IMI-Studie 2022/03
Drohnen im Ukraine-Krieg
Technologietransfer als Gamechanger – und Kriegsgrund?
Christoph Marischka (26.04.2022)
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Gesamte Studie hier als PDF
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Was heute als Ukraine-Krieg bezeichnet wird, sind die Folgen des klar völkerrechtswidrigen Einmarsches russischer Truppen ab dem 24. Februar 2022. In der Berichterstattung etablierter deutscher Medien erscheint er tendenziell als eher konventionellen Krieg mit massivem Einsatz klassischer Waffensysteme wie Panzer, Artillerie, Infanterie. Beide Seiten nutzen dabei auch unbemannte Systeme, insbesondere Luftfahrzeuge, so genannten UAV, die in vergangenen militärischen Auseinandersetzungen teilweise grundlegend die Kriegführung geprägt und die Kräfteverhältnisse bestimmt haben. So wird v.a. der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan im zweiten Halbjahr 2020 oft als erster „echter Drohnenkrieg“ bezeichnet,[1] weil entsprechende unbemannte Waffensysteme der vorrückenden Seite (Aserbaidschan) eine deutliche Übermacht verliehen und rasche Geländegewinne ermöglichten. Es existieren auch zahlreiche Berichte, welche aus erster oder zweiter Hand die dabei ausgelöste Angst und Panik innerhalb der angegriffenen Truppen beschreiben. Später gab es vergleichbare Darstellungen aus Libyen und Äthiopien, nach denen zumindest bei entscheidenden Gefechten UAV eine wesentliche Rolle gespielt hätten. Im Folgenden wird der gegenwärtige Einsatz von unbemannten Luftfahrzeugen ausführlicher beleuchtet und der aktuelle Krieg ausschließlich unter diesem Aspekt betrachtet werden. Dies hält allerdings einige Überraschungen parat.
Türkische Drohnen als Game Changer?
Unter Beobachter*innen entsprechender Waffensysteme herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass sich in den Konflikten der jüngsten Zeit v.a. die Kampfdrohnen Bayraktar TB2 des türkischen Herstellers Baykar im Kampf bewährt hätten. Die engen Kontakte des Herstellers zur Regierung werden in der Berichterstattung gerne dadurch illustriert, dass der Schwiegersohn des Staatspräsidenten Erdogan aus der Familie der Eigentümer stamme.[2] Obgleich sowohl die Unsicherheiten im „Nebel des Krieges“ berücksichtigt als auch von einer gewissen, beabsichtigten und forcierten Werbewirkung entsprechender Erfolgsmeldungen andererseits ausgegangen werden sollte, sprechen unter anderem auch die Berichte aus Perspektive der Opfer in den kurdischen Gebieten, wo die TB2 offenbar bereits seit 2017 im Einsatz ist, für deren Effektivität.[3]
Auch in der Ukraine spielte diese Drohne bereits vor dem russischen Einmarsch eine Rolle. Hierüber berichtete etwa die Washington Post in einem Beitrag vom 15. Januar 2022 – der nach dem russischen Einmarsch so wahrscheinlich nicht mehr erschienen wäre. Unter dem Titel „Warum ukrainische Drohnen aus türkischer Produktion zum Zündfunken der Spannungen mit Russland wurden“[4] wird einleitend ein vom ukrainischen Verteidigungsministerium veröffentlichtes Video beschrieben, welches angeblich den Angriff einer TB2 auf eine Artilleriestellung der pro-russischen Separatisten am 26. Oktober 2021 im Osten des Landes dokumentiert. Dabei handele es sich um „mehr als nur einen weiteren Zusammenstoß während der schon fast acht Jahre anhaltenden Kämpfe in der Ost-Ukraine“: „Für Russland war dies ein weiteres Signal, dass die Ukraine aufrüstet und womöglich das militärische Kräfteverhältnis in der Region verändert“ [„For Russia, it was another signal that Ukraine is boosting its arsenal to potentially change the military balance in the region…“]. Während die US-amerikanischen Waffenlieferungen die Schlagzeilen dominiert hätten, so der Beitrag weiter, habe die diskretere Unterstützung aus der Türkei in Moskau mehr Besorgnis ausgelöst. U.a. hätten sich die Ukraine und die Türkei auf den Aufbau einer eigenen Drohnen-Produktion in der Ukraine verständigt. Dies, so wird ein ukrainischer „Militärexperte“ zitiert, schaffe „völlig veränderte Rahmenbedingungen für die [militärischen] Auseinandersetzungen“. Später wird ein weiterer Experte aus Kiew zitiert, der die Drohnen gar als Game-Changer [„game changing app“] bezeichnet habe. Der Artikel berichtet weiter, dass die seit 2019 angeschafften Drohnen von der Ukraine vor dem 26. Oktober nur zur Aufklärung eingesetzt worden seien und zitiert anschließend eine vom ukrainische Verteidigungsministerium veröffentlichte Stellungnahme, wonach man „die Taktik und die Methoden des Kampfeinsatzes der Bayraktars weiter ausbauen“ werde, „um die russische Aggression abzuschrecken und die Interessen der Ukraine zu schützen“.
