Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de

IMI-Standpunkt 2016/031 - in: Graswurzelrevolution, Nr. 411/2016

Freispruch für Thomas H.!

Gegen die fortschreitende Kriminalisierung von Antikriegsprotesten

Thomas Mickan (08.09.2016)

Das Recht auf freie Meinungsäußerung und das Recht, sich zu versammeln, sind verfassungsrechtlich besonders geschützt, sie sind Grundlage eines friedlichen und selbstbestimmten Zusammenlebens und essentiell, um gegen Krieg und Militär Widerstand zu leisten. Immer wieder versuchen jedoch Strafverfolgungsbehörden, etwa mit dem Vorwurf des Hausfriedensbruches legitimen Protest gegen Krieg und Militär zu kriminalisieren.

Krieg und Militär scheinen berechtigt zu sein, der Protest dagegen nicht – das ist jeder Demokratie unwürdig. Unser aller Solidarität ist gegen die Repression gefragt!

Auch in Stuttgart, so der Vorwurf der dortigen Staatsanwaltschaft, habe der Aktivist Thomas H. bei den Protesten gegen einen Bundeswehr-Rekrutierungsstand auf der Ausbildungsmesse „Nacht der Unternehmen“ in der Liederhalle am 17. November 2015 Unrecht begangen. Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft: Hausfriedensbruch. In einem alle Fragen offen lassenden Verfahren ist er nun vom Amtsgericht Stuttgart zu einer Geldstrafe verurteilt wurden – seine Verteidigung legte umgehend Berufung ein. Was war passiert?

Unzureichende Wahrheitsfindung im Verfahren

Während des gesamten Verfahrens zeichnete sich bereits ab, dass die Anklageschrift auf tönernen Füßen stand und das Verfahren auf den Aussagen nur einer Zeugin beruhte.

Thomas H. wollte keine Angaben zu den konkreten Tatvorwürfen machen, äußerte sich aber zu Beginn grundlegend zu dem Verfahren. Demnach sei er der Falsche, der auf der Anklagebank säße. Nicht er, sondern die Bundeswehr, insbesondere deren Jugendoffiziere und Karriereberater_innen, sollten sich vor Gericht verantworten, wegen ihres Werbens gerade von Minderjährigen, die dann in die Kriegseinsätze der Bundeswehr geschickt würden.

Allein 2015 rekrutierte die Bundeswehr genau 1515 Unter-18-Jährige, die mitunter wahre Knebelverträge mit bis zu 20 Jahren Verpflichtungsdauer unterschreiben müssten, die nur unter erheblichen finanziellen Risiken und nur mittelmäßigen Erfolgsaussichten unter der Berufung auf das eigene Gewissen gekündigt werden könnten. Mit dieser Rekrutierungspraxis verstieße die Bundeswehr als eines der wenigen NATO-Mitgliedstaaten gegen den Geist der UN-Kinderrechtskonvention und mache sich gerade bei Ländern, die in noch viel schlimmeren Umfang auf die Rekrutierung Minderjähriger setzten, unglaubwürdig. Auch der Kinderrechtsausschuss der Vereinten Nationen habe Deutschland für die anhaltende Praxis gerügt. Um die Praxis zu beenden, werde sich Thomas H. auch weiterhin einsetzen und dafür die Bundeswehr und die anzuwerbenden Jugendlichen in der legitimen Ausübung seiner Meinungs- und Versammlungsfreiheit in Hör- und Sichtweite konfrontieren.

Das Gericht vernahm daraufhin die Zeugin, die für eine Aktiengesellschaft die Messe organisierte. Ob sie dabei tatsächlich die bevollmächtigte Veranstalterin war, die ggf. ein Hausverbot aussprechen konnte, wurde von der Verteidigung erheblich in Zweifel gezogen. Ferner war es unklar, ob die Zeugin weiterhin bevollmächtig war, als Anzeigestellerin im Namen der AG aufzutreten. Sowohl die Zeugin als auch die Staatsanwaltschaft legten hierfür keine Beweise vor; der Antrag der Verteidigung, einen bis dahin unbekannten weiteren Zeugen – den ebenfalls bei der besagten Messe anwesenden Vorgesetzten der Zeugin – zu hören, blieb von der Richterin unberücksichtigt.

