Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de

IMI-Analyse 2021/43

Die neue Arktis-Strategie der EU

Die Europäische Union verspricht Frieden und sucht Streit

Ben Müller (26.10.2021)

Die Europäische Union entwickelt sich immer stärker zu einem Militärbündnis. Dafür stehen unter anderem Rüstungsgroßprojekte wie FCAS, die „Ständige Strukturierte Zusammenarbeit“ PESCO, die militarisierte Grenzüberwachung im Rahmen von FRONTEX oder Militär-Trainingsmissionen wie in Mali. Da wundert es nicht, dass der von Großmachtkonkurrenz geprägte Blick auch Einzug in die neue Arktis-Strategie[1] der EU hält.

Verstärktes Engagement der EU

Die EU verfügt durch ihre Mitgliedsstaaten Schweden und Finnland über Territorium nördlich des Polarkreises. Die autonome Region Grönland gehört zwar nicht zur EU, wird aber außenpolitisch von Dänemark vertreten. Außerdem gehören Norwegen und Island zum Europäischen Wirtschaftsraum. Ihr Engagement in der Arktis begründet die EU aber als „geopolitische Notwendigkeit“, da Herausforderungen in der Arktis über nationale Grenzen hinausreichen: „Durch das vermehrte Interesse an der Nutzung der arktischen Ressourcen und Transportrouten könnte die Region zum Schauplatz eines lokalen und geopolitischen Wettbewerbs und möglicher Spannungen werden, die die Interessen der EU gefährden.“ (S. 2)[2]

Vordergründig stützt sich das am 13. Oktober 2021 in Form einer Gemeinsamen Mitteilung der EU-Kommission und des EU-Außenbeauftragten veröffentlichte Papier auf die gleichen drei Bereiche, die auch schon in der Vorgängerversion von 2016[3] als Aufgaben benannt waren: friedliche Zusammenarbeit in der Arktis, Klimawandel und Innovationen für nachhaltige Entwicklung. Neu ist allerdings ein Abschnitt über sicherheitspolitische Herausforderungen, in dem Russland und China explizit als Akteure genannt werden. Während China eher beiläufig Erwähnung findet, wird Russland für „militärische Aktivitäten“ und ein „erhöhtes Selbstbewusstsein in arktischen Gewässern und Lufträumen“ (S. 3) verantwortlich gemacht. Die EU vergisst dabei auch nicht, darauf hinzuweisen, dass „dies auch die Folgen des Klimawandels weiter verschärfen“ (ebd.) könnte.

Einerseits ist zu begrüßen, dass die EU hier einen Zusammenhang zwischen Militäraktivitäten und Klimawandel erkennt. Andererseits scheint sich diese Erkenntnis nur auf das russische Militär zu beziehen und nicht auf das Militär ihrer Verbündeten. Die EU will „mit ihren Partnern, u. a. den USA, Kanada, Norwegen und Island und im Rahmen des umfassenderen laufenden Austauschs über Klimawandel und Sicherheit auch mit der NATO, bei der strategischen Vorausschau zusammenarbeiten“ (S. 4). Dabei setzt sie stark auf Satellitenüberwachung mit den Programmen Copernicus und Galileo, für die auch zahlreiche zivile Anwendungen aufgeführt werden.

Außerdem widmet sich das Strategiepapier den arktischen Rohstoffen. Mit Blick auf die Pariser Klimaziele spricht sich die EU zwar dafür aus, „dass Erdöl, Kohle und Erdgas auch in den arktischen Regionen im Boden bleiben“ (S. 13). Beim Abbau anderer Rohstoffe sieht die EU aber einen stattfindenden Wettlauf, von dem sie selber profitieren will: „Andere globale Akteure agieren bereits zügig, um ihre Versorgung zu sichern. Der Zugang zu ausreichenden Ressourcen ist für die strategische Autonomie der EU von entscheidender Bedeutung. Die EU muss auch ihre Beschaffung von außerhalb der EU diversifizieren, um der wachsenden Nachfrage gerecht zu werden.“ (S. 12)

Die EU möchte vor allem ihre Abhängigkeit von chinesischen Rohstoffen verringern: „Für viele kritische Mineralien ist die EU von einigen wenigen Quellenländern bzw. von einem einzigen abhängig; so liefert China beispielsweise 98 % der Seltenerdmetalle und 93 % des Magnesiums.“ (S. 11) Um die arktischen Staaten mit reichen Ressourcenvorkommen zu einer Kooperation zu bewegen, verspricht die EU eine innovative, nachhaltige Rohstoffgewinnung auf der Grundlage von europäischen Werten.