TB2 im aktuellen Ukraine-Krieg
2019 soll die Ukraine für 69 Mio. US$ die ersten sechs TB2-Drohnen zusammen mit zwei Bodenstationen und weiterer technischer Infrastruktur erhalten haben. Laut Angaben der ukrainischen Luftwaffe soll die Ukraine zu Beginn der russischen Invasion über 20 solcher UAS verfügt haben, Schätzungen gingen jedoch bereits damals von einer höheren, womöglich doppelt so hohen Zahl aus.[5] V.a. in den ersten Tagen des Krieges gab es zahlreiche Berichte über den erfolgreichen Einsatz der TB2 gegen russische Panzer, Artillerie und Luftabwehrsysteme.[6] Als „bestätigt“ gelten nur wenige davon. Ein Beitrag von Derek Gatopoulos und Suzan Fraser für APNews vom 17. März 2022 hebt entsprechend v.a. den Nutzen der TB2 im „Informationskrieg“ hervor,[7] denn sie lieferten früh Bilder bzw. Videos von zerstörten russischen Waffensystemen und stellten damit die ukrainische Fähigkeit zur Gegenwehr unter Beweis. Die Fähigkeiten der Drohnen wurden demnach in der Ukraine und von Unterstützer*innen u.a. in musikalisch unterlegten und gelegentlich auch öffentlich vorgespielten Youtube-Videos gefeiert.[8]
Auch die militärische Potenz der relativ billigen Drohnen zumindest in den ersten Wochen habe einige Expert*innen überrascht, wie APNews weiter berichtet. Anders als in asymmetrischen Konflikten hatten sie den langsam fliegenden, ungeschützten TB2 wenig Chancen gegen die russische Flugabwehr ausgerechnet. Dass diese angeblich trotzdem v.a. in den ersten Tagen viele erfolgreiche Angriffe durchführen konnten, führen die Expert*innen auf anfängliche Schwierigkeiten bei der russischen Flugabwehr zurück, die jedoch behoben werden dürften. Jack Watling vom Londoner Thinktank RUSI (Royal United Services Institute) wird entsprechend mit der Einschätzung zitiert: „Die Spielräume, diese Drohnen einzusetzen, nehmen ab. Wir sehen deshalb, dass die Ukrainer vorsichtiger sein müssen, wann sie diese einsetzen“.[9]
Zumindest die Kommunikation des russischen Verteidigungsministeriums bemühte sich bald, genau diesen Eindruck zu vermitteln. In den täglichen Erfolgsmeldungen über feindliche Abschüsse spielten die TB2 von Anfang an eine hervorgehobene Rolle. Nur sie werden unter den abgeschossenen UAV besonders hervorgehoben und deren Zahl ansonsten (einschließlich TB2) summarisch aufaddiert. Bereits am Abend nach dem Beginn der russischen Invasion am 24. Februar 2022 wurde in den (später deutlich systematischer meist jeweils gegen 10 und 19 Uhr veröffentlichten) „Briefings“ des russischen Verteidigungsministeriums erstmals der Abschuss von vier TB2 vermeldet. Am Abend des 27. Februar wurde der Abschuss von drei weiteren TB2 nahe Chernihiv bekannt gegeben. Die Gesamtzahl der von Russland zerstörten ukrainischen UAV wurde am Abend des 5. März, als der nächste Abschuss einer achten TB2 vermeldet wurde, auf 59 beziffert. Zu dieser Zeit lag dieser Wert noch deutlich unter der angegebenen Zahl für zerstörte bemannte Luftfahrzeuge, der mit insgesamt 90 angegeben wurde. Weitere Abschüsse von TB2 wurden am Morgen des 6. März und am Abend des 7. März vermeldet. Alleine zwischen dem Morgen des 10. März und dem Morgen des 15. März wurde der Abschuss von 22 weiteren TB2 bekanntgegeben. Die Zahl der von Russland angeblich zerstörten ukrainischen UAV stieg demnach im selben Zeitraum von 107 auf 165. Vom 15. bis 22. März wurde die Zerstörung von acht weiteren TB2 vermeldet. Nachdem in der Nacht zum 23. März angeblich drei weitere abgeschossen wurden, behauptete der stellvertretende russische Generalstabschef, Sergej Rudskoj, dass nun insgesamt 35 der 36 zu Beginn der Operation in ukrainischem Besitz befindlichen TB2 vernichtet seien. Die Summe der einzeln vermeldeten Abschüsse belief sich zu diesem Zeitpunkt zwar bereits auf 42, in der Größenordnung sind jedoch beide Zahlen einigermaßen plausibel. In der Folge wurde jeweils ein weiterer Abschuss in den morgendlichen Briefings am 31. März und 1. April verkündet und dann erst wieder die Vernichtung von fünf weiteren zwischen dem Abend des 6. und dem Morgen des 8. April. In der Gesamtzahl der zerstörten feindlichen Luftfahrzeuge überwiegen nach russischer Darstellung die UAV zu diesem Zeitpunkt (Stand 7. April, 19:30) mit insgesamt 416 klar diejenigen der angeblich zerstörten 95 bemannten Helikopter und 125 Flugzeuge (zusammen 220).[10]
Ohne zu glauben, den „Nebel des Krieges“ in diesem Verhältnis durchdringen zu können, lassen sich die zitierten Expertisen und die Briefings des russischen Verteidigungsministeriums zu einem zumindest plausiblen Gesamtbild integrieren: Bereits zu Beginn der russischen Offensive stellten die TB2 ein Ziel der zunächst aus der Distanz geführten russischen Angriffe auf die militärische Infrastruktur der Ukraine am Boden dar. Mit dem Vormarsch der russischen Bodentruppen konnten die TB2 zunächst großflächig und relativ erfolgreich gegen diese eingesetzt werden und lieferten wichtige Propaganda-Erfolge oder zumindest -Bilder. Ab der dritten Woche des russischen Vormarsches wurden diese jedoch – zumindest nach russischer Darstellung – auch effektiv von der Flugabwehr bekämpft. Sowohl die ukrainischen Meldungen erfolgreicher Einsätze als auch die russischen Berichte von Abschüssen legen anschließend einen zurückhaltenderen Einsatz der TB2 nahe. Ende März scheinen die Einsätze der TB2 kurzfristig stagniert zu haben, bevor ab dem 31. März zumindest von russischer Seite wieder über Abschüsse berichtet wird. Insgesamt nehmen die Abschüsse von TB2 in der russischen Propaganda eine hervorgehobene Rolle ein. Ähnliches gilt für die Vernichtung feindlicher UAV insgesamt, welche die Zahl vernichteter bemannter Luftfahrzeuge mittlerweile deutlich übersteigt. Die beiderseitige Berichterstattung über die TB2 entspricht damit den Trends zumindest der europäischen Wahrnehmung über die Kräfteverhältnisse, wonach eine zunächst übermächtige russische Invasion auf unerwarteten Widerstand stieß und in die Defensive geriet.