Die Zeugin konnte ferner aussagen, dass der Angeklagte einer der Demonstrierenden gewesen sei; ob dieser allerdings durch das Megaphon sprach, beim Die-In am Boden lag oder aber das Transparent hielt, wusste die Zeugin nicht. So stellte sich die Frage, ob der Angeklagte überhaupt die Aufforderung der Zeugin, die Messe zu verlassen, wahrgenommen haben konnte.

Trotz erheblicher Zweifel sogar durch die Zeugin selbst, blieb auch dieser Umstand in der späteren Urteilsfindung unberücksichtigt.

Er werde es schon gehört haben, war die lapidare Begründung. Bereits nach fünf Minuten sollen nach Angaben der Zeugin die Demonstrierenden die Messe verlassen haben, weder der private Sicherheitsdienst der Messe noch die Polizei war so schnell am Ort des Geschehens. Von einer sinnvollen Weigerung der Demonstrierenden ihren Protest nicht umgehend nach der Aufforderung abzubrechen, kann daher ebenfalls nicht gesprochen werden, insbesondere aufgrund der Tatsache, dass zu bezweifeln ist, ob der Angeklagte die Aufforderung sofort vernommen hatte.

Das wichtigste Argument der Verteidigung ist im so genannten Fraport-Urteil aus dem Jahr 2011 zu suchen. Hier kam es durch das Verfassungsgericht zu einer grundlegenden rechtlichen Wegweisung, die jedoch von der Richterin vom Amtsgericht mit einem einzigen Fingerstrich beiseitegeschoben wurde.

Wem gehört die Stadt? Zur Grundrechtebindung von Unternehmen

Die Fraport AG erteilte seinerzeit einer Aktivistin ein Hausverbot, weil diese Flyer gegen Abschiebungen im Flughafen verteilt hatte. Gegen das Versammlungsverbot setzte sich diese rechtlich zur Wehr, mit dem Ergebnis, dass das Verbot für unzulässig erklärt wurde.

Entscheidend war, dass die Fraport AG sich mehrheitlich im Besitz der öffentlichen Hand befand. Daraus ergab sich eine unmittelbare Grundrechtsbindung, weil der Staat sich durch eine Privatisierung und damit der „Flucht ins Privatrecht“ nicht dieser Bindung entziehen könne. Genau diese Grundrechtsbindung liege aber nach Ansicht der Richterin im Fall von Thomas H. nicht vor, weil die AG, die die Messe organisierte, ja privat sei. Daher könne in der Messe sich auch nicht auf die Versammlungsfreiheit berufen werden, die erst durch die Polizei unter bestimmten Bedingungen hätte eingeschränkt werden können. Ein Abwägen von Grundrechten zugunsten der Versammlungsfreiheit unter Berufung auf das Fraport-Urteil im Fall von Thomas H. dürfe nach Auffassung der Richterin nicht erfolgen. Es ist zu hoffen, dass sich die nächste Instanz einer anderen Rechtsauffassung als Konsequenz des Fraport-Urteils anschließt. Zwei wichtige Argumente begründen diese Hoffnung.

Erstens:

Anders als die Fraport AG handelt es sich bei der AG, welche die „Nacht der Unternehmen“ organisierte und auf deren Hausrecht sich die Anklage gegen Thomas H. beruft, nicht um ein mehrheitlich von der öffentlichen Hand getragenes Unternehmen. Es steht jedoch außer Frage, dass die Messehalle selbst in öffentlicher Hand ist, deren Räume die klagende AG anmietete. Zudem handelt es sich beim Veranstaltungsformat „Nacht der Unternehmen“ um eine Kooperationsveranstaltung mit der Stadt Stuttgart und weiteren öffentlichen Träger_innen.

Die Wirtschaftsförderungsgesellschaft der Stadt Stuttgart bedient sich hier also stellvertretend der klagenden AG, was eine Grundrechtsbindung unter Berufung auf das Fraport-Urteil zulassen muss.

