Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de

IMI-Analyse 2020/18

An der Grenze der Verfassung und darüber hinaus

Bundeswehr mobilisiert 15.000 Soldat*innen für Corona-Einsatz im Inland

Martin Kirsch (30.03.2020)

Korrigierte und grundlegend überarbeitete Version des Artikels „Verfassungsbruch in Vorbereitung“ vom 27. März 2020 (IMi-Standpunkt 2020/10). Die vorherige Version ist nicht ausreichend auf aktuelle Interpretationen des Grundgesetzes eingegangen, die eine komplexere juristische Beschreibung erfordern, ohne dass sich dadurch allerdings der Kern der ursprünglichen Argumentation ändern würde. Danke für entsprechende Hinweise!

In den letzten zwei Wochen liefen die Vorbereitungen für einen großen Inlandseinsatz der Bundeswehr in kleinen Schritten. Am 14. März forderte Bayerns Ministerpräsident Söder einen flächendeckenden Inlandseinsatz der Bundeswehr. In der Bundespressekonferenz am 19. März präsentierte Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer die Strategie der Bundeswehr für ihren Einsatz gegen die Corona-Pandemie. Dabei brachte sie auch den Einsatz von Soldat*innen für den Objektschutz von Kritischer Infrastruktur in Deutschland ins Gespräch. Generalinspekteur Zorn beschwichtigte, indem er behauptete, die Bundeswehr werde keine Ausgangssperren überwachen, oder „Corona-Partys“ auflösen. Durch einen Bericht der Stuttgarter Zeitung am 26. März wurde bekannt, dass das Innenministerium von Baden-Württemberg mit der Bundeswehr im Gespräch ist, ob nicht Soldat*innen, die wegen hohen Krankenstands geschwächte Polizei unterstützen könnten. Damit stehen auch gemeinsame Patrouillen von Polizist*innen und bewaffneten Soldat*innen in der Öffentlichkeit im Raum. Am 27. März übertraf ein Bericht des Spiegels dann alle Befürchtungen: Die Bundeswehr macht mobil.

Auf welcher Rechtsgrundlage die geplanten Einsätze stehen sollen, ist bisher vollkommen unklar. Zu dieser elementaren Frage findet sich auch in Statements und Interviews aus Verteidigungsministerium und Bundesregierung momentan nichts. Auf die Frage: „Steht die Bundeswehr dann auch bereit, Straßensperren zu errichten, Ausgehverbote durchzusetzen, notfalls mit Waffengewalt?“, antwortete Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer in einem Interview mit der FAZ am 28. März – also nach Bekanntwerden der Mobilmachung – mit einem relativierenden Statement: „Nein, ich kann mir das, so wie sie es schildern, nicht vorstellen. Das gibt die Rechtslage in Deutschland nicht her“. Die zentrale Frage, was die auch für „Absicherung“, „Schutz“, „Ordnungs-“ und „Verkehrsdienst“[1] in Bereitschaft stehenden Soldat*innen, mit welchen Rechten gegenüber der Bevölkerung allerdings tun sollen, wurde nicht gestellt.

Mobilisierung für den Inlandseinsatz

Laut Spiegel sollen bis zum 3. April – über die bereits arbeitenden Strukturen des Sanitätsdiensts der Bundeswehr hinaus – 15.000 Soldat*innen für den Einsatz im Inland bereitstehen. Nach aktuellen Plänen sind 6.000 Soldat*innen für die nicht weiter definierte „Unterstützung der Bevölkerung“, 2.500 Logistiksoldat*innen mit 500 Lastwagen für „Lagerung, Transport, Umschlag“ und 18 Dekontaminationsgruppen mit etwa 250 Soldat*innen der ABC-Abwehr für Desinfektionsaufgaben vorgesehen. Darüber hinaus sollen allerdings auch über 6.000 Soldat*innen, 5.500 für „Absicherung/Schutz“ und 600 Militärpolizist*innen der Feldjäger für „Ordnungs-/Verkehrsdienst“ einsatzbereit gemacht werden.

Um diesen, in der bisherigen Geschichte der BRD nicht gekannten Großeinsatz der Bundeswehr zu führen, werden Generalleutnant Martin Schelleis, dem Nationalen Territorialen Befehlshaber der Bundeswehr, vier regionale Stäbe unterstellt. Dabei handelt es sich allerdings nicht um die bisher in Katastropheneinsätzen, wie bei Hochwasser und extremen Schneefällen, erprobten Strukturen der Zivil-Militärischen-Zusammenarbeit. Stattdessen werden die Führungsstrukturen der Kampftruppen der Bundeswehr aktuell als regionale militärische Führungsstrukturen vorbereitet.