Kleine Drohnen der dubiosen Einheit „Aerorozvidka“
Ein Beitrag des Guardian vom 28. März 2022 legt nahe, dass bei dieser Verschiebung der Kräfteverhältnisse auch deutlich kleinere Drohnen eine Rolle gespielt hätten. Demnach sei es u.a. einem „Team von 30 Spezialkräften und Drohnenpiloten auf Quads“ zu verdanken, dass die berühmte, 60-Kilometer-Kolonne russischer Militärfahrzeuge auf ihrem Weg nach Kiew ins Stocken geraten sei, die ansonsten wohl einen „Überwältigungsangriff“ auf die Hauptstadt durchgeführt hätten. So wird von einem Hinterhalt berichtet, bei dem sich die ukrainischen Angreifer der Einheit „Aerorozvidka“ nachts durch die Wälder an den Konvoi angenähert hätten und dabei mit Nachtsichtgeräten, Scharfschützengewehren, ferngesteuerten Minen und Drohnen mit Wärmebildkameras ausgerüstet gewesen seien, die kleine 1,5kg-Bomben abwerfen könnten. So sei es gelungen, mehrere Fahrzeuge an der Spitze des Konvois auszuschalten und ihn somit aufzuhalten, bevor er sich in kleinere Kolonnen aufgeteilt habe. Auch diese seien von dem kleinen Team mehrfach erfolgreich angegriffen worden. Außerdem sei die Spezialeinheit auch daran beteiligt gewesen, die Einnahme des Flughafens Hostomel nahe Kiew durch russische Fallschirmjäger in den ersten Stunden des Krieges zu verhindern. Sie habe dabei „Drohnen genutzt, um die etwa 200 russischen Fallschirmspringer, die sich an einem Ende des Flughafens verschanzt hatten, zu lokalisieren, ins Visier zu nehmen und zu bombardieren“.[11]
Das Scheitern der frühen russischen Übernahme dieses Flughafens nahe Kiew gilt als erster entscheidender Wendepunkt im Krieg, da die russischen Truppen ihn offenbar nutzen wollten, um weitere schwere Waffen einzufliegen und angeblich einen Enthauptungsschlag gegen die Hauptstadt zu führen. Weitgehend unbestritten ist, dass mehrere russische Transportflugzeuge bereits auf dem Weg nach Hostomel waren und wegen der Niederlage ihrer Luftlandekräfte beidrehen mussten.
Der Guardian beruft sich bei dieser Darstellung einer geradezu fantastischen Heldengeschichte des militärischen ukrainischen Widerstandes nahezu ausschließlich auf die Berichte des Kommandeurs und eines weiteren Mitglieds der Spezialeinheit und räumt ein, dass diese sich zumindest im Detail nicht verifizieren ließen. Plausibel ist sie u.a. insofern, dass beide Einsatzorte (der Flughafen Hostomel und die Spitze der Kolonne) nahe beieinander liegen und das ukrainische Militär offenbar – vermutlich durch US-Geheimdienste – über die russischen Pläne informiert und darauf vorbereitet war. In jedem Fall, so auch der Guardian, unterstreiche „die große Menge der von der Ukraine veröffentlichten Luftaufnahmen die Bedeutung von Drohnen für ihren Widerstand“.
Spektakulär ist auch, was der Guardian weiter über die Einheit schreibt. Diese sei 2014, nach dem Maidan und der russischen „Invasion der Krim und im Donbas“, von einem ehemaligen Investmentbanker, freiwilligen IT-Spezialisten und Bastlern gegründet worden. Ihr jetziger Kommandant habe als IT-Berater gearbeitet und sich 2014 der Einheit angeschlossen, sein Stellvertreter sei erst im Februar 2022 richtig eingestiegen, hat aber wohl bereits zuvor seine Fähigkeiten als Managementberater genutzt, um deren Finanzierung zu sichern. Dafür war diese, das erwähnt der Bericht gleich drei Mal, auf Crowdfunding angewiesen. Unterstützung habe die Einheit – die zugleich eher als ein Netzwerk von Aktivisten beschrieben wird – auch bei der Beschaffung von elektronischen Bauteilen erhalten, die teilweise der Exportkontrolle unterlagen und deshalb von „Freunden und Unterstützern“ auf „eBay und anderen Webseiten“ eingekauft und in die Ukraine geschickt wurden. Als einer dieser Unterstützer näher vorgestellt wird Klaus Hentrich, Reservist der Bundeswehr und Molekularbiologe in Cambridge. Für einen sehr flexiblen Übergang zwischen zivilen Berufen und militärischer Berufung spricht auch die Tatsache, dass die Einheit angeblich 2019 vom Verteidigungsministerium aufgelöst und erst im Oktober 2020 angesichts der zunehmenden Spannungen mit Russland wieder aufgestellt wurde. Während sich die Einheit zunächst auf kommerziell verfügbare Aufklärungsdrohnen abgestützt habe, habe sie zunehmend eigene Designs entwickelt, darunter UAV mit acht Rotoren und einer Spannweite von 1,5 Metern, die neben Bomben auch Panzerabwehrgranaten verschießen könnten. Außerdem hätte sie entlang der Frontlinie ein Netz von Sensoren aufgebaut, mit denen Kommandeure der ukrainischen Armee russische Truppenbewegungen in Echtzeit mitverfolgen könnten. Zum Abschluss des Beitrages zitiert der Guardian noch einmal den Kommandeur der Truppe, welche für ihn „die Zukunft der Kriegführung“ verkörpere, in der „Schwärme von kleinen Teams, verbunden durch gegenseitiges Vertrauen und fortschrittlicher Kommunikationstechnik größere und schwerer bewaffnete Gegner überwältigen“ könnten: „Wir sind wie Bienen, aber wir arbeiten nachts“.[12]
Springmesser aus den USA
Am 1. April und damit fünf Wochen nach dem Beginn des Krieges kündigte das US-Verteidigungsministerium im Rahmen seiner Ukraine Security Assistance Initiative (USAI) die Lieferungen von Rüstungsgütern und -Dienstleistungen im Wert von 300 Mio. US$ in die Ukraine an.[13] Konkret genannt wurden elf Systeme bzw. Kategorien, darunter Raketen und Maschinengewehre, gepanzerte Fahrzeuge, Munition, Nachtsichtgeräte und andere optische Hilfsmittel sowie Satellitenbilder. Explizit genannt werden außerdem ein System zur Drohnen-Abwehr sowie UAV vom Typ Puma und Switchblade. Beim System Puma handelt es sich um eine batteriebetriebene Aufklärungsdrohne, die aussieht wie ein größeres Modellflugzeug und je nach Ausführung mit einer Reichweite von 20 bis 60km über zwei bis sechs Stunden feindliche Stellungen aufklären kann. Sie wird v.a. von US-Spezialkräften und der Marine verwendet, aber auch in mehrere Länder exportiert, darunter auch an informelle bewaffnete Gruppen wie die Peschmerga. Hergestellt wird sie – ebenso wie das System Switchblade – vom US-Unternehmen AeroVironment, das mehrere Dutzend Typen von UAV v.a. für militärische Zwecke entwickelt hat und vermarktet.