Selbst wenn die unmittelbare Grundrechtsbindung aufgrund der umfassenden Kooperation mit der öffentlichen Hand vom Gericht nicht geteilt würde, kann unter bestimmten Bedingungen eine mittelbare Grundrechtsbindung privater Unternehmen nach dem Fraport-Urteil möglich sein:

„Je nach Gewährleistungsinhalt und Fallgestaltung kann die mittelbare Grundrechtsbindung Privater einer Grundrechtsbindung des Staates vielmehr nahe oder auch gleich kommen. Für den Schutz der Kommunikation kommt das insbesondere dann in Betracht, wenn private Unternehmen die Bereitstellung schon der Rahmenbedingungen öffentlicher Kommunikation selbst übernehmen […] und damit in Funktionen eintreten, die […] früher dem Staat als Aufgabe der Daseinsvorsorge zugewiesen waren.“ (BVerfG, Urt. v. 22.2.2011 – 1 BvR 699/06, Rz. 59). Das heißt, wenn die Aufgabe der ARGEN und Jobcenter an private AGs ausgelagert werden und diese im betreffenden Fall sogar im Auftrag der Wirtschaftsförderung der Stadt Stuttgart agiert, muss von einer mittelbaren Grundrechtsbindung ausgegangen werden. Gerade bei der „Nacht der Unternehmen“ ist bundesweit immer die Wirtschaftsförderung der beherbergenden Stadt mit eingebunden, ja das Geschäftsmodell basiert gerade darauf, von den Besuchenden keinen Eintritt zu nehmen und in Form eines öffentlichen Forums den Austausch mit den (zahlenden) Unternehmen zu ermöglichen. Die klagende AG betritt hiermit den Bereich der öffentlichen „Daseinsvorsorge“, die hilft den Bürger_nnen als Bildungs- und Kultureinrichtung die Sicherung einer menschenwürdigen Existenz zu ermöglichen.

Gerade die hier relevante Art von Messe in der Messestadt Stuttgart erfüllt den Sachverhalt, die Bedürfnisse und Interessen der örtlichen Gemeinschaft zu befriedigen.

Zweitens:

Das Fraport-Urteil stärkte die Rechtsfigur des „öffentlichen Forums“ in einer Zeit, in der es sich von der ursprünglich gedachten Straße an „private“ Orte wie Flughäfen, Bahnhöfe, Shoppingcenter oder Messen verlagert. Relevant ist hierbei, dass die Orte allgemein zugänglich sind (das heißt, etwa keine Eintrittsgelder verlangt werden) und, wie bei der Messe Stuttgart, diese als ein „Marktplatz“ beworben werden, der eben mehr sein soll, als nur den einen Vertrag abzuschließen, sondern für Austausch in einem umfassenden Bereich des öffentlichen Lebens sorgt. Eine mittelbare Grundrechtsbindung für die klagende AG muss daher gerade auch in Bezug auf das öffentliche Forum eingeräumt werden. Insbesondere wenn der Kommunikationszweck einer möglicherweise die „Wohlfühlatmosphäre“ störenden Demonstration im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Ort steht – wie es bei einem Messe-Rekrutierungsstand der Bundeswehr ohne Zweifel der Fall ist.

Für Solidarität, gegen die Kriminalisierung von Antikriegsprotesten

Die versuchte Kriminalisierung von Protest im Fall von Thomas H. schließt an die strafrechtliche Verfolgung weiterer AntikriegsaktivistInnen an. So ermittelt die Staatsanwaltschaft München gegen den Rüstungsgegner Jürgen Grässlin und dessen MitautorInnen aufgrund des Buchs „Netzwerk des Todes“, in dem illegale Waffengeschäfte nach Mexiko enthüllt wurden.

Die Staatsanwaltschaft Koblenz ermittelte gegen Hermann Theisen, der vor dem Atomwaffenlager Büchel über Flugblätter SoldatInnen aufforderte, die Geheimniskrämerei um die Nuklearsprengköpfe zu brechen. Ein zweites Verfahren wird momentan ebenfalls gegen Theisen vom Amtsgericht Oberndorf am Neckar geführt. Theisen habe dort die Mitarbeiter_innen von Heckler & Koch zum Whistleblowing aufgerufen und daraufhin eine Anzeige vom Waffenhersteller wegen öffentlicher Aufforderung zu Straftaten (§111StGB) in Verbindung mit weiteren Vergehen erhalten.

Für Solidarität mit den AktivistInnen – Freispruch für Thomas H.!

Spenden zur Prozessunterstützung dringend erbeten: Stichwort „Prozess Thomas“, Konto der DFG-VK Stuttgart, IBAN: DE32 4306 0967 4006 1617 40

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