Stimmungsmache im EU-Parlament

Eine Woche vor der Veröffentlichung der neuen Arktis-Strategie wurde im Europäischen Parlament eine Resolution zur Arktis[4] verabschiedet. Da dieser Text in der Auseinandersetzung mit Russland und China ausführlicher ist, lohnt sich seine genauere Betrachtung.

Der Text „begrüßt, dass die Stabilität der Arktis seit langem von Konflikten in anderen Teilen der Welt relativ unbeeinflusst geblieben ist, und betont, wie wichtig es ist, Ausstrahlungseffekte geopolitischer Entwicklungen in anderen Regionen auf die Arktis zu verhindern“ (Punkt 15.).[5] Gleichzeitig stützt sich die Beschreibung von Russland und China aber genau auf Konflikte in anderen Regionen, die damit auf die Arktis projiziert werden. Zum Beispiel heißt es: „dass Russland die Souveränität und territoriale Integrität seiner friedlichen Nachbarstaaten verletzt hat und gegen die Freiheit der Schifffahrt im Asowschen Meer, im Schwarzen Meer und in der Ostsee verstößt, was bei der Bewertung künftiger Szenarien für die Aufrechterhaltung der derzeitigen friedlichen Koexistenz in der Arktis nicht außer Acht gelassen werden darf“ (Punkt AE.). Und chinesische Investitionen in der Arktis werden mit dem Zusatz „die an die Vorgehensweise des Landes in anderen Teilen der Welt erinnern“ (Punkt 20.) bewertet.

Mit Blick auf Russland werden auch gesellschaftliche und wirtschaftliche Zustände bedauert, etwa „die Bemühungen der russischen Regierung, die Zivilgesellschaft zu gängeln“ (Punkt 48.) oder der „eingeschränkte Zugang von Journalisten und Sachverständigen zu den Unfallorten“ (Punkt 34.) oder „dass russische Unternehmen Investitionen in den Umweltschutz und Produktionsanlagen weiterhin auf ein absolutes Minimum reduzieren, um so schnell wie möglich den größtmöglichen Gewinn zu erzielen“ (Punkt 35.). Selbst die Ölpest bei Norilsk[6] (Punkt 34.) wird anscheinend als Argument gegen Russland ins Feld geführt.

Was China betrifft, sagt die Resolution, dass „Chinas weitreichende Projekte und Initiativen Anlass zu großer Sorge“ (Punkt AF.) geben. Auffällig ist allerdings, dass das EP an China genau das kritisiert, was die EU selber in der Arktis anstrebt. China ist seit 2013 Beobachter im Arktischen Rat, die EU darf zwar in Arbeitsgruppen des Arktischen Rats mitarbeiten, hat aber formal noch keinen Beobachterstatus. China verfolgt Programme zum Bau neuer Eisbrecher, und das EP „fordert die Mitgliedsstaaten und andere Partnerländer auf, ihre eigenen Kapazitäten in diesem Bereich aufzubauen“ (Punkt 25.). China hat Forschungsstationen und Satelliten in der Arktis, und auch die EU betrachtet ihre Forschungsarbeit und Satellitenbeobachtung als wichtigen Teil ihrer Arktis-Strategie.

Um sich beim Abbau von arktischen Bodenschätzen gegenüber der chinesischen Konkurrenz durchzusetzen, fordert der Text „die Staaten des arktischen Raums nachdrücklich auf, ausländische Investitionen in ihre Einrichtungen und Infrastruktur von strategischer Bedeutung sorgfältig zu überprüfen“ (Punkt 20.). Außerdem soll die „Widerstandsfähigkeit gegenüber potenziellem Druck vonseiten Chinas oder anderer Akteure“ (Punkt 65) gestärkt werden, um umweltfreundlichen und nachhaltigen Methoden der Rohstoffgewinnung den Vorrang einzuräumen. In diesem Zusammenhang wird auch die East StratCom Task Force aufgefordert, „Kampagnen zu beobachten, durch die die Entscheidungsfindung in Bezug auf die Gewinnung von Bodenschätzen in der Region beeinflusst werden sollen“ (ebd.).

