IMI-Analyse 2016/06 - in: AUSDRUCK (April 2016)
Münchner Sicherheitskonferenz: Rüstung statt Dialog!
Jürgen Wagner (16.02.2016)
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Die Relevanz der Münchner Sicherheitskonferenz lässt sich unter anderem daran ersehen, dass sie im aktuellen Ranking der wichtigsten Denkfabrik-Tagungen der Welt ihren Spitzenplatz aus dem Vorjahr behauptet hat.[1] Auch 2016 versammelten sich zwischen dem 12. und 14. Februar erneut „etwa 600 hochrangige Führungspersönlichkeiten der internationalen Politik“. Damit ist das Treffen in der bayerischen Hauptstadt nicht nur nach Selbsteinschätzung die zentrale „Bühne für die wichtigsten sicherheitspolitischen Entscheidungsträger.“[2] Eine der wohl wichtigsten Funktionen der Konferenz besteht traditionell darin, der breiten Öffentlichkeit die wesentlichen sicherheits- bzw. militärpolitischen Kernfragen – und häufig auch gleich die Antworten – für das anstehende Jahr zu präsentieren. Schon im Vorfeld wurde der Ton vorgegeben: Eine „Ära der Instabilität“ sei angebrochen, für die sich der Westen auch und gerade militärisch wappnen müsse, fasste die FAZ den „Munich Security Report“, die im Vorfeld erschienene Begleitpublikation der Sicherheitskonferenz, zusammen.[3]
In diesem Jahr standen die Auseinandersetzungen in Syrien und in der Ukraine, vor allem aber das damit eng zusammenhängende und völlig zerrüttete westlich–russische Verhältnis im Zentrum. Zwar wurde vom Westen dabei allenthalben Gesprächsbereitschaft signalisiert, gleichzeitig aber so heftig an der Eskalationsschraube gedreht, dass an eine Lösung der mannigfaltigen Konflikte in absehbarer Zeit wohl nicht zu denken sein wird. Neben der parallel erfolgten Eskalation des Syrien-Kriegs durch die Türkei war deshalb auch fast folgerichtig der Auftritt des russischen Ministerpräsidenten Dmitri Medwedew der traurige „Höhepunkt“ der Konferenz. In seiner Rede warnte er nicht vor einem Neuen Kalten Krieg, sondern er betonte in aller Deutlichkeit, dass dieser schon begonnen habe.
Syrien: Verhandeln und schießen
Mittlerweile tobt in Syrien seit fast fünf Jahren ein unerbittlicher (Bürger-)Krieg, in den mehrere dutzend Staaten sowie unzählige lokale Gruppen involviert sind, die aus dem Land eine „geopolitische Hölle“[4] gemacht haben. Laut dem „Syrian Center for Policy Research” hätten durch den Krieg 470.000 Menschen ihr Leben verloren und fast zwei Millionen seien verletzt worden, was 11,5% der Bevölkerung entspräche.[5] Konferenzleiter Wolfgang Ischinger macht seit Jahren die zu „laxe“ westliche Interventionspolitik für die Lage verantwortlich. Wäre nur frühzeitig „beherzt‘“ militärisch in den Konflikt eingegriffen und der syrische Machthaber Baschar al-Assad gestürzt worden, hätte sich alles zum Besten entwickelt, so die Auffassung des Tübinger Honorarprofessors: „Wir haben vor vier Jahren fälschlicherweise weggeschaut. […] Jetzt lernen wir mühselig und etwas spät, dass Wegschauen von Verantwortung nicht befreit. Und dass Nichtstun auch Folgen hat. Und dass der Konflikt, von dem wir glaubten, er spiele sich in Syrien ab, jetzt krachend vor unserer Haustür landet. […] Unsere Strategie in der Syrien-Krise ist nur dann glaubwürdig, wenn sie mit glaubwürdigen militärischen Handlungsoptionen unterlegt ist. […] Die EU muss imstande sein, über Fragen wie Schutzzonen in Syrien für die Millionen von Flüchtlingen ernsthaft zu reden. Wir müssen imstande sein, mit den USA und anderen Nationen über mögliche Flugverbote in und um Syrien zu sprechen.“[6]