So soll das Marinekommando in Rostock für Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein und Hamburg und das Luftwaffen-Kommando in Berlin für Berlin und Brandenburg zuständig sein. Die 1. Panzerdivision des Heeres in Oldenburg soll die Soldat*innen in Bremen, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Nordrhein-Westfalen führen und die 10. Panzerdivision im bayerischen Veitshöchheim das Kommando für Bayern, Baden-Württemberg, Sachsen, Thüringen, Hessen, Rheinland-Pfalz und das Saarland übernehmen. Abgesehen von 250 Soldat*innen der ABC-Abwehr und 600 Feldjäger*innen, die weiter unter dem Kommando der Streitkräftebasis und damit im direkten Einfluss von General Schelleis stehen sollen, ist geplant, die weiteren über 14.000 Soldat*innen den vier Regionalstäben zu unterstellen.[2]

Die Bereitschaft von knapp 9.000 Soldat*innen für „Unterstützung der Bevölkerung“, Logistik und ABC-Abwehr lässt sich, unabhängig von weiterer Kritik daran, mit dem Artikel 35 des Grundgesetzes (Amts- und Katastrophenhilfe) juristisch problemlos rechtfertigen. An die Grenzen des Grundgesetzes und darüber hinaus geht der geplante Einsatz von über 6.000 Soldat*innen und Feldjäger*innen für Polizei(ähnliche) exekutive Aufgaben im Inland.

Mit welchem Recht?

Seit den Notstandsgesetzen von 1968, die den Inlandseinsatz der Bundeswehr juristisch überhaupt erst ermöglichten, galt die gängige politische und juristische Interpretation, dass nur zwei Paragraphen im Grundgesetz den Einsatz von Soldat*innen für polizeiliche Aufgaben innerhalb Deutschlands ermöglichen würden.[3] Gegen massive Kritik von Gewerkschaften, Kirchen, Student*innen, Bürgerrechtler*innen und Antifaschist*innen bis hin zu Polizeigewerkschaftlern von der Großen Koalition 1968 durchgesetzt, handelt es sich dabei um den Artikel 87a, Abs. 4 GG, den sogenannten Inneren Notstand. Dieser greift ausschließlich, wenn der Bund, ein Land oder die Verfassungsordnung als solche, durch militärisch organisierte und bewaffnete Aufstände bedroht wären. Erst wenn in einem solchen Fall die Polizeikräfte zu deren Bekämpfung nicht ausreichen würden, dürfte die Bundeswehr eingesetzt werden, um „beim Schutze von zivilen Objekten und bei der Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer“ eingesetzt zu werden.

Die zweite Option wäre der Spannungs- und Verteidigungsfall nach Artikel 115a GG, also der Moment, in dem die Bundesregierung die Kriegsvorbereitung oder den Kriegseintritt Deutschlands erklärt. Erst dann wäre nach Artikel 87a, Abs. 3 GG ein Einsatz der Bundeswehr möglich, um im Inland „zivile Objekte zu schützen und Aufgaben der Verkehrsregelung wahrzunehmen“, wenn diese dem Verteidigungsauftrag dienen. Darüber hinaus wäre es möglich, in Kooperation mit zivilen Behörden, „zivile Objekte [zu] schützen“, um damit polizeiliche Maßnahmen zu unterstützen.

Beide Optionen sind damit für den aktuellen Fall einer Pandemie offensichtlich ausgeschlossen.