Bei den Switchblades handelt es sich um kleine Kamikaze-Drohnen, die gelegentlich auch als Munition kategorisiert werden. Sie lassen sich in einem Rucksack transportieren und ähnlich wie Mörsergranaten aus Röhren starten. Nach dem Start klappen sie ihre Flügel aus (daher der Name „Springmesser“) und können entweder von einem Tablet gesteuert oder selbstständig in ein vorher definiertes Zielgebiet fliegen, bewegte und stationäre Ziele identifizieren und dem Bedienpersonal zum Abschuss vorschlagen, den sie nach Bestätigung durch das Personal eigenständig vornehmen. Ihre Reichweite reicht je nach Ausführung bis zu 40 Kilometer. Nach maximal 40 Minuten muss die Drohne entweder im Ziel detoniert sein oder sie zerstört sich selbst in der Luft. Die relativ günstigen Geschosse (die Stückkosten werden tw. auf nur 6.000 US$ geschätzt) kamen 2011 auf den Markt und machten anschließend v.a. in Afghanistan eine steile Karriere, wo etwa 4.000 von ihnen zum Einsatz gekommen sein sollen. Ihr Vorteil besteht u.a. darin, dass mit ihnen aus gesicherten Entfernungen und sicheren Stellungen heraus relativ kurzfristig und präzise feindliche Stellungen und auch bewegte Ziele angegriffen werden können, ohne dass der Ausgangspunkt der Attacke offenbahrt würde. Das US-Verteidigungsministerium konkretisierte am 7. April 2022, „hunderte“ der Drohnen an die Ukraine geliefert zu haben. Es wird allgemein davon ausgegangen, dass auch die bereits am 16. März von den USA angekündigte Lieferung von 100 taktischen unbemannten Luftsystemen sich auf Switchblades bezogen hätten, wobei ein „System“ bis zu zehn Geschosse beinhalten würde. Offiziell mitgeteilt wurde jedenfalls, dass die Switchblades mit unterschiedlichen Sprengladungen geliefert würden, die jeweils auf den Einsatz gegen Menschen oder gepanzerte Fahrzeuge ausgerichtet sind. Mittlerweile wurde auch bekannt, dass eine kleine Zahl ukrainischer Soldaten, die sich angeblich bereits vor dem russischen Angriff in den USA befunden haben sollen, dort im Umgang mit den Kamikazedrohnen ausgebildet wurden, bevor sie in die Ukraine zurückgebracht werden oder wurden.[14] Da es sich um „nicht sehr komplexe Systeme“ handele, würden „etwa zwei Tage“ für die Ausbildung genügen, gab das Pentagon an anderer Stelle bekannt und stellte sowohl weitere Lieferungen als auch Ausbildung der ukrainischen Streitkräfte an diesen Waffensystemen in Aussicht.[15]
Über tatsächliche Angriffe von Switchblades in der Ukraine finden sich bislang keine Berichte. Das könnte bedeuten, dass es noch zu keinen entsprechenden Einsätzen kam. Allerdings finden sich auch nach über zehn Jahren und hunderten Einsätzen des Waffensystems in Afghanistan zwar zahlreiche Preisungen ihrer militärischen Fähigkeiten, aber wenig konkrete oder anschauliche Darstellungen. Das kann damit zusammen hängen, dass sich deren Einsatz kaum heroisch inszenieren lässt, sondern es sich im Wortsinne um eine hinterhältige Waffe handelt. Axel Zimmermann fasst ihre besonderen Qualitäten für das ZDF entsprechend so zusammen: „Die kommen aus dem Nichts. Die Angegriffenen wissen nicht, wann und wo die Drohne gestartet ist, können sie während des Fluges kaum orten und entsprechend nicht bekämpfen“.[16] Entsprechend schlecht lassen sie sich auch filmisch dokumentieren bzw. inszenieren.
Ukrainische Produkte und „Terminator-Drohnen“
Neben den Drohnen, die aktuell in das Land geliefert oder vor dem Krieg importiert wurden, produziert auch die Ukraine selbst mehrere Modelle. Das Rückgrat ihrer Drohnenflotte, so Vikram Mittal von der US-Militärakademie in West Point, stellen etwa 300 Aufklärungsdrohnen vom Typ A1 Fury und Leleka-100.[17] Beide erinnern ebenfalls an größere Modellflugzeuge mit einer Spannweite von zwei Metern oder weniger. Die „Fury“ wird vom ukrainischen Hersteller Athlon Avia nach eigenen Angaben seit 2013 entwickelt und produziert. Außer einer weiteren Drohne bietet das Unternehmen keine weiteren Produkte an. Ende 2020 wurde die Fury von den ukrainischen Streitkräften zugelassen und bestellt und nach Angaben des Herstellers bereits 2021 entlang der Kontaktlinie in der Ostukraine eingesetzt. Mit ihrer Reichweite von 50 Kilometern wird sie v.a. zur Zielaufklärung und Feuerzuweisung für die Artillerie eingesetzt.
Die etwas kleinere Leleka-100 wird angeblich auf informeller Ebene bereits seit 2015 vom ukrainischen Militär genutzt, erst im Mai 2021 jedoch hat das ukrainische Militär diese offiziell zugelassen und 114 Stück bestellt. Auch das Unternehmen, das die Leleka-100 herstellt, wurde erst 2014 gegründet und stellt ausschließlich unbemannte Flugzeuge her.