Wovon Ischinger hier redet, bleibt allerdings sein ganz persönliches Geheimnis: Denn die USA arbeiteten mit Unterstützung der EU spätestens seit 2006 gezielt auf die Schwächung Assads hin, wie aus Depeschen der US-Botschaft in Damaskus hervorgeht. Aus ebenfalls bei Wikileaks veröffentlichten Dokumenten geht gleichzeitig hervor, dass Spezialeinheiten der USA und anderer Länder mindestens seit Dezember 2011 in Syrien operierten, um die Rebellen zu unterstützen.[7] Allein über die CIA wurden dabei nach Angaben der den US-Demokraten nahestehenden „Brookings Institution“ eine Milliarde Dollar in die Aufrüstung der Aufstandsbewegung gesteckt und dabei 10.000 Kämpfer ausgebildet.[8] Dies alles geschah in vollem Wissen, dass radikalislamistische Gruppen innerhalb der Rebellen komplett tonangebend waren, wie aus einer Lageeinschätzung des Geheimdienstes des US-Militärs aus dem Jahr 2012 hervorgeht, die sogar die später erfolgte Ausrufung des „Islamischen Staates“ prognostizierte. Darüber hinaus taten sich einige „Verbündete“, allen voran Saudi Arabien und die Türkei, ganz besonders damit hervor, mit westlichem Einverständnis oder zumindest mit der stillschweigenden Duldung, den Islamischen Staat und andere radikalislamistische Kräfte in Syrien massiv zu unterstützen.[9]
Von „Wegschauen“ und „Nichtstun“ kann hier also ganz offensichtlich keine Rede sein – im Gegenteil. Nachdem der „Islamische Staat“, den man anfangs unterstützte oder zumindest gewähren ließ, dann immer stärker an Boden gewann, begann eine Koalition unter Führung der USA im September 2014 mit „Operation Inherent Resolve“, also vor allem mit Luftschlägen, denen Berichten zufolge bislang fast 1000 Zivilisten zum Opfer gefallen sind.[10] Gleichzeitig hielten die USA an ihrem Ziel fest, Assad aus dem Weg zu räumen, was schließlich Russland dazu bewog, im September 2015 – wiederum vor allem mit Luftangriffen, denen wohl ebenfalls viele Zivilisten zum Opfer fallen – auf Seiten seines Verbündeten in den Krieg einzugreifen.[11] Nicht erst der Abschuss eines russischen Kampfjets durch die Türkei verdeutlichte, dass in Syrien inzwischen eine Situation entstanden ist, in der sich feindlich gegenüberstehende Groß- und Regionalmächte – darunter seit dem offiziellen Kriegseintritt im Dezember 2015 auch Deutschland – gegenüberstehen und die das Potenzial hat, jederzeit noch drastischer zu eskalieren.
Vor diesem Hintergrund werden die Bemühungen um die Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen zumeist als Versuch interpretiert, die brisante Lage zu entschärfen. In diesem Zusammenhang wurde der Öffentlichkeit unmittelbar vor Beginn der Sicherheitskonferenz die „Münchner Vereinbarung“ präsentiert. Bei einer Pressekonferenz von US-Außenminister John Kerry und seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow in der bayerischen Hauptstadt wurden die drei Kernpunkte erläutert: Eine „Feuerpause“ innerhalb einer Woche, die Lieferung humanitärer Hilfe sowie die Aufnahme eines politischen Prozesses zur langfristigen Deeskalation der Lage. Allerdings könnten die Auffassungen, wie dies zu bewerkstelligen ist, kaum unterschiedlicher sein, da der zentrale Knackpunkt ungelöst bleibt: „Über das Ziel dieses Prozesses besteht aber weiterhin keine Einigkeit. Der Westen will Assad loswerden, Russland steht ihm weiter zur Seite.“[12]
Auch die Signale, die auf und während der Konferenz gesendet wurden, tragen leider kein Stück zu irgendwelchem Optimismus bei. Recht unversöhnlich schoben sich US-Außenminister Kerry und sein Pendant Lawrow dort die Schuld für die Lage in Syrien gegenseitig in die Schuhe. Es war aber wie fast schon traditionell US-Senator John McCain, der in seiner Rede bei der Sicherheitskonferenz den aggressivsten anti-russischen Wadenbeißer abgab: „Herr Putin ist nicht daran interessiert, unser Partner zu sein. Er will das Assad-Regime stützen. Er will Russland als Großmacht wieder etablieren. Er will Syrien für eine Livedemonstration für Russlands modernisiertes Militär benutzen. Er will die Provinz Latakia zu einem militärischen Vorposten machen, von dem aus die russische Einflusssphäre gefestigt und ausgeweitet werden soll – ein neues Kaliningrad oder eine neue Krim. Und er will die Flüchtlingskrise eskalieren und sie als Waffe benutzen, um das transatlantische Bündnis zu untergraben und das europäische Projekt zu torpedieren. Die einzige Sache, die sich bei Herrn Putins Ambitionen verändert hat, ist, dass sein Appetit mit dem Essen wächst.“[13]