Lange galt es als gesetzt, dass die im Grundgesetzartikel 35, Abs. 1 geregelte Option der Amtshilfe ausschließlich für technische und logistische Unterstützung gilt. Auch in aktuellen Veröffentlichungen vertritt die Bundeswehr selbst diesen Standpunkt: „Zusätzliche hoheitliche Eingriffsbefugnisse ergeben sich dabei für die Bundeswehr nicht. Es handelt sich nur um sogenannte ‚technische‘ Unterstützung.“[4] Ähnliches galt nahezu uneingeschränkt bis 2012 auch für die Katastrophenhilfe (bzw. Katastrophennotstand) in Artikel 35, Abs. 2 und 3. Danach kann die Bundeswehr bei Naturkatastrophen (z.B. Flut, extremer Schneefall, großer Waldbrand) und besonders schweren Unglücksfällen (z.B. Zugunglück, Chemie-, oder Reaktorunfall) in der Form Hilfe leisten, wie sie auch der zivile Katastrophenschutz (Feuerwehr, THW und Rettungsdienste) leisten würde. Damit schien klar, dass polizeiliche Aufgaben für die Bundeswehr in diesem Rahmen inakzeptabel wären. Als einzige Ausnahme im Rahmen der Katastrophenhilfe galt das Regeln des Verkehrs und das aussprechen von Platzverweisen durch Soldat*innen, um beispielsweise einen Hilfstransport an den vorgesehenen Ort zu bringen, oder einen Damm sichern zu können.[5]

Nimmt man den Text der Verfassung beim Wort, wird nicht ohne Grund der Schutz ziviler Objekte durch die Bundeswehr in Artikel 87a GG explizit erwähnt, in Artikel 35 GG allerdings nicht.

Auf Grundlage dieser gängigen Auslegung des Grundgesetzes drängen einige Akteure in der CDU/CSU, darunter Wolfgang Schäuble, seit 1993/94 auf eine Änderung des Grundgesetzes, um den Spielraum der Bundeswehr im Inneren zu erweitern.[6] Neuen Aufwind bekam diese Debatte im Rahmen der Terror-Hysterie seit dem 11. September 2001. Gepaart mit rassistischen Motiven nutzte Schäuble auch die Silvesternacht in Köln 2015/16, um die Debatte zu befeuern.[7] Zuletzt scheiterte die damalige Verteidigungsministerin, Ursula von der Leyen, an den Gegenstimmen des Koalitionspartners SPD, die Option auf einen Verfassungsänderung zur Erweiterung der Befugnisse der Bundeswehr im Inland, im Weißbuch von 2016 zu platzieren.

Umkämpfter Grundgesetzparagraph 35

Weil sich in den letzten gut 25 Jahren keine parlamentarischen Mehrheiten für eine Änderung des Grundgesetzes gefunden haben, wurde die grundlegende politische Frage über den Einsatz der Bundeswehr für polizeiliche Aufgaben im Inland zunehmend in das Feld der juristischen Interpretationen verlagert. Im Fokus dieser Auseinandersetzungen steht der Grundgesetzartikel 35 (Amts- und Katastrophenhilfe). Seit der Aufstellung der Strukturen für Zivil-Militärische-Zusammenarbeit innerhalb der Bundeswehr 2006/07 stieg die Nutzung des Amtshilfeparagraphen für Aktivitäten der Bundeswehr im Inland massiv an.[8] Neben der Bereitstellung von Zelten bis hin zu Schwimmbrücken bei zivilen Großveranstaltung oder der Unterbringung und Versorgung von Geflüchteten sowie der Bearbeitung von Asylanträgen 2015, gehören seit Jahren auch Unterstützungsleistungen für die Polizei dazu. Dabei handelt es sich um die Bereitstellung von Parkplätzen, Unterkünften und Verpflegung bei Großeinsätzen, aber auch die Nutzung von Trainingseinrichtungen des Militärs bis hin zur Bereitstellung von Überwachungstechnik und weiterem Material, samt Personal, für die Polizei im Rahmen von Gipfelereignissen (G8, G7, G20) – nicht aber, um den Einsatz von Soldat*innen für polizeiliche Aufgaben.

Ein elementarer Bruch in der Auslegung des Artikels 35 GG fand 2012 in Karlsruhe statt.[9] Das Verfassungsgericht urteilte – wegen Unstimmigkeiten unter den Richter*innen erst das vierte Mal in der Geschichte der BRD mit beiden Kammern gemeinsam – über das 2005 geänderte Luftsicherheitsgesetz. Darin war vorgesehen, von Terrorist*innen entführte zivile Flugzeuge abschießen zu dürfen. Zwar wurde der Abschuss von Flugzeugen als klar verfassungswidrig eingestuft, in der Urteilsbegründung aber ein Hintertürchen für bewaffnete Einsätze der Bundeswehr im Inland geöffnet. So entschieden die Richter*innen mit 15 zu einer Stimme, dass bei Terroranschlägen „katastrophischen Ausmaßes“, unter weiteren Einschränkungen, auch militärisch bewaffnete Soldat*innen gegen Terrorist*innen – als Ursache der Katastrophe – eingesetzt werden dürften.[10] In einer lesenswerten Erklärung, die im Urteilstext von 2012 enthalten ist, begründet Verfassungsrichter Reinhard Gaier seine Ablehnung. Darin argumentiert er, dass er diese Auslegung als Verfassungsänderung per Gerichtsbeschluss sehe, die dem Wortlaut und dem historisch begründeten Sinngehalt des Grundgesetzes widersprächen.[11]