Relativ viel Aufmerksamkeit erhielten auch die Drohnen mit dem Namen „Punisher“ („Strafender“): Sie kann mit einzelnen Raketen mit einer Sprengladung von vier Pfund bestückt werden und wurde nach Angaben des Herstellers in den ersten Tagen des Krieges bereits 60 Mal erfolgreich gegen die russischen Truppen eingesetzt. Begleitet wird sie dabei von einer unbewaffneten Drohne, die Ziele aufklärt und beleuchtet. Auch der Punisher wird in vielen Medienberichten als „Game-Changer“ bezeichnet. Die besondere Aufmerksamkeit für dieses UAV kann – neben den behaupteten militärischen Erfolgen – einerseits mit ihrem sprechenden Namen, andererseits jedoch auch mit der Geschichte der Herstellerfirma zusammenhängen, die häufig Teil der Berichterstattung ist. Die israelische Zeitung Haaretz portraitierte das Unternehmen kurz vor dem russischen Angriff anlässlich eines Besuches des ukrainischen Präsidenten Zelensky am 17. Februar 2022 an der Front in der Ostukraine. „Männer in khaki-farbenen Jacken“ hätten dort selbstgemachte Drohnen vorgeführt bzw. getestet. Sie betonen ihren Status als Veteranen des Krieges gegen die Separatisten im Osten und ihre tiefe Feindschaft gegenüber Russland sowie – explizit! – auch der russischen Bevölkerung als Ganzes. Ihr Unternehmen, UA Dynamics, wurde erst im Monat davor offiziell registriert, war aber offenbar bereits früher aktiv, u.a. bei der Entwicklung der Drohne und in der „taktischen und strategischen Beratung von Staaten, die sich durch Russland bedroht fühlen“.[18]
Vor allem britische (Boulevard-)Medien haben zwischenzeitlich auch intensiv über „Terminator-Drohnen“ berichtet, um damit die „Kreativität“ des Widerstandes zu unterstreichen. Dabei handelt es sich um kommerzielle und unbewaffnete Drohnenmodelle, denen jedoch – vermeintlich in Anlehnung an die berühmte Filmreihe mit Arnold Schwarzenegger und Linda Hamilton – ein furchterregendes Aussehen verpasst worden wäre. Es finden sich viele Berichte darüber, wie sie angeblich genutzt worden seien, um russische Soldaten in Angst und Schrecken zu versetzen, die daraufhin geflohen seien und damit ihre Stellungen preis gegeben hätten. Es existieren auch Videos, die entsprechende Szenen darstellen sollen und z.B. von der britischen Daily Mail veröffentlicht wurden. Zu sehen ist aus Drohnenperspektive ein (vermutlich) russischer Soldat, der eine Straße entlang rennt, dabei offenbar von der filmenden Drohne verfolgt wird und mehrfach „verzweifelt“ („frantically“) über seine Schulter in Richtung der Drohne blickt, bevor er auf andere Soldaten trifft, die sich am Straßenrand verschanzt haben. Der fliehende Soldat – so ergänzt die Daily Mail auf dem Video nicht erkennbare Ereignisse –habe damit die Stellung seiner Kameraden verraten, die anschließend von der ukrainischen Artillerie beschossen und von den Russen aufgegeben worden sei.[19]
Russische Drohnen: Wenig Berichte, magere Bilanz
Über den Einsatz russischer UAV im Krieg in der Ukraine finden sich kaum vergleichbare Berichte, wie überhaupt russische Erfolgsmeldungen zumindest in der westlichen Presse so gut wie nicht stattfinden. Wenn sich dort Berichte über russische Drohnen finden, dann handeln sie sehr oft von deren Abschuss durch die Ukraine und der anschließenden Demontage. Ein solches Video, das der Pressedienst ArmyInform der ukrainischen Streitkräfte veröffentlicht hat, offenbart, dass die russische Drohne „technisch überraschend primitiv“ sei: ausgestattet mit einer einfachen kommerziellen Kamera im Wert von 300-400 US$, teilweise mit Klebeband zusammengehalten, anscheinend fungiert ein abgeschnittener Hals einer Plastikflasche als Einfüllstutzen für den Treibstoff.[20] Auch was den Einsatz unbemannter Bodenfahrzeuge angeht, bietet der aktuelle Krieg in der Ukraine wenig Hinweise darauf, dass Russland hier in den vergangenen Jahren in der Entwicklung solch große Fortschritte gemacht hat, wie gelegentlich spekuliert wurde.
Unter den englischsprachigen Pressemitteilungen des russischen Verteidigungsministeriums finden sich nach sechs Wochen Krieg eine handvoll Berichte und Videos über den – vermeintlich – erfolgreichen Einsatz russischer UAV. Das erste entsprechende Video wurde dort am 16. März 2022 veröffentlicht, ist wenig aussagekräftig und zeigt Luftaufnahmen von LKW und Lagerhallen. Diese Daten wurden demnach genutzt, um Artillerieangriffe zu koordinieren, bei denen Lagerhallen mit Waffen und „bis zu 20 Einheiten Waffen und militärischer Ausrüstung zerstört wurden“.[21] Zwei Tage später wurde dort ein zweites Video veröffentlicht, das offensichtlich aus mehreren Quellen zusammengeschnitten ist und vermeintliche Abschüsse von Fahrzeugen und Lagerhallen von einer größeren russischen Drohne aus darstellt.[22] Wiederum zwei Tage später findet sich dort ein knapper Bericht, der über einen Angriff auf eine ukrainische Artilleriestellung durch ein russisches UAV berichtet.[23] Am 30. März erschien dann eine etwas ausführlichere Meldung, wonach Drohnen des Typs Orlan-10 sowie deren Bedienpersonal trotz ukrainischer Gegenmaßnahmen („electronic warfare means“) „24 Stunden am Tag“ über feindlichem Gebiet im Einsatz seien, um Stellungen der „nationalistischen Bataillone“ aufzukären. Der Informationsgehalt ist auch hier gegenüber den propagandistischen Kernaussagen gering, die erstens darin bestehen, dass die ukrainischen Gegenmaßnahmen überwunden würden und die ukrainischen Einheiten sich gerne in zivilen Gebäuden verschanzten und Zivilisten als menschliche Schutzschilde nutzten.[24] Auch in den täglichen Berichten des ukrainischen Generalstabes spielen russische UAV keine große Rolle: Gelegentlich, etwa am 16. März und am 11. April, wurde im Kontext konkreter Gefechte über Aufklärungsflüge der Orlan-10 berichtet und am 1. April auch der Abschuss einer solchen Drohne vermeldet.
