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IMI-Standpunkt 2022/009

Auf zur Blockbildung … mit oder ohne China?

Andreas Seifert (01.03.2022)

Der Krieg gegen die Ukraine und ihre Bevölkerung ist völkerrechtswidrig – er ist zu verurteilen und vor allem zu beenden, bevor noch mehr Leid von ihm ausgeht.

Es ist ein interessantes Bild, wenn die US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen Linda Thomas-Greenfield vor den Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates pathetisch die moralische Keule schwingt und auffordert, sich der von den USA eingebrachten Resolution gegen Russland anzuschließen oder aber die UN-Charta zu verraten. Umso trauriger ist es, wenn der ZDF-Reporter vor Ort, Johannes Hano, dies auch noch als die einzig wahre Position in die deutschen Wohnzimmer verlängert und bei der Gelegenheit fragt, was diese Charta denn überhaupt noch wert sei, wenn drei Atommächte, die fast die Hälfte der Weltbevölkerung repräsentieren, sich nicht gegen diesen Angriffskrieg verhalten (heute.de). Der Vorwurf richtete sich an die VR China, Indien und die Vereinigten Arabischen Emirate, die sich enthielten und natürlich Russland selbst, das mit seinem Veto eine positive Abstimmung unterband. Dabei ist es Aufgabe des Sicherheitsrates, Lösungen zu suchen und nicht in erster Linie einfach zu verurteilen – aber vielleicht zeigt dieser Ansatz, vorgetragen von Thomas-Greenfield und Hano eher nur, wie selbstverständlich der Westen davon ausgeht, den Sicherheitsrat funktional für seine Seite einspannen zu können. Die politische Isolation Russlands ist aber nur ein Aspekt der Geschichte – ein zweiter ist die voranschreitende Blockbildung in der Welt.

Der Botschafter der Volksrepublik China enthielt sich auf der Sitzung des UN-Sicherheitsrates vom 26. Februar zusammen mit denen aus Indien und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Während sich die beiden letzteren auf das Argument, man müsse Verhandlungen Vorschub leisten, zurückzogen, so war die chinesische Position doch durchaus noch ein bisschen differenzierter und durchbrach den Narrativ des willkürlichen Überfalls auf die Ukraine. Der Botschafter Zhang Jun erinnerte daran, dass dieser Krieg nicht „über Nacht“ und in einem spezifischen historischen Kontext entstanden ist, den man – um eine Lösung zu finden – auch ernsthaft adressieren müsse (UN.org).

An die Adresse Chinas gerichtet – genauer natürlich, wie man das so Autokraten gegenüber tut, an die Adresse Xi Jinpings – setzte der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich im Bundestag am 27. Februar den Appell ab, er solle sich vom „Krieg Putins“ absetzen und den Kurs der VR China ändern, damit China eine zukünftige Friedensordnung mitgestalten kann (Berliner Zeitung). Nutzt man den russischen Krieg gegen die Ukraine  als Vehikel, die VR China auf einen Kurs zu zwingen oder aber von zukünftigen Entwicklungen auszuschließen? Wäre nicht ein Appell angebracht gewesen, der die VR China dazu auffordert, als aktiver Part einen Ausgleich und einen Frieden herbeizuführen?

„Chinas Kurs“, wie ihn beispielsweise der Außenminister der Volksrepublik Wang Yi am 26. Februar in einem Statement dargelegt hat (PRC State Council), wäre ein guter Ausgangspunkt. Seine fünf Punkte zu lesen kann dazu beitragen, das einseitige Bild der Parteinahme für Russland zu relativieren. (1) China hält nach wie vor an der Souveränität und der territorialen Integrität aller Staaten sowie an den Grundprinzipien der UN-Charta fest – das gilt auch für die Ukraine. (2) China hält an dem Konzept einer allgemeinen, umfassenden, kooperativen und nachhaltigen Sicherheit fest – es geht davon aus, dass das Sicherheitsbedürfnis des Einen nicht auf Kosten des Anderen gehen darf – dass die Ausweitung von Sicherheitsblöcken keinen Beitrag zur Garantie regionaler Sicherheit darstellen kann – und man sich von der Kalten-Krieg-Mentalität vollständig verabschieden muss. Nach fünf Runden der NATO-Osterweiterung müssen auch die legitimen Sicherheitsbedürfnisse Russlands Berücksichtigung finden. (3) China betrachtet die Situation in der Ukraine mit Sorge und fordert alle Seiten auf, sich um Zurückhaltung zu bemühen und zu verhindern, dass es zu einer humanitären Katastrophe kommt. (4) China unterstützt ausdrücklich jeden Versuch, eine diplomatische Lösung herbeizuführen und begrüßt jedwede direkten Gespräche zwischen Russland und der Ukraine. Die Krise ist in einem komplexen historischen Kontext entstanden – die Ukraine sollte mehr als Brücke zwischen Ost und West dienen, denn als  Frontlinie zwischen großen Mächten. China unterstützt die russisch-europäischen Bemühungen, sich auf Augenhöhe über die Sicherheit in Europa auszutauschen und einen ausgeglichenen, effektiven und nachhaltigen Sicherheitsmechanismus zu etablieren. (5) Die VR China geht davon aus, dass der UN-Sicherheitsrat eine konstruktive Rolle spielen sollte, die Ukraine-Frage zu lösen, wobei regionaler Frieden und Stabilität genauso eine Rolle spielen müssten, wie die Sicherheit aller Staaten. Dafür müssen die Aktionen des Sicherheitsrates eher dazu beitragen, die Spannungen zu reduzieren, als weiter Öl ins Feuer zu gießen: Diplomatische Gespräche sind zur Lösung besser geeignet, als die Situation weiter zu eskalieren. China sei immer dagegen gewesen, mutwillig das Kapitel VII zu zitieren, um Sanktionen und  Waffeneinsatz zu rechtfertigen. Wang Yi fügte diesem Statement am 28. Februar noch zwei Punkte hinzu, die vielleicht auch als Antwort auf Mützenich zu verstehen sind: China hält nichts davon, Probleme mithilfe von Sanktionen lösen zu wollen und widerspricht einseitigen und ohne Basis im internationalen Recht ausgerufenen Sanktionen. Sie seien nicht nur verlustreich, sie würden dem Prozess einer politischen Lösung nur im Wege sein.