Nach Informationen des Fachjournalisten Thomas Wiegold scheint sich die Bundeswehr auch für die aktuellen Ereignisse die Option offen zu halten, im Sinne des 2012er Urteils, in besonderen Ausnahmefällen und nach Freigabe der Verteidigungsministerin auch „spezifisch militärischer Waffen“ einzusetzen.[12]

Noch einfacher als das Verfassungsgericht machte es sich der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages 2016 mit seiner Stellungnahme zur „Übernahme von hoheitlichen Aufgaben der Polizei durch die Bundeswehr im Rahmen der Amtshilfe“.[13] Darin wird die einfache Gleichung aufgestellt, dass bei einer rechtlich zulässigen Amtshilfe der Bundeswehr für die Polizei auch die Armee als staatliche Behörde alle Mittel einsetzen dürfe, die der Polizei rechtlich zur Verfügung stehen: „Folglich darf danach die Bundeswehr, wenn sie der Polizei allgemeine Amtshilfe leistet, auch hoheitliche Maßnahmen übernehmen, jedoch nur solche, die auch die Polizei zulässigerweise durchführen dürfte. Militärische Mittel darf sie somit nicht einsetzen.“

Für diese Stellungnahme stützen sich die Jurist*innen des Bundestags maßgeblich auf einen 2015 veröffentlichten Grundgesetzkommentar, der von Horst Dreier, einem Würzburger Jura-Professor, herausgegeben wurde. Dreier gilt laut Spiegel als Pragmatiker, der „offen für neue Denkansätze – etwa im Bereich der Terrorbekämpfung“ sei. Er wurde 2008 von der SPD als künftiger Verfassungsrichter und potenzieller Vizepräsident des Verfassungsgerichts nominiert. Nach massiver Kritik[14] an seiner Rechtfertigung der sogenannten „Rettungsfolter“ (tickende Bombe) in einem Grundgesetzkommentar von 2004 wurde seine Nominierung allerdings zurückgezogen.

An diesen zwei Beispielen wird deutlich, dass in den letzten zehn Jahren eine massive Auseinandersetzung um die Auslegung des Grundgesetzparagraphen 35 stattfindet, in der immer wieder eine Uminterpretation zugunsten eines erweiterten Inlandseinsatzes der Bundeswehr vorgenommen wird. Auf welche dieser relativ neuen Interpretationen des Artikels 35 sich die Bundeswehr für die aktuell geplante Unterstützung der Polizei vorerst berufen will, bleibt offen.

Im „Notfall“ auch gegen die Verfassung

Der erste Einsatz der Bundeswehr im Inland fand 1962 im Rahmen der Sturmflut in Hamburg statt.[15] Der damalige Hamburger Innensenator und spätere Bundeskanzler Helmut Schmidt mobilisierte die Bundeswehr damals nicht nur um vom Wasser eingeschlossene Personen zu versorgen oder sie mit Bundeswehr-Hubschraubern zu evakuieren. Auch den Verkehr lenken und gegen Plünderer vorgehen sollten die Soldat*innen. Damals gab es keinerlei Rechtsgrundlage für diesen Einsatz und so erklärte Schmidt: „Wir waren damals durchaus in dem Bewusstsein, gegen Artikel 143 [des Grundgesetzes] zu verstoßen“.[16] Eine relevante Kritik an diesem offenen Verfassungsbruch blieb allerdings aus. Vielmehr wurde damit ein Grundstein gelegt, um 1968 mit den von der damaligen Großen Koalition beschlossenen Notstandsgesetzen erstmals in der BRD Rechtsgrundlagen für begrenzte Einsätze der Bundeswehr im Inland in die Verfassung zu schreiben.

