Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de

IMI-Analyse 2022/15 - in: AUSDRUCK (März 2022)

Organisierter Aufmarsch

NATO-Kommando in Ulm koordiniert Truppenbewegungen in Europa

Martin Kirsch (22.03.2022)

Am 08. September 2021 kam der US-General Tod Wolters, Chef des Nato-Oberkommandos Allied Command Operations und Oberkommandierender der NATO-Streitkräfte in Europa (SACEUR), nach Ulm. Im Kongresszentrum fand eine militärische Zeremonie statt. Nach drei Jahren Aufbauphase wurde die volle Einsatzbereitschaft eines neuen NATO Hauptquartiers festlich verkündet.[1] Das Joint Support and Enabeling Command (JSEC) ist eines von mittlerweile vier operativen Militärhauptquartieren der NATO. Die direkte Planung und Führung von Kampfeinsätzen steht in Ulm allerdings nicht auf der Agenda. Im NATO-Sprech wird das JSEC auch als Rear Area Command, also als Kommando für den rückwärtigen Raum in Europa, bezeichnet. Hier werden Truppenbewegungen, Aufmarschrouten und die Absicherung militärisch relevanter Infrastruktur im rückwärtigen Raum der NATO in Europa koordiniert. Damit wird das JSEC in Ulm in Zukunft an allen Manövern der NATO beteiligt sein, bei denen sich größere Truppenkontingente über den europäischen Kontinent bewegen.

Drehscheibe Deutschland

Im Rahmen der Aufrüstung entlang der NATO-Ostflanke wurde ab 2016 schnell klar, dass (Nord)Deutschland eine zentrale Rolle für Truppenverlegungen von den USA nach Polen und ins Baltikum einnehmen würde. Auch grundlegendere Überlegungen machten deutlich, dass diverse Wege für Truppenverlegungen in Europa von West nach Ost und Süd nach Nord sich in Deutschland kreuzen. Die Bundesregierung und die Bundeswehr machten aus dieser geografischen Gegebenheit schnell eine Tugend. So heißt es in der Konzeption der Bundeswehr von 2018: „Deutschland ist aufgrund seiner geografischen Lage eine strategische Drehscheibe im Zentrum Europas und gleichzeitig ein wesentliches europäisches Element kollektiver Verteidigung. Die Handlungsfähigkeit des NATO-Bündnisses und der EU beruht auch auf Deutschlands Aufgabenerfüllung als Host Nation [dt. Gastgebernation], als Transitland für die Verlegung von Kräften an die Grenzen des Bündnisgebietes und im rückwärtigen Einsatzgebiet.“[2]

Doch neue Logistikeinheiten der Bundeswehr und mehrere EU-Projekte zur Vereinfachung von Logistik und Truppenbewegungen schienen nicht genug zu sein.

Im Februar 2018 wurden Pläne des Verteidigungsministeriums veröffentlicht, die zusätzlich die Einrichtung eines neuen NATO-Kommandos für die Koordination von Truppenverlegungen des Bündnisses in ganz Europa mit Standort in Deutschland vorsahen.[3]

Umbau der NATO-Kommandostruktur

Nach dem Ende des letzten Kalten Kriegs und dem neuen Fokus auf Auslandseinsätze wurden die Kommandostrukturen der NATO stark reduziert. Zwischen 2004 und 2018 unterhielt das Bündnis noch zwei operative Hauptquartiere (Joint Force Command/ JFC) in Brunssum in den Niederlanden, nahe der Grenze zu Aachen und im süditalienischen Neapel. Im Zuge der Konfrontation mit Russland wurden den beiden bestehenden JFC in Anlehnung an den letzten Kalten Krieg wieder regionale Zuständigkeiten für Nord- und Nordosteuropa bzw. Süd- und Südosteuropa zugeteilt.

