für die Umwelt, deren Ausmaß derzeit noch gar nicht abgeschätzt werden kann.

Kolonialismus


Wenn über den Zusammenhang von Umweltzerstörung und Krieg gesprochen wird, so wird eine Thematik häufig außen vorgelassen oder nur oberflächlich angekratzt: Das Problem des Kolonialismus. Es ist nicht nur direkt mit Krieg und Umwelt verbunden, sondern bildet auch das Fundament der ganzen Problematik. Allgemein bekannt ist, dass die Umweltzerstörung in ihrem ganzen Ausmaß im Globalen Süden zum Vorschein kommt. Der Globale Süden ist sowohl ökonomisch als auch ökologisch eine Kolonie des Globalen Nordens. Insbesondere im Zeitalter des Plastiks wurden die Länder des Südens zur Müllhalde der Welt ernannt. Es sind auch vor allem die Länder des Globalen Südens, in welchen die Imperialmächte ihre Kriege physisch ausführen. So werden sowohl Luft, Wasser und Erde durch Munition, explosive Stoffe und Gase verschmutzt als auch die Natur langzeitig vergiftet.
Krieg und Kolonialismus sind jedoch nicht nur als klassisch militärische Auseinandersetzungen zu verstehen. Eine Form des Kolonialismus ist die systematische Ausbeutung von Mensch und Natur. Dieses Phänomen gehört nicht der Vergangenheit an, sondern ist heute so präsent wie zu Kolumbus’ Zeiten. Es ist ein verschleierter Krieg, den die westlichen Staaten des Nordens vor unseren Augen gegen den Globalen Süden führen. Insbesondere indigene Völker wie das kurdische Volk oder die verschiedenen Ethnien Zentral- und Südamerikas haben seit tausenden von Jahren im Einklang mit der Natur gelebt. Es sind diese Volksgruppen, die die Sprache der Natur sprechen und sie seit hunderten von Jahren vor Angriffen der Gierigen schützen. Die Ausbeutung des Südens ist insbesondere in der kapitalistischen Moderne für die Menschen des Globalen Nordens unabdingbar, solange sie ihren Lebensstandard nicht radikal verändern wollen. Die globale Klimakrise ist im Grunde ein Problem des Kolonialismus, denn die Ausbeutung findet statt, um die sogenannte „Entwicklung“ des Nordens und seinen Wohlstand zu sichern. Kurz gesagt: Die globale Umweltzerstörung ist eine Konsequenz der Logik der kapitalistischen Staaten mit ihrer kolonialen Natur, die durch verschiedene Kriegstaktiken an ihr Ziel gelangen wollen. Die Taktiken dieses Krieges sind teilweise sehr offensichtlich, teilweise grün gewaschen und unterschwellig.

Jedoch können wir insbesondere in Kurdistan, welches als eine Kolonie der vier Besatzerstaaten Iran, Irak, Türkei und Syrien bezeichnet werden kann, eine Kolonialpolitik erkennen, die nicht nur von fernen Kräften, sondern direkt von den Regimen vor Ort kommt. So ist die Landschaft Nordsyriens ein herausragendes Beispiel für den Umgang des syrischen Regimes mit der eigenen kurdischen Gesellschaft. Über Jahrzehnte hinweg war es der Bevölkerung Nordsyriens, welche überwiegend kurdisch ist, dennoch auch aus AraberInnen, ArmenierInnen, TurkmenInnen, TscherkessInnen und AssyrerInnen besteht, verboten nach eigenem Ermessen und Bedürfnis Gemüsegärten anzulegen oder Bäume zu pflanzen. Das Regime nutzte die Region als Kornkammer Syriens und setzte das Land in dieser Region einer Monokultur aus, die die Qualität des Bodens stark gesenkt hat. Ein weitaus unterschätzter Effekt dieser Politik ist die Entfremdung der Menschen von einer vielfältigen Agrikultur und der Kultur des Bäumepflanzens. Auch hat das syrische Regime niemals eine Abfallstrategie implementiert, was mit der ständigen Zunahme von Plastikabfall heute zu großen Problemen führt, da die Gesellschaft jahrelang gelernt hat, Abfall in der Gegend liegen zu lassen.
Die verschiedenen Politiken der umliegenden und der imperialen Staaten führen zu immensen Schwierigkeiten in der ökologischen Frage für die Region. Auch machen sich die Auswirkungen des Klimawandels immer mehr bemerkbar. Insbesondere die letzten Jahre sind von extremer Sommerhitze und ungewöhnlich wenig Niederschlag geprägt. Dies hat eine verstärkende Wirkung auf die ohnehin schon verheerende Kriegspolitik des türkischen Staates gegenüber der Natur Kurdistans.

