Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de

IMI-Standpunkt 2021/001 - in: Graswurzelrevolution (Dezember 2020)

Umkämpfte Technologie

Künstliche Intelligenz und ihre militärische Verwendung - Prozess gegen Antimilitaristen

Christoph Marischka (07.01.2021)

In Tübingen gibt es Proteste gegen die kommerziell vorangetriebene Entwicklung von Künstlicher Intelligenz (KI) und deren militärische Anwendung. Nun wird Aktivist*innen wegen Hausfriedensbruch der Prozess gemacht.

Ende November 2020 stand in Tübingen ein Aktivist vor Gericht, weil er ein Jahr zuvor während einer Sitzung des Gemeinderates Passagen aus einem Thesenpapier des Amtes für Heeresentwicklung verlesen hatte, bis ihn die Polizei aus dem Saal begleitete. Vorgeworfen wurde ihm nun Hausfriedensbruch, weil er sich nicht an die Redeleitung des Oberbürgermeisters Boris Palmer gehalten hatte. Dieser erstattete Anzeige im Namen des Gemeinderats. Der Aktivist wurde zu 50 Tagessätzen á 30 Euro verurteilt.

Vor dem Gericht zeigten sich unter Pandemie-Bedingungen knapp achtzig Menschen solidarisch. Aufgerufen hatte das „Bündnis gegen das Cyber Valley“. Beim Cyber Valley handelt es sich um ein Kooperationsprojekt zwischen Industrie, Politik, den Universitäten Stuttgart und Tübingen und der Max-Planck-Gesellschaft. Ziel ist es, die Region im Südwesten Deutschlands zum europaweit größten und weltweit sichtbaren Zentrum für die Entwicklung Künstlicher Intelligenz zu machen. Hierfür soll nach dem Vorbild des Silicon Valley in Kalifornien ein „Ökosystem“ geschaffen werden, das die schnelle Kommerzialisierung neuer Erkenntnisse aus der Wissenschaft ermöglichen soll. Als Dreh- und Angelpunkt gelten hierbei Startups und – damit verbunden, aber weniger deutlich artikuliert – Risikokapital sowie Großkonzerne, die diese im Erfolgsfalle übernehmen sollen. Auch deshalb wurde von den Beteiligten am Cyber Valley immer wieder betont, dass auch das Plattformunternehmen Amazon beteiligt sein müsse und entsprechender Druck aufgebaut, damit der Weltkonzern ein Entwicklungszentrum in Tübingen bauen dürfe. Eben hierüber wurde in der betreffenden Gemeinderatssitzung entschieden. Zwei Drittel des Gemeinderats stimmten trotz massiver Proteste für den Verkauf öffentlicher Flächen (für eine halbe Mio. Euro), auf denen das Amazon-Gebäude mittlerweile fast fertiggestellt wurde.

Das verlesene Thesenpapier der Bundeswehr trug den Titel „Künstliche Intelligenz in den Landstreitkräften“. Der Aktivist wollte damit unterstreichen, dass KI nicht nur irgendeine Technologie ist, sondern entsprechende Entwicklungen von Militärs und der Rüstung aufmerksam beobachtet und aktiv mit vorangetrieben werden, um sie auf den Schlachtfeldern der Zukunft zur Anwendung zu bringen. Die Befürchtung, das Cyber Valley werde die Region in einen Rüstungsstandort transformieren, war von Anfang an eine wesentliche Motivation der Proteste gegen das Projekt. Schließlich entstand das US-amerikanische Vorbild, das Silicon Valley, aus umfangreichen Rüstungsprogrammen im „Kalten Krieg“ und ist Standort vieler Militärdienstleister.

Etwa zeitgleich mit der Gründung des Cyber Valley wurde 2016 ein Startup in Tübingen vom Unternehmen Atos übernommen, das für die Cloud-Dienstleistungen der deutschen und französischen Streitkräfte zuständig ist. Daimler und der Rüstungskonzern ZF Friedrichshafen waren von Anfang an am Projekt beteiligt und nur wenig später stieg Amazon ein, das sich zugleich um einen der größten Dienstleistungsverträge beim Pentagon bewarb (Project JEDI), um dem US-Militär KI-Anwendungen zugänglich zu machen. Später wurde bekannt, das einige der am Cyber Valley beschäftigten Wissenschaftler*innen auch an einem Projekt im Auftrag der Forschungsbehörde der US-Geheimdienste, der IARPA, beteiligt sind.

Während das Cyber Valley von Oben herab und ohne jede öffentliche Debatte beschlossen und mit aller Gewalt durchgesetzt wurde, führten die Proteste dazu, dass in Tübingen eine intensive Debatte über Technologien geführt wurde und wird, die sich nicht auf Begriffshülsen wie „KI“ und abstrakte „Chancen und Risiken“ reduziert, sondern die konkreten Bedingungen und Interessen ausleuchtet, aus denen Technologien hervorgehen.

Das „Bündnis gegen das Cyber Valley“ hat in einer Stellungnahme zum Urteil gegen den Aktivisten angekündigt, diese Auseinandersetzung auch in der Zukunft weiter voranzutreiben. Neben der aktiven Beteiligung hat es auch zur Solidarität aufgerufen, denn neben dem bereits verurteilten Antimilitaristen stehen noch zwei weitere Verhandlungen – ebenfalls wegen Hausfriedensbruch im Gemeinderat – an. Unterstützen kann man die Betroffenen unter dem Stichwort „Amazno“ über das Konto der DFG-VK Stuttgart (IBAN: DE32 4306 0967 4006 1617 40).

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