Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de

IMI-Standpunkt 2022/032

Acatech im Rüstungstaumel

Technikwissenschaftlicher Opportunismus und akademische Blockbildung münden in Forderung nach Streichung von Zivilklauseln

Christoph Marischka (12.08.2022)

Die „Deutsche Akademie der Technikwissenschaften“ (acatech) beschreibt sich selbst als „die von Bund und Ländern geförderte nationale Akademie und Stimme der Technikwissenschaften im In- und Ausland. Wir beraten Politik und Gesellschaft in technikwissenschaftlichen und technologiepolitischen Zukunftsfragen. Unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten erfüllen wir unseren Beratungsauftrag unabhängig, faktenbasiert und gemeinwohlorientiert“. Eine aktuelle Publikation der Akademie offenbart dabei die Auslassungen und Setzungen dieser öffentlich finanzierten Beratung und das Verständnis von „Dialog mit der Gesellschaft“, das hiermit einhergeht.

Das Papier erschien in der Reihe acatech IMPULS, die vom Präsidenten der Akademie, Prof. Dr.-Ing. Johann-Dietrich Wörner, sowie einem der Vizepräsidenten, Prof. Dr. Christoph M. Schmidt, herausgegeben wird. Beide sind zugleich Mitglieder der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina und werden – gemeinsam mit zwei weiteren Mitgliedern der acatech – auch als Autor*innen des Textes angegeben. Er trägt den zunächst unspektakulären Titel „Sicherheit, Resilienz und Nachhaltigkeit“1 und beschäftigt sich mit den Konsequenzen – fast möchte man meinen: Chancen – die der russische Angriff auf die Ukraine für die deutsche Wissenschaft, Wirtschaft, die EU und die NATO nahelegt bzw. eröffnet.

Das Papier bestätigt dabei grundlegende Wertvorstellungen und Interessen, die in den Technikwissenschaften schon immer existiert haben und in den letzten Jahren auch in Deutschland immer mehr die Oberhand gewinnen. Zu diesen Interessen gehören u.a. umfangreiche öffentliche Förderung; zugleich enge Kooperation mit Kapital, Wirtschaft und Industrie; regulatorische Freiräume für die Einführung neuer Technologien und eine entsprechend innovationsfreundliche Haltung in der „Gesellschaft“, welche den damit einhergehenden Chancen und Risiken gegenüber offen sein sollte. Im hier besprochenen Papier ist in diesem Zusammenhang von „Agilität und Adaptivität“ die Rede, die als „Voraussetzungen für Resilienz“ von der Gesellschaft eingefordert werden. Dabei geht es aber auch im Kontext von „Nachhaltigkeit“ nicht um Verzicht oder Einsparungen, sondern allenfalls um die Bedingungen einer technologisch gesteigerten Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit. An anderer Stelle ist allerdings erstaunlich konkret vom wachsenden „Risiko für Verluste materieller Art und insbesondere von Menschenleben in der Bundeswehr“ die Rede.

Wissenschaftsfremde Setzungen: Führungsrolle in der NATO

Die implizite Kernforderung des Papiers der acatech läuft darauf hinaus, die Gesellschaft, die Wissenschaft, die Wirtschaft und das Militär auf eine Art Gesamtverteidigung auszurichten, indem eine national gedachte Sicherheit in das Zentrum aller Bemühungen der beteiligten Akteure gestellt werden soll. Hierfür wird wiederholt eine Stelle im Kanzleramt eingefordert, welche „partei- und ressortübergreifend“ den „permanente[n], übergreifende[n] Blick für die gemeinsame Betrachtung der Querschnittsthemen“ gewährleisten soll. So nebulös wie diese Formulierungen bleibt der Text insgesamt zu den Aufgaben und Befugnissen der vorgeschlagenen Stelle, welche offenbar ganz an der Spitze der politischen Hierarchie, nahe an der Koordination der nationalen Geheimdienste öffentliche Aufträge und Forschungspolitik koordinieren soll. Historische Vorbilder gäbe es zwar, sie zu nennen wären dem Ansinnen in diesem Zusammenhang aber nicht dienlich.

Für eine Publikation einer vermeintlich wissenschaftlichen Institution werden dabei zahlreiche Setzungen aus der Politik übernommen, die in keiner Weise objektiv sind. So heißt es u.a., dass „[v]or dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine […] die politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger die Mittel für die Ausstattung der Bundeswehr lange Zeit nicht adäquat angepasst“ und „[b]ürokratische Hürden […] die ohnehin vorhandene Schwäche der Streitkräfte noch verstärkt“ hätten. Auf welcher Grundlage und mit welcher technikwissenschaftlichen Kompetenz diese Behauptung aufgestellt wird, bleibt jedoch offen. Etwas konkreter wird allerdings etwas später behauptet, dass „in den vergangenen Jahren vielfach international ein stärkeres militärisches Engagement Deutschlands und eine bessere Ausstattung der Bundeswehr gefordert wurden“, aber „Deutschland diesem Ansinnen nur sehr zögerlich nach[kam]“.