Die Kampagne „Make Rojava Green Again“

Seit Beginn der Revolution von Rojava und der Abwesenheit des syrischen Regimes bemühen sich die Menschen vor Ort, Lösungen für oben genannte Probleme zu finden. Sowohl lokale Initiativen und NGOs als auch die Autonome Selbstverwaltung machen Anstrengungen, um die ökologische Situation zu verbessern und Projekte in dieser Sache voranzutreiben. So haben auch wir, als Kampagne „Make Rojava Green Again“ im Jahr 2018 mit unseren Arbeiten in Rojava begonnen. Mit dem Bau der Internationalistischen Jugendkommune[10] haben wir uns einen Ort geschaffen, an dem wir uns mit den Gegebenheiten der Region auseinandersetzen können. Neben den gepflanzten Bäumen und dem Garten bietet die Kommune einen Platz, um mit verschiedenen AkteurInnen und ExpertInnen, ob aus dem Mittleren Osten oder aus anderen Teilen der Welt, zusammenzukommen und praktische Lösungen bezüglich der ökologischen Krise in einem anti-kapitalistischen Rahmen zu finden. Über den Aufbau der Kommune haben wir auch unser Buch geschrieben, welches erst die ideologische Grundlage unserer Arbeiten beschreibt und dann konkret auf die Probleme in der Region eingeht.[11]
Aufgrund des Sicherheitsrisikos während der Militäroperation gegen Afrin 2018 und während der Invasion der Region Serê Kaniyê 2019 konnten wir unsere Arbeit nur schwer fortsetzen. Auch jetzt droht Erdoğan erneut mit einer Militäroffensive. Jedoch hat der Krieg in niedrigerer Intensität nie aufgehört. Zwangsläufig ist ein Großteil unserer Arbeit mit der Thematik der kriegsbedingten Umweltzerstörung und ihren humanitären Folgen verknüpft. Trotz der Umstände sind uns einige Projekte gut gelungen. So zum Beispiel das Reservat in Hayaka, oder die Säuberungs- und Begrünungsaktion des Flussbettes in der Stadt Dêrik.
In den letzten Jahren, nach dem Krieg gegen den IS, ist in der Bevölkerung mehr Engagement entstanden. Daher wollen wir künftig vermehrt von Gesellschaftsinitiativen getragene lokale Projekte unterstützen. Außerdem fokussieren wir uns darauf, eine Schlüsselstelle zwischen den Gruppierungen vor Ort und der internationalen Community zu bilden. Wir wollen uns mehr mit anderen ökologischen, antikolonialen Kämpfen verbinden, denn wir sind überzeugt, dass die Ansätze und Bewegungen, die zum Frieden führen, in den Krisengebieten entstehen müssen, und nicht von den Zentren der Profiteure kommen können. Was wir in Rojava wie auch in den Bergen Kurdistans finden, ist ein unglaubliches Potenzial, ein gesellschaftlicher Kampf, der den Ursachen auf den Grund geht.

Anmerkungen

[1] Arda Bilgen: Demystifying the (post-)politics of Southeastern Anatolia Project (GAP), 20.7.2017 bonndoc.ulb.uni-bonn.de

[2] Ali Kucukgocmen: Turkey starts filling huge Tigris river dam activists say, 2.8.2019 reuters.com, Hayder Al-Khafaji: Turkey’s dangerous dam project will result in another water war, 26.8.2019 bayancenter.org, Wim Zwijnenburg: Killing the Khabur: How Turkish-backed armed groups blocked northeast Syria’s water lifeline, 3.11.2021 paxforpeace.nl

[3] Northeast Syria Cholera Outbreak Brief, 21.9.2022 reliefweb.int

[4] Water for Rojava, A report from the international water forum held in Hasakah, 30.11.2021 savethetigris.org

[5] Lyse Mauvais: Crimes against nature: Forest clearing around Afrin’s Maydanki Lake sparks anger and shock, 2.9.2022 syriadirect.org

[6] Turkey: Şırnak loses 7 pct of forest cover in seven months, 14.7.2022 medyanews.net

[7] 2019 Turkish offensive into north-eastern Syria en.wikipedia.org, Serkan Demirel: Turkey denies it, Swiss laboratory proves it used phosphorous, 31.1.2020 anfenglish.com

[8] Steve Sweeney: Collusion, Conspiracy & Corruption: An “on the ground” report into turkish war crimes and use of chemical weapons, Mai 2022 peaceinkurdistancampaign.com, Is Turkey violating the Chemical Weapons Convention?An independent investigation into possible violations of the Chemical Weapons Convention in Northern Iraq is urgently needed, 12.10.2022 ippnw.de

[9] Bîlançoya Şer ya 6 Mehan a Pêngavên Şoreşgeri yên Bazên Zagosê û Cenga Xabûr a Şehîd Savaş Maraş (14 ê Avrêl – 14 ê Cotmeh), 17.10.2022 hakikatinizi.com

[10] internationalistcommune.com

[11] Make Rojava Green Again: Internationalist Commune of Rojava, 2018 makerojavagreenagain.org

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Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de