Neben diesem Verbalradikalismus lassen vor allem zwei Entwicklungen, die unmittelbar vor bzw. während der Sicherheitskonferenz einsetzten, große Zweifel an Ernsthaftigkeit des Westens aufkommen, tatsächlich eine Verhandlungslösung in Syrien anzustreben. So brachte US-Verteidigungsminister Ashton Carter beim NATO-Treffen am 10./11. Februar 2016, einen Tag vor Beginn der Sicherheitskonferenz, einen offiziellen Syrien-Kriegseintritt des Bündnisses ins Spiel: „Wir prüfen die Möglichkeit, dass die Nato selbst der Koalition beitritt.“[14] In diesem Zusammenhang spricht einiges dafür, dass es sich bei der auf demselben Treffen beschlossenen Entsendung des ständigen maritimen NATO-Einsatzverbandes in die Ägäis genau hierum handelt. Offiziell richtet sich der Einsatz zwar „nur“ gegen „Schlepper“, was an sich schon problematisch genug wäre, zwingt dies doch flüchtende Menschen, auf immer riskantere Routen auszuweichen. Doch plausibler ist es, den Einsatz auch und vor allem im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen in Syrien zu sehen: „So empörend diese weitere Militarisierung der Flüchtlingsabwehr ist, so dürfte sie jedoch kaum das tatsächliche Hauptziel des nun beschlossenen Einsatzes sein. Der NATO-Marineverband ist hierfür schlicht ein zu großes Kaliber. […] Nach übereinstimmender Einschätzung aus geopolitisch ganz unterschiedlichen Lagern sind die syrischen Regierungstruppen mit Unterstützung aus dem Iran und Russland gerade dabei, gegen die vom Westen unterstützten Rebellen in Aleppo einen entscheidenden Sieg davonzutragen. Zugleich droht Saudi Arabien offen mit der Entsendung von Bodentruppen nach Syrien und verweist dabei auf die Türkei als möglichen Partner. […] Dass die NATO in diesem Kontext zugleich mit der Einsatzbereitschaft ihrer AWACS auf deutschen und türkischen Antrag die Entsendung ihres Marineverbandes beschließt, kann nur als Rückendeckung für eine solche Offensive gewertet werden.“[15]
Und genau diese Botschaft scheint auch angekommen zu sein, wie aus einem Interview hervorgeht, das der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu direkt nach seinem Auftritt bei der Sicherheitskonferenz am 13. Februar 2016 noch im Tagungshotel gab: „Wie Saudi-Arabien erwäge auch das NATO-Mitglied Türkei die Entsendung von Bodentruppen nach Syrien zur Bekämpfung des IS. Ein solcher Einsatz könne an der Seite Saudi-Arabiens stattfinden, so Cavusoglu. Bald darauf machte beim Publikum in München dann noch die Meldung die Runde, türkische Kampfflugzeuge griffen im Norden Syriens kurdische Verbände an.“[16] Fast gleichzeitig wurde dann noch der Einsatz von türkischen Panzerhaubitzen gemeldet, die im Norden syrische Regierungstruppen und kurdische Einheiten beschossen haben sollen.[17] Am 14. Februar 2016, dem Tag, an dem die Sicherheitskonferenz endete, hieß es dann schließlich: „Die Türkei hatte es angekündigt, nun hat Saudi-Arabien es bestätigt: Riad hat Kampfjets nach Incirlik verlegt. Dort sollen sie die Anti-IS-Koalition unterstützen. Zudem erklärte Riad, es gebe ‚einen Konsens‘ über den Einsatz von Bodentruppen in Syrien.“[18]
Während also über eine Lösung des Syrien-Konfliktes verhandelt wurde, setzten die engen westlichen Verbündeten Türkei und Saudi Arabien voll auf Eskalation. Und auch wenn es Berichte gibt, die USA hätten die Türkei zum Stopp der Angriffe aufgefordert[19], kann von ernsthaften Versuchen, den außer Rand und Band geratenen NATO-Verbündeten an die Leine zu nehmen, keine Rede sein.