Für die präventive Mobilisierung von Militärpolizist*innen zur Unterstützung der Polizei, ohne eine geklärte Rechtsgrundlage, gibt es allerdings auch in den letzten Jahren ein Beispiel. Während eines rassistisch motivierten Terroranschlags in München 2015, der von der Polizei fälschlicherweise für einen islamistischen Anschlag gehalten wurde, versetzte Kramp-Karrenbauers Vorgängerin von der Leyen Militärpolizei und Sanitätsdienst der Bundeswehr in München in Alarmbereitschaft, um aus den Kasernen ausrücken zu können.[17] Auch wenn es zu diesem Einsatz nicht kam, wurde der Vorfall genutzt, um Stimmung für die Ausweitung der Befugnisse der Bundeswehr im Inland zu machen.

Mit Blick auf die aktuellen Änderungen im Infektionsschutzgesetz warnen zwei Professoren für Öffentliches Recht an den Universitäten Bonn und Würzburg, Klaus Ferdinand Gärditz und Florian Meinel, vor grundlegenden Brüchen der Verfassungsordnung. So würde der Gesundheitsminister befähigt per Rechtsverordnung Gesetze und Grundrechte außer Kraft zu setzen: „Mit der Ermächtigung eines Bundesministeriums, gesetzesvertretendes Verordnungsrecht zu erlassen, setzt sich das Parlament in Widerspruch zu zentralen Normen der Verfassung“, die als Lehren aus dem Ermächtigungsgesetz von 1933 eingeführt worden waren.[18]

Innenminister Seehofer geht längst einen Schritt weiter: Dass die Grenzen des (Grund)gesetzes für ihn in der aktuellen Corona-Pandemie nicht von Bedeutung sind, machte er in der Pressekonferenz zur Ankündigung von Grenzschließungen am 15. März deutlich. Auf die Frage eines Reporters nach der Rechtsgrundlage der Grenzschließungen antwortete er: „Da gibt’s den Artikel 28 des Schengener Grenzkodex. Aber jetzt muss ich ihnen ganz ehrlich mal sagen; Es ist schön, wenn man so eine Grundlage hat, aber im Moment geht mir der Gesundheitsschutz der Bevölkerung über alles. Es gibt auch Notsituationen, wo ein Staat, selbst wenn so ein Artikel nicht vorhanden wäre, handeln müsste.“[19] Damit spielte Seehofer bereits vor zwei Wochen mit der Rechtsfigur des ‚übergesetzlichen Notstands‘ und damit mit der Option, die Verfassung angesichts der aktuellen Lage bewusst und offensiv zu brechen.

Verfassungsbruch verhindern – Bundeswehr raus aus den Straßen

Mit der Corona-Pandemie scheint jetzt der Punkt gekommen, an dem eine Interpretation des Grundgesetzes durchgesetzt werden soll, nach der die Bundeswehr problemlos als Hilfspolizei im Inland eingesetzt werden könnte. Damit wird eine alte Gewissheit in der Bevölkerung, dass die Bundeswehr im Inland zwar als vermeintliche „Hilfsorganisation in Flecktarn“ bei Naturkatastrophen, nicht aber als bewaffnetes Repressionsorgan mit exekutiven Polizeibefugnissen und damit als politischer Machtfaktor im Inland eingesetzt werden darf, massiv angegriffen.

Gegen diese Angriffe müssen wir uns aus bürgerrechtlicher, antimilitaristischer, friedenspolitischer und antifaschistischer Perspektive deutlich zur Wehr setzen. Das Grundgesetz wurde 1949, vier Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der NS-Diktatur geschrieben. Die damals auch unter Parlamentariern durchaus gängige Lehre aus der Geschichte „Nie wieder Krieg – Nie wieder Faschismus“, die einen Einsatz einer Armee als Machtfaktor im Inland undenkbar machte, wurde über die Wiederbewaffnung 1955 und die Notstandsgesetze 1968 schrittweise zurückgedrängt.

Seitdem Deutschland im Laufe der 1990er Jahre wieder begonnen hat Soldat*innen in Auslandseinsätze zu schicken und Kriege zu führen, wird auch der Einsatz der Bundeswehr im Inland in kleinen Schritten normalisiert. Was den Einsatz der Bundeswehr in Inland angeht, ist jetzt der Punkt gekommen, an dem die Option Soldat*innen als Hilfspolizei einzusetzen durchgesetzt werden soll. Die letzte elementare Begrenzung, die Bundeswehr als innenpolitisches Machtinstrument einzusetzen, soll gebrochen werden. Dafür wird sowohl der Wortlaut als auch der Sinngehalt der Verfassung bewusst übergangen.