Auf dem NATO-Gipfel 2018 in Brüssel wurde zudem der Beschluss zur Schaffung von zwei weiteren operativen Hauptquartieren gefasst.[4] Ein neues JFC in Norfolk im US Bundesstaat Virginia soll laut NATO für Sicherheit auf dem Atlantik und im Nordmeer sorgen. Damit fällt auch die Absicherung von Truppentransporten von Nordamerika nach Europa, die mittlerweile wieder jährlich in der Manöverreihe Defender geübt werden, in den Zuständigkeitsbereich des JFC Norfolk. Der Standort Norfolk ist nicht zufällig auch der Heimathafen der reaktivierten Atlantikflotte der US Navy, die in Doppelfunktion, gemeinsam mit dem JFC Norfolk, durch einen US-Dreisterneadmiral geführt wird. Das Personal kommt aus diversen NATO-Staaten. So wird der Posten des Vize-Kommandeurs aktuell von einem britischen Admiral und die Position des Stabschefs von einem deutschen Marineoffizier besetzt.

Das zweite neue Hauptquartier, das Joint Support and Enabeling Command in Ulm, bildet das Bindeglied zwischen den drei Joint Force Commands. Es zeichnet für den rückwärtigen Raum in Europa verantwortlich. Grundsätzlich erstreckt sich das Einsatzgebiet des JSEC “auf den Verantwortungsbereich des SACEURs und reicht von Grönland bis nach Afrika, Europa und dessen Randmeere.”[5] Tatsächlich aktiv wird das JSEC aber nur in den Regionen, die hinter den Einsatzbereichen der drei JFCs liegen.

Aufgabenteilung

Der Aufgabenbereich des JSEC verdeutlicht sich durch einen Blick auf das NATO Manöver Steadfast Defender 2021. Das Manöver war in drei Phasen aufgeteilt. In einer ersten Phase wurden Truppenkontingente aus den USA und Kanada mit Schiffen über den Atlantik transportiert. Für diese Manöverphase, in der die Transportschiffe militärisch auf See, in der Luft und im Cyberraum gesichert wurden, war das JFC Norfolk verantwortlich.[6] In der dritten Phase erreichten alle beteiligten Truppen das Manövergebiet in Südosteuropa, in dem größere Militärübungen durch das JFC in Neapel geführt wurden. Dazwischen lag die zweite Phase, in der das JSEC aktiv wurde. Auch wenn sich parallel reale NATO-Truppen vom Atlantik nach Rumänien und Bulgarien bewegten, fand die erste Großübung des JSEC 2021 nur als Simulation statt.[7]

In den Szenarien, die in die Einsatzzentrale in Ulm eingespielt wurden, kam es zu gegnerischen Angriffen und weiteren Komplikationen, die den Truppenaufmarsch behinderten. Häfen waren durch Cyberangriffe eingeschränkt, Autobahnen waren nicht befahrbar und größere Truppenansammlungen wurden ausgespäht, sodass mit sog. hybriden Angriffen gerechnet werden musste.[8] Aufgabe des JSEC war es also, die Truppen- und Materialtransporte trotz Zwischenfällen sicher an ihren Bestimmungsort im Einsatzgebiet zu bringen. Wie in den Manövern Defender 2020 und Steadfast Defender 2021 geübt, würde auch im Ernstfall ein Truppenaufmarsch an die Ostgrenze der NATO ähnlich verlaufen.