Damit wird noch weiter Öl in ein Feuer gegossen, das ohnehin schon hoch genug brennt. Welches Eskalationspotenzial der Situation innewohnt, wird auch aus einem Interview ersichtlich, das der russische Ministerpräsident Medwedew kurz vor Beginn der Sicherheitskonferenz gab: „Die Amerikaner und unsere arabischen Partner müssen es sich gut überlegen: Wollen sie einen permanenten Krieg? […] Alle Seiten müssen gezwungen werden, am Verhandlungstisch Platz zu nehmen, anstatt einen neuen Weltkrieg auszulösen.“[20]
NATO: Si vis pacem, para bellum!
Nicht nur was Syrien anbelangte standen sich die Positionen des Westens und Russlands unversöhnlich gegenüber. Auch bezüglich der Ukraine beschuldigten sich beide Seiten gegenseitig, an der völlig verfahrenen Situation Schuld zu sein. Wer dabei gehofft hatte, Jens Stoltenberg, der das Amt des NATO-Generalsekretärs am 1. Oktober 2015 von Russland-Hardliner Anders Fogh Rasmussen übernommen hatte, würde gegenüber Moskau wenigstens etwas moderatere Töne anschlagen, wurde in München umgehend eines besseren belehrt.
„Si vis pacem, para bellum!” (“Wenn Du Frieden willst, rüste Dich für den Krieg!”), diesen Spruch muss Stoltenberg im Kopf gehabt haben, als er seine Rede für München konzipierte. Es sei beides erforderlich, Rüstung und Dialog, um mit Russland wieder zu einem konstruktiven Verhältnis zu gelangen: „Wir haben ein aggressiveres Russland erlebt. Ein Russland, das die europäische Sicherheitsordnung destabilisiert“, so Stoltenberg in seiner Rede bei der Sicherheitskonferenz. „Ich bin der festen Auffassung, dass die Antwort in beidem liegt, mehr Verteidigung und mehr Dialog.“ Doch was als zweigleisiger Ansatz verkauft wird, entpuppt sich letztlich als Rechtfertigung, die massive Aufrüstung der NATO-Ostflanke weiter zu intensivieren: „Die NATO unternimmt die größte Stärkung ihrer kollektiven Verteidigung seit Jahrzehnten. Das Ziel ist es, ein machtvolles Signal auszusenden, um jedwede Aggressionen und Einschüchterungsversuche abzuschrecken. Dies geschieht nicht, um Krieg zu führen, sondern um Krieg zu verhindern. […] Diese Woche haben die NATO-Verteidigungsminister wichtige Schritte in diese Richtung beschlossen. Wir haben uns darauf geeinigt, unsere Vorwärtspräsenz im östlichen Teil des Bündnisgebietes auszubauen.“[21]
Bereits einige Tage vor Konferenzbeginn hatten die USA eine beträchtliche Aufstockung ihrer Mittel für die „European Reassurance Initiative“ angekündigt, mit der die Aufrüstung Osteuropas vorangetrieben wird. Sie sollen von gegenwärtig knapp 790 Mio. Dollar auf 3,4 Mrd. Dollar im Jahr 2017 angehoben werden. Diese Gelder würden die „US-Unterstützung“ für Osteuropa „sichtbarer und greifbarer“ machen, so US-Außenminister John Kerry bei der Sicherheitskonferenz.[22] Zur Tragweite der Maßnahme äußerte sich unter anderem Evelyn N. Farkas, bis Oktober 2015 die Zuständige im Pentagon für Russland und die Ukraine, folgendermaßen: „Hierbei handelt es sich wirklich um eine große Sache und die Russen werden sich Sorgen machen. […] Es ist ein großes Zeichen unserer Entschlossenheit, Russland abzuschrecken und unser Bündnis ebenso zu stärken wie unsere Partnerschaft mit Ländern wie der Ukraine, Moldawien und Georgien.“[23]