An mindestens drei Punkten wird deutlich, wie der Text mit zweierlei Maß misst. Erstens vertritt er die Auffassung, dass die Nördliche Seeroute „von Russland fälschlicherweise als Binnenwasserstraße geltend gemacht wird“ (Punkt AC) und verurteilt die russischen Einschränkungen der Schifffahrt (Punkt 27.). Dass aber auch Kanada einen Großteil der Nordwestpassage als Binnengewässer betrachtet und sich entsprechende Einschränkungen vorbehält, wird mit keinem Wort erwähnt. Zweitens geht der Text zwar ausführlich auf die russischen Militäraktivitäten in der Arktis ein, blendet aber die Aktivitäten der anderen arktischen Staaten komplett aus. Insbesondere die USA haben in den letzten Jahren ihre Militärpräsenz in der Arktis mit Kriegsschiffen und Bomberpatrouillen stark ausgebaut. Und drittens beschränkt der Text seine Sorge, dass bei der Öl- und Gasförderung Umweltstandards nicht eingehalten werden, auf Russland und Privatunternehmen aus anderen Ländern. Dabei setzt auch die neue norwegische Regierung unbeirrt auf die Ausbeutung fossiler Energierohstoffe,[7] und die USA der Trump-Administration hatte noch im Januar 2021 wenige Tage vor dem Amtswechsel Öl-Bohrlizenzen im Naturschutzgebiet „Arctic National Wildlife Refuge“ versteigert.[8]

Auch wenn die EP-Resolution einige unterstützenswerte Punkte zu Umweltschutz und die Eindämmung der Folgen des Klimawandels enthält, wird sie dem Titel ihrer Pressemitteilung[9] „Frieden wahren, Spannungen abbauen“ nicht gerecht. Zu deutlich ist, dass der Text als Gelegenheit genutzt wird, Stimmung gegen Russland und China zu machen.

Fischerei um Svalbard

Betrachtet man die praktische Politik der EU in der Arktis, so muss man feststellen, dass sie nicht nur von Kooperation geprägt ist. Zum Beispiel gibt es starke Meinungsverschiedenheiten mit Norwegen über die Fischerei rund um die Inselgruppe Svalbard. Durch den Spitzbergenvertrag genießt Svalbard eine Sonderstellung. Während Norwegen dort die Souveränität ausübt, dürfen sich Bürger aus allen Staaten, die dem Vertrag beigetreten sind, auf dem Archipel niederlassen und wirtschaftlich betätigen. Norwegen darf seine eigenen Staatsbürger nicht bevorzugen und muss Steuereinnahmen aus Svalbard wieder in Svalbard investieren. Verglichen mit modernem Seerecht ist der Spitzbergenvertrag von 1920 allerdings unpräzise formuliert und lässt offen, ob der Sonderstatus auch jenseits der Territorialgewässer gelten soll.

1977 hat Norwegen die 200-Meilen-Zone um Svalbard zu einem Fischereischutzgebiet erklärt. Die seitdem vergebenen Fangquoten beruhen auf historischen Fangmengen aus der Zeit vor diesem Datum. Während die EU sich bisher an die ihr zugewiesenen Fangquoten gehalten hatte, akzeptierte sie den 2015 durch Norwegen eingeführten Fang-Stopp für Schneekrabben nicht. Obwohl die norwegische Küstenwache 2016 und 2017 Fischer aus Litauen und Lettland festgenommen hatte und die norwegische Position vom Obersten Gericht Norwegens bestätigt wurde, verteilte der Europäische Rat bis 2018 eigenmächtig 20 Lizenzen zum Fang von Schneekrabben bei Svalbard an Estland, Lettland, Litauen, Polen und Spanien.[10]

Aktuell gibt es einen neuen Fischereistreit zwischen der EU und Norwegen. Diesmal geht es um die Fangquoten für Kabeljau und anderen Fisch im Fischereischutzgebiet um Svalbard. Die EU hält unverändert an ihren Quoten aus dem Vorjahr fest, aber Norwegen argumentiert, dass die Quoten nach dem Brexit um die historischen Fangmengen Großbritanniens verringert werden müssen. Für die norwegische Sichtweise spricht, dass die europäischen Fangquoten bei der EU-Erweiterung um die Quoten der jeweiligen Neumitglieder erweitert wurden. In einer Protestnote wirft Norwegen der EU vor, seine Souveränität und Gerichtsbarkeit in der Arktis nicht zu beachten und stellt in Frage, ob die EU damit einen Beobachterstatus im Arktischen Rat erhalten kann.[11]

Militarisierung mit europäischen Werten

Der Blick auf die Arktis unter harten Sicherheitserwägungen ist auch in den EU-Mitgliedstaaten Dänemark, Schweden und Finnland erkennbar. Bereits Anfang 2021 hat Dänemark seine Ausgaben für die Verteidigung Grönland um 1,5 Mrd. Kronen (ca. 200 Mio. Euro) aufgestockt, um in Langstreckendrohnen und Radarüberwachung zu investieren.[12] Das formal neutrale Schweden hat angekündigt, neue Militärbasen im Norden des Landes zu errichten und eventuell sein im Jahr 2000 aufgelöstes „Lapland Ranger Regiment“ wieder aufzubauen.[13] Und Finnland plant, sein Militär um 500 Soldaten zu erweitern und mit Blick auf Cyber-Kriegsführung umzustrukturieren; auch eine NATO-Mitgliedschaft schließt Finnland nicht aus.[14]