Koordination aus einer Hand

Bewegen sich NATO-Militärs durch andere Staaten des Bündnisgebiets, sind primär die jeweiligen Gastgeberländer für die Unterstützung und die Absicherung dieser Truppenbewegungen verantwortlich (Host Nation Support). Zudem müssen auch bei Truppenverlegungen nationale Einreiseregelungen sowie Zoll- und Gefahrgutbestimmungen berücksichtigt werden. Auch mit der Aktivierung des JSEC ändert sich dieser Grundsatz nicht. Bei einer Truppenverlegung von Portugal nach Litauen müssen beispielsweise fünf Ländergrenzen überschritten werden. Bisher brauchte es daher fünf separate Ansprechstellen und diverse Absprachen. In Zukunft nimmt das JSEC die Rolle des Koordinators ein. Ein Land, das Truppen verlegen will, fragt beim JSEC an und das Ulmer-Kommando klärt die Rahmenbedingungen mit den jeweiligen Ländern, die durchfahren werden. Kommt es darüber hinaus bei großen Truppenbewegungen zu Engpässen auf Straßen, Schienen und Wasserwegen, kann sich das JSEC einschalten und die Transporte im Sinne der NATO-Führung priorisieren. Für die konkrete Umsetzung und Unterstützung der Verlegungen bleiben weiterhin die jeweiligen Länder verantwortlich. Über das JSEC können sie allerdings im Fall von fehlenden Ressourcen Kräfte aus anderen NATO-Staaten für die jeweiligen Aufgaben wie den Schutz von Infrastruktur oder Logistikkräfte zur Errichtung von Abfertigungspunkten und Feldlagern abrufen.

Standort Ulm

Wie auch das JFC Norfolk nicht zufällig an der US-Ostküste, im größten Militärhafen der Welt mit besonderer Relevanz für den Atlantik, aufgestellt wurde, fiel auch die Entscheidung für Ulm nicht ohne Grund. Bereits im letzten Kalten Krieg beherbergte der Südwesten Deutschlands diverse Kommandostrukturen und Truppenteile der NATO. Zwischen 1956 und 2005 war das II. Korps der Bundeswehr in der Wilhelmsburgkaserne in Ulm untergebracht. Für den Kriegsfall war das Korps über das operative Kommando für Mitteleuropa (Allied Forces Central Europe) direkt der NATO unterstellt.

Im Rahmen der Umstrukturierung von Bundeswehr und NATO und der zunehmenden Ausrichtung auf Auslandseinsätze wurde das II. Korps 2005 zum Kommando Operative Führung Eingreifkräfte umstrukturiert. In dieser neuen Funktion sollte das Ulmer Kommando zur Führung von Auslandsmissionen der EU im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) zur Verfügung stehen. Zu einem tatsächlichen Einsatz in dieser Rolle kam es allerdings nicht.

Daraufhin erfolgte ab 2014 eine erneute Umstrukturierung zum Multinationalen Kommando Operative Führung. Weiterhin als Dienstelle der Bundeswehr wurde der Stab allerdings durch diverse multinational besetzte Dienstposten erweitert. Mit einer Übung in 2018 erfolgte zudem die NATO-Zertifizierung des Kommandos. Von Juli 2018 bis Juli 2019 stand das Kommando für die Führung der NATO Responce Force (NRF) in Bereitschaft. Zuletzt war das Ulmer Kommando zwischen Juli 2020 und April 2021 bereit, um im Fall der Aktivierung die Führung der EU-Battlegroup zu übernehmen.[9]

Wie in Norfolk nutze auch die Bundeswehr einen etablierten Standort und gefestigte Führungsstrukturen, um an der Seite des Multinationalen Kommandos Operative Führung auch das neue NATO-Kommando JSEC aufzubauen. Auch hier führt ein deutscher Dreisternegeneral beide Kommandos parallel. In Friedenszeiten unterstehen ihm bis zu 280 Soldat*innen aus 13 NATO-Staaten. Seine aktuellen Stellvertreter kommen beispielsweise aus Polen und den Niederlanden. In Krisenzeiten kann das Personal auf bis zu 600 Soldat*innen aufgestockt werden.