Die Position Chinas im UN-Sicherheitsrat wird sich nicht gegen eine Mehrheit in der Sondersitzung der UN-Generalversammlung durchsetzen – sie wird nicht einmal formuliert sein. Zur Debatte steht nämlich nicht das Verhalten der NATO und dessen Anteil an einer Herbeiführung des Konfliktes an sich, sondern der Einmarsch Russlands.

Das Verhalten der VR China wird in Westeuropa medial im Kontext einer Annäherung der VR an Russland abgehandelt: Sichtbar z.B. bei den kürzlich abgehaltenen Olympischen Winterspielen in Beijing. Der Tenor war und ist: Zwei große Autokratien rücken enger zusammen. Die VR China hat viel zu „verlieren“ bei dieser Annährung, heißt es weiter, denn sowohl die USA, wie auch Europa sind große Handelspartner der chinesischen Volkswirtschaft. China ist vom Musterknaben, der sich unter der Führung von Deng Xiaoping aus dem Maoismus gelöst und dem Westen geöffnet hat, zu einem neuerdings wieder als „rot“ zu bezeichnenden Riesen gewandelt. Die VR China ist eine globale Wirtschaftsmacht geworden, die sich so gar nicht verhält, wie man es gern hätte. Nun wird also Chinas Positionierung im Ukrainekonflikt ein weiterer Baustein sein, die Blockkonfrontation auszuweiten oder zuzuspitzen: Willkommen im Kalten Krieg.

Der Blog von Wang Zichen, „Pekingnology“, erinnerte kürzlich an einen Beitrag von Prof. Tang Shiping, einem angesehenen Politikwissenschaftler der Fudan Universität in Shanghai (Ukraine as a Solution): „Unglücklicherweise ist es nicht einmal in einem längerfristigen Interesse sinnvoll für die Ukraine, sich der NATO anzuschließen. Die harte Realität ist doch, dass wenn die NATO die Ukraine in ihre Reihen zieht oder die russophoben Eliten in der Ukraine ihrer geografischen Lage entkommen wollen indem sie sich der NATO anschließen, die russische Bevölkerung in der Ukraine vielleicht eine Sezession fordert. Ist das dann der Fall, sind ein Bürgerkrieg und die Aufteilung der Ukraine entlang ethnisch-geografischer Linien nicht unwahrscheinlich. Und wenn es dann zum Ziehen und Stoßen kommt, werden die USA und die NATO ggf. nur daneben stehen, wie sie es in Georgien getan haben: Kein zurechnungsfähiger US- oder EU-Politiker wird einen Krieg mit der Atommacht Russland riskieren, wenn Russland entscheidet, unter dem Vorwand in einen Bürgerkrieg einzugreifen, der Russen in der Ukraine tötet, die Ukraine aufzuteilen.“ [übers. As]

Pikant an der Einsicht: Sie wurde schon 2009 geäußert. Das ist es wohl, was der UN-Botschafter Chinas zum Ausdruck brachte.

Der Eifer, mit dem die Ampel-Politiker*innen die scheinbar lang etablierte Maßgabe der Zurückhaltung bei der Aufrüstung über Bord werfen, ist erschreckend. Diesen Feuereifer hätte man sich bei Fragen des sozialen Ausgleichs oder der Reform unseres Gesundheitssystems in Deutschland gern gewünscht – aber so ist es ja nicht: Es wird schon seit längerem munter aufgerüstet und der Krieg kommt gerade recht, all die Finanzlöcher zu stopfen, die man in den letzten Jahren geschaufelt hat. Erschreckend ist aber auch etwas anderes: Der Tunnelblick, mit dem man in die Eskalation schlittert, wird zum Maß der Dinge erhoben, Widerworte werden abqualifiziert.

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