Die NATO selbst hat schon seit einiger Zeit umfassende gegen Russland gerichtete Aufrüstungsmaßnahmen eingeleitet. Dazu gehört unter anderem die Aufstellung einer „Ultraschnellen Eingreiftruppe“ („Very High Readiness Joint Task Force“) für Einsätze im unmittelbaren Umfeld Russlands, die massive Ausweitung der Manövertätigkeit und die Einrichtung neuer Militärbasen in Osteuropa, wohin auch zusätzliche Truppen und Material verlegt wurden.[24] Dieser Prozess soll nun weiter intensiviert werden, obwohl es die NATO-Russland-Akte aus dem Jahr 1997 eigentlich untersagt, dass das westliche Militärbündnis in Osteuropa „zusätzlich substantielle Kampftruppen dauerhaft stationiert.“ [25] Aus diesem Grund war bislang zumeist von rotierenden Einheiten und relativ geringen Kontingenten die Rede, was sich allerdings nach den Beschlüssen des bereits erwähnten Treffens der NATO-Verteidigungsminister am 10./11. Februar 2016 mittlerweile anscheinend erledigt hat: „Die Nato plant die größte Aufrüstung in Osteuropa seit Ende des Kalten Krieges. Das Bündnis will mehr Truppen und Material aufstellen, um Russland abzuschrecken. […] Nach Angaben aus Bündniskreisen ist im Gespräch, pro Land bis zu 1000 Bündnissoldaten zu stationieren. Als Standorte sind neben den baltischen Staaten Lettland, Estland und Litauen auch Polen, Bulgarien und Rumänien vorgesehen.“[26]
Genau diese Aufrüstung der NATO-Ostflanke rechtfertigte Stoltenberg dann wiederum in seiner Rede auf der Sicherheitskonferenz unter Verweis auf russische Aggressionen. Gleichzeitig blieb aber der „Dialogpart“ bis auf einen reichlich halbseidenen Verweis, der Gesprächsfaden solle im Rahmen des NATO-Russland-Rates wieder aufgenommen werden, in seiner Rede reichlich unterrepräsentiert. So besehen lässt sich das Credo des NATO-Generalsekretärs wohl am ehesten folgendermaßen zusammenfassen: „Rüstung statt Dialog!“
Die Botschaft war angekommen und der russische Ministerpräsident Medwedew dürfte bei seiner Rede ein ganz anderes Sprichwort im Kopf gehabt haben als NATO-Mann Stoltenberg: „Wenn sich die NATO rüstet, als sei Russland der Feind! Wenn sie redet, als sei Russland ihr Feind! Wenn sie handelt, als sei Russland ihr Feind, dann ist sie Russlands Feind!“
Medwedew und der Neue Kalte Krieg
Dass in verschiedenen Reden deutlich wurde, dass es um die westlich-russischen Beziehungen vorsichtig formuliert nicht allzu rosig bestellt ist, ist keine Überraschung. So äußerte sich etwa der russische Außenminister Sergei Lawrow in seiner Rede folgendermaßen: „Die Nato und die EU verweigern sich voll, mit Russland zusammenzuarbeiten. Sie bezeichnen uns als ihren Feind und liefern Waffen, um diese Trennlinien aufrechtzuerhalten. […] Die alten Instinkte scheinen noch da zu sein […] In einigen Bereichen ist es noch wie zu Zeiten des Kalten Krieges oder sogar schlimmer. […] Die ideologische Konfrontation scheint wieder zu ihrem Alltag zurückgekehrt zu sein.“[27]
Doch es war die Rede Dmitri Medwedews, die zum traurigen Höhepunkt der Sicherheitskonferenz werden sollte. Bekanntlich hatte der damalige und heutige russische Präsident Wladimir Putin bereits 2007 ebenfalls bei der Münchner Sicherheitskonferenz mit aller Schärfe vor einem Neuen Kalten Krieg gewarnt. Heute hat sich die Situation nochmals deutlich verschärft, was wahrscheinlich anders gekommen wäre, hätte der Westen die 2008 unterbreiteten Warnungen Medwedews, zwischenzeitlich Putins Nachfolger als Präsident, eine europäische Sicherheitsarchitektur unter Einschluss Russlands aufzubauen, nicht in den Wind geschlagen. Spätestens seit damals befinden sich die Beziehungen im freien Fall und haben einen Punkt erreicht, an dem Experten ernsthaft vor der Möglichkeit direkter bewaffneter Zusammenstöße warnen.[28]