Um auch die neuen Aufgaben der NATO übernehmen zu können und das neue Personal unterzubringen, wird fleißig in den Standort investiert. So wurden in den letzten Jahren vier große neue Gebäude auf dem Kasernenareal errichtet. Die neue Operationszentrale, ein IT-Gebäude mit angeschlossenem Trainingscenter, ein Konferenzzentrum mit Platz für 300 Personen und ein Gebäude, in dem Zelte für ein weltweit verlegbares Hauptquartier gelagert, gereinigt und gewartet werden, ließ sich die Bundeswehr bereits rund 70 Millionen Euro kosten.[10] Um alle geplanten Bau- und Modernisierungsmaßnahmen umzusetzen, rechnet die Bundeswehr mit Bauarbeiten bis 2028, die weitere Millionensummen verschlingen werden.[11]

Proteste gegen das JSEC

Bereits im Juli 2018, einen Monat nach Bekanntwerden der Entscheidung der NATO, das neue JSEC-Kommando in Ulm zu stationieren, kam es zu einer ersten Demonstration, zu der diverse Friedensgruppen aufriefen. Seitdem haben in Ulm wieder überregionale Ostermärsche stattgefunden, die neben weiteren Anliegen auch das JSEC thematisierten. Am Tag der Zeremonie zur Erklärung der vollen Einsatzbereitschaft des JSEC im vergangenen September, die erst wenige Tage zuvor öffentlich geworden war, fanden sich Demonstrant*innen vor dem Kongresszentrum ein, die lautstark darauf aufmerksam machten, dass die Bevölkerung von Ulm keineswegs geschlossen hinter dem neuen NATO-Kommando steht. Neben grundlegender Kritik an der Aufrüstung der NATO weist die lokale Friedensbewegung in Ulm immer wieder darauf hin, dass die Stadt durch die Stationierung des neuen NATO-Hauptquartiers im Kriegsfall zu einem relevanten Angriffsziel werden würde.

Diese Befürchtung macht deutlich, dass das Ulmer Kommando nicht nur an diversen kommenden Manövern beteiligt sein wird, sondern auch im Fall eines offenen Krieges der NATO mit Russland eine herausgehobene Stellung für den Truppenaufmarsch in Europa einnehmen würde.


[1] Zeit Online: Nato-Unterstützungskommando: Volle Einsatzbereitschaft, 8. September 2021, zeit.de.

[2] Bundesministerium der Verteidigung (BMVg): Konzeption der Bundeswehr, S.60, 20. Juli 2018, bmvg.de.

[3] BMVg: Neues Unterstützungskommando der NATO, 14. Februar 2018, bmvg.de.

[4] Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der NATO: Gipfelerklärung von Brüssel – Treffen des Nordatlantikrats auf Ebene der Staats-und Regierungschefs in Brüssel, 11. –12. Juli 2018, Punkt 29, Seite 14f, nato.diplo.de.

[5] BMVg: Neues Unterstützungskommando der NATO (JSEC) in Ulm, 8. Juni 2018, bmvg.de.

[6] US Navy: Joint Force Command Norfolk Kicks off Part 1 of NATO’s Steadfast Defender 2021, 20. Mai 2021, navy.mil.

[7] NATO: JSEC kicks off NATO exercise Steadfast Defender 2021 Part 2 under strict COVID-19 precautionary measures, 7. Mai 2021, jsec.nato.int.

[8] Europäische Sicherheit und Technik: Reibungslose Verlegung von Mensch und Material gewährleisten – Interview mit Generalleutnant Jürgen Knappe, Commander Joint Support and Enabling Command und Befehlshaber Multinationales Kommando Operative Führung, S.40ff, Ausgabe 8/2021.

[9] Truppendienst – Magazin des Österreichischen Bundesheeres: Das Multinationale Kommando Operative Führung in Ulm, 12. Oktober 2020, truppendienst.com.

[10] Neu-Ulmer Zeitung: 70 Millionen Euro investiert: So wächst die Wilhelmsburg-Kaserne in Ulm, 11. April 2021, abrufbar über: augsburger-allgemeine.de.

[11] Bundeswehr: Neue Funktionsinfrastruktur in Ulm, 2. März 2021, bundeswehr.de.

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Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de