Zur Begründung der Einschätzung werden also internationale Partner angeführt – wobei die „Schwäche der Streitkräfte“ dennoch in Abwesenheit konkreter und sicherlich kontroverser Zielvorstellungen von „Stärke“ eine kühne Behauptung bleibt. Die selektive Bezugnahme auf internationale Stimmen verweist auf eine Block-Mentalität der acatech, die ebenfalls nicht – und schon gar nicht (technik)wissenschaftlich – begründet wird. Als Garant für Sicherheit und Resilienz wird in erster Linie die NATO verstanden und hervorgehoben und zwar weil und soweit „es an vielen Stellen unmöglich [ist], rein nationale Lösungen zu finden“. Bei aller offenkundig und wiederholt bekundeten Sympathie für die NATO wird jedoch auch die Abhängigkeit von den USA an verschiedenen Stellen kritisch hervorgehoben, weshalb „eine stärkere Zusammenarbeit der europäischen Staaten wichtig“ sei. Grundsätzlich solle es jedoch (offenbar auch gegenüber den Partnern in EU und NATO) das Ziel sein, „(strategische) Abhängigkeiten von einzelnen Ländern zu verringern, um jeweils die eigene strategische Souveränität zu gewährleisten“. Der auf den Westen fokussierte Multilateralismus schließt insofern die Forderung nach einer deutschen „Führungsrolle“ ein, die explizit antizipiert wird: „Aufgrund der [durch die Einhaltung des 2%-Ziels] wachsenden militärischen Stärke wird Deutschland künftig eine größere Rolle in sicherheitspolitischen Belangen zukommen“. Hier schließt sich ein wenig der Zirkelschluss zur zuvor behaupteten „Schwäche der Streitkräfte“, die dadurch definiert scheint, dass Deutschland seine angestammte Führungsrolle bislang nicht einnehmen kann.

Opportunismus

Vor diesem Hintergrund erscheint es geradezu schäbig, wie das acatech-Papier den Krieg in der Ukraine als Chance darstellt, entsprechende Zielvorstellungen – auch gegen den bisherigen Widerstand in der Bevölkerung – durchzusetzen. Demnach habe es vor dem russischen Angriff „in Deutschland kaum einen öffentlichen Diskurs zu Fragen der Sicherheit [gegeben], und auch die gesellschaftliche Unterstützung für die Bundeswehr war gering“. Demgegenüber bestehe „gegenwärtig eine außergewöhnlich große Bereitschaft, über strategische Grundlinien unseres Gemeinwesens zu diskutieren und Konsequenzen zu definieren. Politik und Öffentlichkeit sind in besonderem Maße für die Probleme sensibilisiert und offen für grundlegende Lösungsansätze“: „Das aktuell gestiegene öffentliche Bewusstsein für sicherheitspolitische Herausforderungen schafft Akzeptanz für die Aufwertung der Sicherheitspolitik und die Neuallokation von Mitteln für die Bundeswehr.“

Bei den etwas konkreteren Forderungen zu deren Ausgestaltung treten dann die explizit technikwissenschaftlichen Interessen etwas deutlicher in den Vordergrund. So solle die Bundeswehr „jetzt auf der Basis strategischer Überlegungen neu ausgerüstet – statt nur aufgerüstet werden“: „So sollten beispielsweise vermehrt untereinander vernetzte Systeme angeschafft werden, die Synergie- und somit Effizienzeffekte schaffen können“. In diesem Kontext wird auch auf den „demografischen Wandel“ verwiesen, welcher der Rekrutierung zusätzlichen Personals für die Bundeswehr Grenzen setzt und dementsprechend eine kampfwertgesteigerte Ausrüstung der Armee mit High-Tech und autonomen Systemen attraktiv erscheinen lässt. Entsprechend müsse auch das Beschaffungswesen reformiert werden, damit schnellere und weniger bürokratische Anschaffungen möglich werden. Etwas verklausuliert wird dies im Kapitel zur „Resilienz“ mit weiteren der oben angedeuteten, gängigen Forderungen industrienaher, profitorientierter Technikwissenschaften ergänzt: „Essenziell sind überdies zukunftsfähige Gründungsbedingungen, das Vorhandensein von ausreichendem inländischen Wachstumskapital sowie von virtuellen oder physischen Bewegungsräumen, aus denen Ideen entstehen […]. Die klassische Aufgabenteilung, bei der sich die Politik auf die Rahmensetzung fokussiert und nicht aktiv eingreift, dürfte zur systematischen Erhöhung der Resilienz nur bedingt ausreichen. Deshalb sollten in einem ersten Schritt die Risiken analysiert und relevante, eingehender zu betrachtende Wertschöpfungsketten identifiziert werden. In einem nächsten Schritt sollten Staat und Unternehmen in einem dynamischen Aushandlungsprozess die Verteilung der Risiken und die Übernahme der jeweiligen Handlungsverantwortung diskutieren“. In technikwissenschaftlichem Verständnis und der rüstungs- bzw. technologiepolitischen Praxis ist damit typischer Weise die Sozialisierung von Risiken und die Privatisierung von Gewinnen gemeint. Etwas kryptischer werden hingegen an anderer Stelle (unter „Cybersicherheit“) regulatorische Freiräume eingefordert, die Risiken für die Bevölkerung bergen, aber trotzdem als notwendig für die Innovationsfähigkeit erachtet werden. Lösen soll dieses Dilemma ein „transparente[r] Diskurs“ mit der Gesellschaft, um deren Sicherheit und Resilienz es doch angeblich geht: „Eine stark sicherheitsfokussierte Regulierung schmälert den Nutzen von IT und mindert somit die Innovationsanreize im IT-Bereich. Bei der erforderlichen Abwägung von Sicherheit und Innovation sollte die Gesellschaft mitgenommen und in einen transparenten Diskurs eingebunden werden.“