Ist dieser Geist erst einmal aus der Flasche, wird er dahin so schnell nicht zurückkehren. Damit ist auch der Punkt gekommen, wo sich Zivilgesellschaft, Friedens-, Bürgerrechts- und Antifaschistische Bewegung aktiv gegen diese autoritäre Gefahr wehren müssen. Über die Welt nach der Corona-Pandemie wird jetzt entschieden!

Anmerkungen


[1] Spiegel, Matthias Gebauer und Konstantin von Hammerstein, Coronakrise – Bundeswehr mobilisiert 15.000 Soldaten, 27.03.2020, spiegel.de

[2] Augen geradeaus!, Thomas Wiegold, Bundeswehr und Coronavirus-Pandemie: Vorbereiten auf eine lange Krise, 27.03.2020, augengeradeaus.net

[3] IMI-Studie 2008/03, Frank Brendle, Vernetzte Sicherheit? – Der Einsatz der Bundeswehr im Inneren, 15.02.2008, imi-online.de

[4] Streitkräftebasis, Amtshilfe: Die Bundeswehr informiert, Absatz: Was bedeutet Einsatz im Inneren?, bundeswehr.de; ähnlich auch in: Bundeswehr, Podcast: Bundeswehr leistet Amtshilfe, Interview mit dem Nationalen Territorialen Befehlshaber, Generalleutnant Martin Schelleis, 26.03.2020, bundeswehr.de

[5] IMI-Studie 2008/03, Brendle

[6] IMI-Studie 2008/03, Brendle

[7] Süddeutsche Zeitung, Nico Fried und Cerstin Gammelin, Schäuble will nach Köln Möglichkeit eines Bundeswehr-Einsatzes im Inneren, 15.01.2016, sueddeutsche.de

[8] IMI-Studie 2008/03, Brendle und IMI-Studie 2013/08a, Martin Kirsch, Der neue Heimatschutz der Bundeswehr, 05.06.2013, imi-online.de

[9] IMI-Analyse 2012/022, Michael Haid, „Im Schatten eines Arsenals militärischer Waffen kann freie Meinungsäußerung schwerlich gedeihen“!, 19.10.2012, imi-online.de

[10] IMI-Analyse 2012/022, Haid

[11] Abweichende Meinung des Richters Gaier zum Plenumsbeschluss vom 3. Juli 2012; in: Bundesverfassungsgericht – 2 PBvU 1/11 – Urteil vom 03.07.2012, bundesverfassungsgericht.de

[12] Augen geradeaus!, Thomas Wiegold, Bundeswehr und Coronavirus-Pandemie: Vorbereiten auf eine lange Krise, 27.03.2020, augengeradeaus.net

[13] Wissenschaftliche Dienste des Bundestages, Sachstand, WD 3 – 3000 – 184/16, Einsatz der Bundeswehr im Innern – Übernahme von hoheitlichen Aufgaben der Polizei durch die Bundeswehr im Rahmen der Amtshilfe, bundestag.de

[14] TAZ, Christian Rath, Kommentar SPD-Kandidaten fürs Verfassungsgericht: Folter muss tabu bleiben, 14.01.2008, taz.de

[15] IMI-Studie 2008/03, Brendle

[16] Bundestagssitzung vom 16.05.1968; nach: IMI-Studie 2008/03, Brendle

[17] IMI-Analyse 2016/33b, Martin Kirsch, Bundeswehr in den Straßen?, 16.10.2016, imi-online.de

[18] Klaus Ferdinand Gärditz, Florian Meinel: Unbegrenzte Ermächtigung? Frankfurter Allgemeine Zeitung 26.03.2020. (hinter einer Paywall) deshalb nach: German Foreign Policy, Die Grenzen des Machbaren – Bundeswehr bereitet in Coronakrise Großeinsatz im Inland vor. Neues Infektionsschutzgesetz stellt Gesetzesbindung der Regierung zur Disposition., 30.03.2020, german-foreign-policy.com

[19] Phoenix, Grenzschließungen in Deutschland: PK von Innenminister Seehofer, 15.03.2020, via Youtube: youtube.com

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Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de