Als objektive Quelle für materielle russische Verluste im Krieg gilt in westlichen Medien die Gruppe „Oryx“ bzw. deren Webseite (oryxspioenkop.com), obwohl diese keinen Hehl aus ihrer klaren Parteinahme für die Ukraine und dafür umso weniger Angaben über ihrer Struktur und Finanzierung macht. Sie sammelt Informationen über zerstörte und erbeutete russische Waffensysteme und Fahrzeugen aus öffentlichen Quellen und versucht diese relativ aufwändig und transparent zu verifizieren. BBC berichtete etwa am 12. April 2022 bezugnehmend auf Oryx von 460 russischen Panzern und über 2.000 weiteren gepanzerten Fahrzeugen, die Russland bislang verloren hätte.[25] Die Zahl der demnach erbeuteten oder abgeschossenen russischen UAV belief sich zu diesem Zeitpunkt hingegen auf nur 28.[26] Neben einer Aufklärungsdrohne vom Typ Forpost (eine in Lizenz von Russland produzierte Weiterentwicklung der IAI Searcher aus israelischer Produktion) handelt es sich bei allen anderen Fällen um russische Eigenentwicklungen, mit 15 Stück überwiegend um die bereits mehrfach erwähnten UAV vom Typ Orlan-10. Dabei handelt es sich um eine unbewaffnete Drohne mit einer Spannweite von etwa drei Metern und einem Startgewicht von gut 16kg. Für ihre Größe und ihr Gewicht hat sie mit angeblich 1.400km und 16 Stunden eine erstaunlich große Reichweite und Ausdauer. Deutlich kleiner und in der Reichweite deutlich begrenzter ist die russische Drohne Elron, von der demnach bislang vier von der Ukraine erbeutet wurden. Außerdem seien eine Kampfdrohne vom Typ Orion und vier russische Kamikaze-Drohnen KUB-BLA durch ukrainische Kräfte abgeschossen worden. Die Orion als einzige regelmäßig von Russland eingesetzte Kampfdrohne wurde 2016 erstmals getestet und befindet sich seit dem in verschiedenen Modellen in der kontinuierlichen Weiterentwicklung und Erprobung. Mit einer Spannweite von etwa 30 Metern kann sie bis zu 24 Stunden in der Luft bleiben und vier Raketen mit einem Gesamtgewicht von 250kg tragen bzw. verschießen. Wie viele Exemplare die russische Armee besitzt (Schätzungen belaufen sich auf „etwa 30“)[27] und in der Ukraine einsetzt, ist unbekannt, Hinweise auf einen großflächigen, alltäglichen Einsatz der Orion in diesem Krieg finden sich keine.
Aufsehen erregte allerdings der Einsatz der russischen Kamikazedrohnen KUB-BLA, von denen bereits vier abgeschossen wurden bzw. abgestürzt sind. Ihre Ausmaße und Ausdauer (30 Minuten) sind vergleichbar mit den größeren Modellen der US-Amerikanischen Switchblades und ihre Sprengladung mit 3kg relativ groß. Im Bulletin of the Atomic Scientists, einer Publikation, die eher der US-amerikanischen Friedensbewegung nahesteht, wurde der Einsatz der KUB-BLA in der Ukraine mit Besorgnis kommentiert, da diese nach Darstellung des Herstellers (einer Tochterfirma der Rüstungsschmiede Kalashnikov) auch über einen autonomen Modus verfüge, in dem Ziele eigenständig identifiziert und angegriffen werden können. Unabhängig davon, ob dieser Modus in der Ukraine bereits aktiviert worden sei, unterstreiche ihr Einsatz, „dass Killer-Roboter [bereits] da sind“.[28]
Einschätzungen des Drohnenkrieges
Seit Beginn des russischen Einmarsches haben zahlreiche westliche Expert*innen und Thinktanks Einschätzungen und Analysen zur Rolle von UAV im Krieg in der Ukraine abgegeben. Eine der ersten stammte am 2. März von Lauren Kahn vom Council on Foreign Relations (CFR). Sie handelt letztlich ausschließlich von den TB2 und rechnete diesen wenig Chancen im weiteren Kriegsverlauf aus. Die Autorin äußert darin ihr Unverständnis, warum Russland nicht innerhalb der ersten Tage die ganze ukrainische Flotte außer Gefecht setzen konnte: „Warum Russland nicht in der Lage war (oder zögerte), die ukrainischen Bayraktar-TB2-Streitkräfte am Boden zu halten, obwohl es zu Beginn des Krieges die Möglichkeit dazu hatte und mit den UAVs vertraut war, ist nach wie vor unklar“. Deshalb werde die Ukraine „wahrscheinlich weiterhin ihre Bayraktar TB2 zusammen mit anderen Luftkampfmitteln einsetzen, um russische Panzer, andere Panzer und mobile Flugabwehrsysteme anzugreifen, solange sie über diese Fähigkeiten verfügt“.[29]
Lesenswert sind die Berichte des Journalisten David Axe für das Forbes Magazine bzw. Forbes.com. Auch er hatte den TB2-Drohnen der Ukraine noch am 8. Februar 2022 wenig Chancen gegen die russische Luftabwehr ausgerechnet[30] (an anderer Stelle jedoch recht gut die Schwachstellen einer möglichen russischen Offensive prognostiziert)[31]. Am 21. und 23. März erschienen Beiträge von ihm, in denen er sein früheres Urteil revidierte. Der Ukraine sei es gelungen, ihre TB2-Flotte mit Beginn des russischen Angriffs auf abgelegene Basen zu verlegen und nach einigen Tagen der Reorganisation von dort aus empfindliche Schläge gegen den russischen Vormarsch durchzuführen. Dabei sei es u.a. durch niedrigen Anflug gelungen, der Luftabwehr auszuweichen und zunächst diese anzugreifen, woraufhin die restlichen russischen Fahrzeuge ein einfaches Ziel gewesen wären. Axe geht entsprechend sogar von deutlich höheren russischen Verlusten durch TB2 aus, als von ukrainischer Seite angegeben: „Bis zum 20. März haben ausländische Beobachter anhand von Fotos und Videos bestätigt, dass fast 60 Panzer, Luftabwehrsysteme, Hubschrauber und Transportfahrzeuge den TB2-Angriffen zum Opfer gefallen sind. Die tatsächliche Zahl der Abschüsse ist zweifellos noch viel, viel höher. Wir kennen die tatsächliche Gesamtzahl nicht, weil die Ukraine nicht will, dass wir wissen, wo und wie oft ihre Drohnen zuschlagen“.[32] Am 31. März 2022 berichtete Axe, dass mittlerweile wohl zwei TB2 vom russischen Militär abgeschossen worden seien,[33] während Russland zu dieser Zeit den Abschuss von mehr als den 20 Exemplaren für sich reklamiert hätte – das entspricht der Zahl, auf die Axe den ukrainischen Bestand zum Beginn des russischen Angriffs geschätzt hatte. Er deutet jedoch in seinen verschiedenen Beiträgen mehrfach an, dass zwischendurch weitere Systeme der modernsten Bauart aus der Türkei geliefert worden sein könnten.