Außerdem wird die militärische Zusammenarbeit zwischen EU-Staaten und den arktischen NATO-Mitgliedern erweitert. Bereits im September 2020 haben die Verteidigungsminister von Norwegen, Schweden und Finnland eine stärkere Kooperation vereinbart. Das Abkommen wurde demonstrativ auf dem norwegischen Truppenübungsplatz Porsangmoen unterzeichnet, etwa 200 km von der russischen Grenze entfernt.[15] Und die Staaten Norwegen, USA und Kanada wurden im Mai 2021 von der EU eingeladen, sich am PESCO-Projekt „Militärische Mobilität“ zu beteiligen, mit dem Militärtransporte über Staatengrenzen hinweg erleichtert werden sollen.[16]

Es ist zwar unwahrscheinlich, dass die EU in der Arktis eine militärische Auseinandersetzung mit Russland oder gar China anstrebt. Die konfrontative Stimmungsmache, die sich vor allem in der Parlaments-Resolution wiederfindet, dient wahrscheinlich eher dazu, beide Länder weiter zu isolieren, um vielleicht eine kriegerische Handlung in einer anderen Region oder im Cyberspace vorzubereiten. Mit ihrem unverhohlenen Drang nach arktischen Bodenschätzen und Meeresressourcen sowie dem Anstreben militärischer Stärke trägt die EU aber auch nicht zu einer friedlichen, kooperativen Arktis bei. Ob das Anpreisen von grünen Innovationen zum Rohstoffabbau mehr als nur ein leeres Versprechen ist, bleibt offen. Zumindest die indigene Sámi-Bevölkerung betrachtet Bergbauprojekte grundsätzlich als Bedrohung ihrer traditionellen Lebensweise, auch wenn dort europäische Werte aufgemalt sind.[17]

Anmerkungen


[1] A stronger EU engagement for a peaceful, sustainable and prosperous Arctic, 13.10.2021 eeas.europa.eu

[2] Zitiert nach der deutschsprachigen Übersetzung: Verstärktes Engagement der EU für eine friedliche, nachhaltige und prosperierende Arktis, eeas.europa.eu

[3] An integrated European Union policy for the Arctic, 27.4.2016 eeas.europa.eu

[4] The Arctic: opportunities, concerns and security challenges, 7.10.2021 europarl.europa.eu

[5] Zitiert nach der deutschsprachigen Übersetzung: Die Arktis: Chancen, Bedenken und Sicherheitsherausforderungen, europarl.europa.eu

[6] Am 29.5.2020 sind bei Norilsk aus einem defekten Tank 21.000 Kubikmeter Dieselöl ausgelaufen und haben zu weiträumigen Verschmutzungen von Böden und Gewässern geführt.

[7] Victoria Klesty: Norway will keep exploring for oil and gas, new center-left government says, 13.10.2021 arctictoday.com

[8] Emily Holden: Trump auction of oil leases in Arctic refuge attracts barely any bidders, 6.1.2021 theguardian.com Das Schutzgebiet ANWR im Nord-Osten Alaskas ist Heimat der indigenen Gwich’in-Volksgruppe und bietet Lebensraum für Karibus und andere Säugetiere sowie zahlreiche Fisch- und Vogelarten. Die Biden-Administration bemüht sich, die Erlaubnis zur Ölförderung rückgängig zu machen.

[9] Arktis: Frieden wahren, Spannungen abbauen, 7.10.2021 europarl.europa.eu

[10] Andreas Østhagen, Andreas Raspotnik: Crabtacular! Snow Crabs on their March from Svalbard to Brussels, 24.4.2018 thearcticinstitute.org

[11] Zachary Lavengood: Arctic Politics and the EU-Norway Fishing Dispute, 5.10.2021 thearcticinstitute.org

[12] Jacob Gronholt-Pedersen: Denmark boosts Arctic defense spending, 11.2.2021 arctictoday.com

[13] Atle Staalesen: Swedish rangers might return to Lapland, 6.10.2021 thebarentsobserver.com

[14] Saara-Maria Salonen: Finish Government Defence Report concentrates on cybersecurity and the significance of Arctic areas, 11.10.2021 thebarentsobserver.com

[15] Atle Staalesen: It is time to strengthen Nordic security, say ministers as they sign landmark defense deal, 24.9.2020 thebarentsobserver.com

[16] US, Canada and Norway invited to join EU PESCO project Military Mobility, 6.5.2021 permanentrepresentations.nl

[17] Thomas Nilsen: Miners hunting for metals to battery cars threaten Sámi reindeer herders‘ homeland, 9.7.2020 thebarentsobserver.com

------------

Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de