Repressiver Sicherheitsbegriff und Aufrüstungsspirale

Zu den verschiedenen, unhinterfragten Setzungen des Papiers gehört eine Vorstellung von Sicherheit, die paternalistisch und autoritär ist. So wird der für das Papier immerhin zentrale Begriff in einer der zahlreichen, aber oft wenig aussagekräftigen Abbildungen in vier Dimensionen ausgelegt: Äußere Sicherheit, Innere Sicherheit, Betriebssicherheit und Versorgungssicherheit. Die soziale Sicherheit taucht dabei allenfalls ansatzweise in den Unterkategorien „Schutz des Gemeinwesens und der Verfassung“ (unter Innere Sicherheit) und z.B. „Lebensmittel“ (unter Versorgungssicherheit) auf – wird im Text aber nicht weiter aufgegriffen. Durchgängig wird Sicherheit als etwas verstanden, was Behörden und suprastaatliche Institutionen herzustellen hätten, wofür sie gestärkt werden und besser mit Industrie und Technikwissenschaften kooperieren müssten (die jeweils ihrerseits gestärkt werden müssten). Eine Resilienz der Bevölkerung selbst, z.B. im Sinne eines wirklich gestärkten Risikobewusstseins, Fähigkeiten zur Selbsthilfe und die weitgehende Beschränkung auf beherrschbare Technologien und lokal verfügbare Ressourcen spielt hingegen keinerlei Rolle in dem Papier. Die Bevölkerung wird insgesamt als träge und dumm wahrgenommen, die sich nun allerdings nach dem Schock über den Krieg in der Ukraine gefügig für die erhofften Reformen zeigen könnte. Dazu passt auch eine der dreistesten Forderungen des Papiers: die als „Handlungsoptionen“ angeführte „Streichung der Zivilklauseln“ aus den Hochschulgesetzen der Länder und den Satzungen der Universitäten.

Das bereits auf der Mikro-Ebene einseitige und eingeschränkte Verständnis von Sicherheit setzt sich auf der internationalen und geopolitischen Ebene fort. Sicherheit gewährleisten demnach gut finanzierte und ausgerüstete Streitkräfte und zwar für Deutschland ausschließlich auf der nationalen, EU-europäischen und der NATO-Ebene. Von anderen Sicherheitsarchitekturen und z.B. Abrüstungsverträgen ist dabei überhaupt keine Rede. Es wird damit ganz offensichtlich, hinter einem Blendwerk unhinterfragter Begrifflichkeiten, einer Aufrüstungsspirale das Wort geredet; globale Konsequenzen einer stärkeren deutschen Rolle und einer weiter hochgerüsteten NATO werden komplett ausgeblendet. Wenn auch über „vernetzte Systeme“ und „IT“ hinaus die angestrebten Innovationen völlig unkonkret bleiben, so fehlt dabei – mit Ausnahme des angeführten Zitats zur IT-Sicherheit – jede weitere Berücksichtigung möglicher neuer Risiken und Gefährdungen durch die Einführung neuer Technologien bei den Streitkräften Deutschlands, Europas, der NATO und weltweit. Unter dem Titel „Sicherheit, Resilienz und Nachhaltigkeit“ hätte man von einem Papier, das sich explizit mit militärischen Fragen und den bürokratischen Hürden im Beschaffungswesen auseinandersetzt, zumindest eine Erwähnung der Bemühungen erwartet, im Rahmen der UN die Regulation autonomer Waffensysteme voranzutreiben. Aber solch ein Verständnis gemeinsamer, durch Verhandlungen erzielter Sicherheit und Resilienz ist dem Papier und seinen Autoren ganz offenbar völlig fremd – es deckt sich auch nicht mit den Interessen einer industrie- und staatsnahen Technikwissenschaft, welche die Kosten und Risiken ihres Tuns auf eine Gesellschaft abwälzen will, die zu schützen sie gelegentlich vorgibt.

Anmerkungen

1 Johann-Dietrich Wörner, Christoph M. Schmidt (Hrsg.): Sicherheit, Resilienz und Nachhaltigkeit, acatech-IMPULS (24.6.2022). URL: www.acatech.de.

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