Am 9. April 2022 zog Axe dann eine vorläufige Bilanz, in der er Fähigkeit und Verfügbarkeit der ukrainischen TB2 mit jenen der russischen Orion vergleicht. Demnach schienen die ukrainischen TB2 quasi pausenlos in der Luft zu sein und die russischen Truppen zu bedrohen, während Flüge der Orion eher sporadischer Natur seien. Den 60 „bestätigten“ Abschüssen durch die TB2 stünden lediglich sechs durch Orion gegenüber – wobei er sich auf Oryx beruft. Demnach stünde bislang drei „bestätigt“ abgeschossenen TB2 lediglich eine abgeschossene Orion gegenüber. Aber: „Kiew bezieht weiterhin neue Luftfahrzeuge – und Bayraktar hat kein Problem, die Produktion aufrechtzuerhalten. Kronstadt [der russische Hersteller der Orion] hingegen könnte Schwierigkeiten haben, die russische Nachfrage nach weiteren Orions abzudecken, da Russland seit langem Probleme bei der Beschaffung von High-Tech-Komponenten hat. Die neuen westlichen Sanktionen werden die Engpässe wahrscheinlich noch verschärfen. Es stimmt also, dass am Himmel über der Ukraine verschiedene und konkurrierende Drohnenkämpfe stattfinden. Aber die Kiewer Kampagne lässt sich aufrecht erhalten. Die russische … nicht so sehr“.[34]
Auch Vikram Mittal von der US-Militärakademie in West Point beurteilte einen Monat nach Beginn des russischen Einmarsches den russischen Einsatz von UAV als wenig erfolgreich. Stattdessen zeige sich auf diesem Gebiet eher eine Überlegenheit der Ukraine. Das habe 2014 noch ganz anders ausgesehen, als Russland seine Aufklärungsdrohnen in der Ukraine sehr erfolgreich mit der Artillerie kombiniert und damit rasche Erfolge erzielt hätte. Seit dem habe Russland geschätzte 9 Mrd. US$ in die heimische Produktion von UAV gesteckt und sein Drohnen-Arsenal um etwa 500 Exemplare verschiedener Klassen aufgestockt. Dass nun Russland trotzdem auf diesem Gebiet unterlegen sei, erklärt er mit „einer Kombination aus Handels-Embargos, Technologieentwicklung und der wachsenden Bedeutung von Gegenmaßnahmen“.[35] Durch die seit 2014 geltenden Sanktionen sei Russland der Zugang zu wichtigen Komponenten und Schlüsseltechnologien wie Optik, Leichtbau-Technik und Elektronik versagt gewesen und entsprechende eigene Entwicklungen nicht entscheidend vorangekommen, während die Ukraine v.a. mit den TB2 günstige und fortgeschrittene Systeme aus der Türkei erhalten habe. Ähnlich verhalte es sich mit der Drohnenabwehr. Hier seien in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht worden, die teilweise an Russland vorbeigegangen seien. So nutze Russland Methoden des Jamming und Spoofing, bei denen der Ausgangspunkt des Störsignals leicht zu identifizieren und angreifbar sei. Außerdem würden einige ukrainische Drohnen über Systeme verfügen, welche entsprechende Angriffe erkennen und ausweichen könnten. Zugleich habe die Ukraine Zugang zu neuen Entwicklungen der NATO im Bereich der Drohnenabwehr. Welche Systeme dabei genau zum Einsatz kämen, sei nicht bekannt, aber alleine die Bilder der – oft äußerlich wenig beschädigten – abgeschossen bzw. abgestürzten russischen Drohnen würden auf fortschrittliche und effiziente Technologien hinweisen.
Fazit
Weder die russische Regierung noch westliche Beobachter*innen weisen russischen UAV eine entscheidende Rolle in der Kriegführung in der Ukraine zu. Die ukrainische Regierung hingegen konnte Drohnen in den ersten Wochen des Krieges zumindest propagandistisch nutzen, um die Verwundbarkeit der russischen Truppen zu demonstrieren. Westliche Medien und Expert*innen bezeichnen darüber hinaus ukrainischen UAV verschiedener Typen und Klassen (u.a. TB2, Punisher, Switchblade) als „Game-Changer“, die das Kräfteverhältnis wesentlich zugunsten der Ukraine verschoben hätten und noch weiter verschieben könnten. Das aktuelle Kräfteverhältnis wäre demnach wesentlich durch den Technologietransfer in den vergangenen acht Jahren geprägt sowie durch Rüstungslieferungen der NATO und ihrer Verbündeten an die Ukraine. Relativ klar jedenfalls scheint, dass Russland in dieser Zeit im Bereich der UAV entweder deutlich weniger erfolgreich aufgerüstet hat oder seine Mittel sehr zurückhaltend einsetzt. Im ersten Fall ergäbe sich aus der auf UAV fokussierten Betrachtung sogar die Frage, ob die Aufrüstung der Ukraine mit entsprechenden Waffensystemen nicht sogar eine Motivation für die russischen Aggression dargestellt haben könnte. Aus dieser Perspektive jedenfalls scheint der Technologietransfer wesentlich dazu beigetragen haben, die Kräfteverhältnisse in der Region zugunsten der Ukraine und der NATO zu verschieben – eine Tendenz, der Russland erklärtermaßen entgegentreten wollte.
Dieser Technologietransfer fand in einigen Bereichen – etwa die Lieferung der TB2 von der Türkei in die Ukraine – offen, in anderen – z.B. der Lieferung von Drohnenabwehrsystemen vermutlich aus den USA – verdeckt ab. Wie zumindest die Berichte über die halb militärisch, halb privat finanzierte und organisierte Spezialeinheit „Aerorozvidka“ nahelegen, waren dabei auch Personen im westlichen Ausland daran beteiligt, Exportrestriktionen für High-Tech-Komponenten in die Ukraine zu umgehen. Auch die Geschichte mehrerer ukrainischer Drohnen-Hersteller, etwa des Punishers, werfen nicht nur Fragen nach deren Finanzierung auf, sondern auch, welche Unterstützung sie (sonst) dabei erhielten, in kürzester Zeit einsatzfähige und der russichen Technologie überlegene UAV zu entwickeln und in den Einsatz zu bringen. Die Geschwindigkeit der sich nun möglicherweise als entscheidend erweisenden Aufrüstung der Ukraine mit UAV ist jedenfalls bemerkenswert: 2019 erfolgte die erste Beschaffung von TB2, 2021 die offizielle Zulassung und Bestellung der Aufklärungsdrohnen Fury und Leleka. Das Unternehmen, welches die Punisher herstellt, wurde erst Wochen vor dem Kriegsbeginn registriert und mittlerweile befinden sich vermutlich zusätzlich hunderte Kamikaze-Drohnen des Typs Switchblade und weitere US-Drohnenmodelle im Besitz der ukrainischen Armee.
Bei der TB2 hingegen erscheint der damit verbundene Technologietransfer relativ transparent. Entscheidende Bauteile stammen aus den USA, das zentrale Modul, mit dem Ziele erkannt und für den Abschuss „beleuchtet“ werden, stammt zumindest in allen nachgewiesenen Fällen vom deutschen Rüstungshersteller Hensoldt, an dem der Bund über die KfW eine Sperrminorität hält.[36]
Auf jeden Fall dokumentiert der Krieg in der Ukraine, dass die USA, EU und Deutschland nicht Getriebene sind in der Drohnenentwicklung, sondern führende und treibende Kräfte. Von den Schwärmen gegnerischer Drohnen, mit denen auch hierzulande die Entwicklung und Erprobung von Systemen zur Schwarmsteuerung vorangetrieben wird, ist von russischer Seite jedenfalls aktuell nichts zu sehen. Entsprechende Systeme stehen jedoch z.B. in Deutschland für unbewaffnete Drohnen kurz vor der Einsatzreife, in den USA gilt dasselbe u.a. auch für die Kamikaze-Drohnen vom Typ Switchblade.
Anmerkungen
[1] Vgl.: Christoph Marischka: Berg-Karabach und der „erste echte Drohnenkrieg“ – Europas Anteil und deutsche Konsequenz, IMI-Analyse 2021/19.
[2] Siehe z.B.: Umar Farooq: The second drone Age – How Turkey Defied the U.S. and Became a Killer Drone Power, The Intercept vom 14.5.2019.
[3] Metin Gurcan: Turkey-PKK ‚drone wars‘ escalate, AL-Monitor vom 18.9.2017.
[4] Isabelle Khurshudyan, David L. Stern: „Why Ukraine’s Turkish-made drone became a flash point in tensions with Russia“, washingtonpost.com vom 25.1.2022.
[5] Lauren Kahn: How Ukraine Is Using Drones Against Russia, www.cfr.org vom 2.3.2022.
[6] Vikram Mittal: Puzzling Out the Drone War Over Ukraine, IEEE Spectrum vom 25.3.2022.
[7] Derek Gatopoulos, Suzan Fraser: Cheap but lethal Turkish drones bolster Ukraine’s defenses, APNews.com vom 17.3.2022.
[8] Zur Inszenierung der TB2 in der ukrainischen Propaganda siehe auch: Why Turkey’s Bayraktar TB2 UAV Has Become a Household Name, reconnaissance-europe.com.
[9] Derek Gatopoulos, Suzan Fraser, a.a.o.
[10] Die Zahlen dieses Absatzes entstammen einer Auswertung des Autors der englischsprachigen Briefings der russischen Verteidigungsministeriums unter https://eng.mil.ru/en/news_page/country.htm zwischen dem 24.2.2022 und dem 8.4.2022.
[11] Julian Borger: The drone operators who halted Russian convoy headed for Kyiv, theguardian.com vom 28.3.2022.
[12] Ebd.
[13] „Defense Department Announces $300 Million in Additional Assistance for Ukraine“, www.defense.gov vom 1.4.2022.
[14] Phil Stewart, Idrees Ali: U.S. training small number of Ukrainians on Switchblade drones – defense official,
www.reuters.com vom 6.4.2022.
[15] „DOD: More Javelins Approved for Ukraine; Switchblades On their Way“, www.defense.gov vom 6.4.2022.
[16] Axel Zimmermann: Switchblade-Drohnen – Tod aus dem Nichts, zdf.de vom 9.4.2022.
[17] Vikram Mittal, a.a.o.
[18] Liza Rozovsky: Ukrainian Veterans Gird for Another War – and Family Is No Excuse, www.haaretz.com vom 19.2.2022.
[19] Chris Jewers: Moment a frantically fleeing Russian soldier is chased down by Ukrainian drone… before he unwittingly leads Kyiv’s forces straight to his unit, www.dailymail.co.uk vom 8.4.2022.
[20] Michael Zhang: Ukraine Opens Russian Drone, Finds Canon DSLR Inside, petapixel.com vom 11.4.2022.
[21] „Russian gunners with the help of an unmanned aerial vehicle destroyed military equipment and an ammunition depot of the Armed Forces of Ukraine“, www.mil.ru vom 16.3.2022.
[22] „The Ministry of Defence has published footage of the destruction of armored vehicles and ammunition depots of the Armed Forces of Ukraine by an unmanned aerial vehicle with high-precision missile weapons“, www.mil.ru vom 18.3.2022.
[23] „Unmanned aircraft of the Russian Aerospace Forces destroyed a self-propelled artillery battery of the Armed Forces of Ukraine“, www.mil.ru vom 20.3.2022.
[24] „Orlan-10 UAVs perform reconnaissance flights to tactical depth during a special military operation in Ukraine“, www.mil.ru vom 30.3.2022.
[25] „Ukraine conflict: Why is Russia losing so many tanks?“, www.bbc.com vom 11.4.2022.
[26] Die fortlaufend aktualisierte Liste „bestätigter“ Verluste findet sich unter: https://www.oryxspioenkop.com/2022/02/attack-on-europe-documenting-equipment.html. Im Text wiedergegeben ist der Stand vom 11.4.2022. Bis 21.4.2022 hat sich die Gesamtzahl der abgeschossenen russischen Drohnen demnach auf 39 erhöht, darunter sieben weitere Aufklärungsdrohnen Orlan, eine weitere Elron und zwei weitere Kamikaze-Drohnen KUB-BLA.
[27] https://www.forbes.com/sites/davidaxe/2022/04/09/russia-just-lost-a-killer-drone-over-ukraine-it-cant-afford-to-lose-many-more/
[28] Zachary Kallenborn: Russia may have used a killer robot in Ukraine – Now what?, www.thebulletin.org vom 15.3.2022.
[29] Lauren Kahn, a.a.o.
[30] David Axe: Ukraine Reportedly Has 20 TB-2 Drones – They Might Not Matter In A Wider War With Russia,
www.forbes.com vom 8.2.2022.
[31] David Axe: How The Russians Crush Ukraine, And How Ukraine Thwarts Them, www.forbes.com vom 16.2.2022.
[32] David Axe: Ukraine’s Drones Are Wreaking Havoc On The Russian Army, www.forbes.com vom 21.3.2022.
[33] David Axe: Russia Has Shot Down A Second TB-2. It’s Too Little, Too Late To Stop Ukraine’s Killer Drones, www.forbes.com vom 31.3.2022.
[34] David Axe: Russia Just Lost A Killer Drone Over Ukraine. It Can’t Afford To Lose Many More, www.forbes.com vom 9.3.2022.
[35] Vikram Mittal, a.a.o.
[36] Christoph Marischka, a.a.o.