Insofern konnte man bereits ahnen, wohin die Reise gehen würde, als der eher als gemäßigt geltende Medwedew in seiner Rede gleich zu Anfang direkt Bezug auf Putins frühere Generalkritik des Westens nahm. Die anschließenden Aussagen Medwedews ließen dann auch dementsprechend nichts an Deutlichkeit vermissen: „Der vorgeschlagene europäische Sicherheitsvertrag ist auf Eis gelegt. […] Wir glauben, dass die Politik der NATO gegenüber Russland weiter unfreundlich und unerbittlich ist. Man kann es auch schärfer sagen: Im Grunde sind wir in die Zeit eines neuen Kalten Krieges gerutscht. Russland wird als die größte Gefahr für die NATO dargestellt, oder für die USA, oder für Europa und andere Länder (und Herr Stoltenberg hat genau dies gerade untermauert). Sie zeigen angsteinflößende Filme über ein Russland, das einen Atomkrieg beginnt. Ich bin manchmal irritiert: Haben wir 2016 oder 1962?“[29]
Besonders auch in den Medien war man daraufhin überaus erbost, dass Medwedew die Unverschämtheit besaß, den desolaten Zustand des westlich-russischen Verhältnisses offen zu beschreiben. So wurde etwa im Deutschlandfunk lamentiert: „Ein Hauch von Schock wehte durch die Flure und Hallen des Bayerischen Hofes. Erwartet, erhofft hatte man von Russlands Premierminister Dmitri Medwedew ein Bekenntnis zu einem raschen Ende der Bombenangriffe in Syrien. Stattdessen gab Russlands Premier den aggressiven Hardliner: Er verortete Russland und den Westen in einem neuen kalten Krieg.“[30] Noch „schöner“ brachte es Daniel Brössler in der „Süddeutschen Zeitung“ auf den Punkt: „Der Kremlchef ist diesmal zwar nicht selbst nach München gekommen, aber seine Stimme hat er geschickt. […] Konsequent bedient sich Medwedjew der Methode Putin. Er versendet Botschaften, die als Warnung und Mahnung daherkommen, aber sehr gut auch als Drohung verstanden werden können.“[31]
Mit Volldampf in die Ära der Instabilität
So hinterlässt die Münchner Sicherheitskonferenz ein überaus mulmiges Gefühl. Niemand muss beschönigen, dass auch Russland aktuell versucht, seine Interessen mit harten Bandagen durchzusetzen. Dies gilt aber in mindestens ebenso großem Maße für den Westen, der in jedem Fall die jüngste Spirale machtpolitischer Auseinandersetzungen durch seine aggressive anti-russische Politik in Gang setzte. Wenn die Münchner Sicherheitskonferenz in diesem Zusammenhang eines demonstriert hat, so die völlige Unfähigkeit des Westens, sich selbstkritisch mit der eigenen Rolle auseinanderzusetzen. Doch Russland weiter völlig einseitig zu kritisieren und zu dämonisieren, wird keine Probleme lösen – im Gegenteil, es wird immer neue und immer größere schaffen.
Während im Bayerischen Hof also rhetorisch aufgerüstet wurde, dreht sich in Syrien die Eskalationsspirale immer weiter. Nicht zuletzt auch, weil dies inzwischen auch unter deutscher Beteiligung geschieht, ist die Friedens- und Antikriegsbewegung mehr denn je gefordert, hiergegen mobil zu machen.
Anmerkungen
[1] James G. McGann: 2015 Global Go To Think Tank Index Report, University of Pennsylvania, 09.02.2016.
[2] Entgrenzte Konflikte, begrenzte Fähigkeiten – Die Schwächen der internationalen Ordnung stehen im Mittelpunkt der Debatten der 52. Münchner Sicherheitskonferenz, Münchner Sicherheitskonferenz, 09.02.2016.
[3] Eine Ära der Instabilität ist angebrochen, FAZ, 27.01.2016.
[4] Cremer, Uli/Achelpöhler, Wilhelm: Syrienkrieg, Türkei und Kurdenstaat, Grüne Friedensinitiative, 10.2.2016.
[5] Syrien: 11% tot oder verletzt, IMI-Aktuell 2016/081.
[6] Ischinger plädiert für Bundeswehr-Einsatz in Syrien, Merkur, 14.09.2015.
[7] Wagner, Jürgen: Syrien: Die Militarisierung der Proteste und die strategische Unvernunft der Gewalt, in: AUSDRUCK (April 2012), S. 11-17.
[8] O’Hanlon, Michael: Deconstructing Syria, Brookings Institution, 30.06.2015.
[9] Wagner, Jürgen: Syrien und der kurze Aufstand des US-Militärs, in: AUSDRUCK (Februar 2016), S. 20-21.
[10] http://airwars.org/
[11] Eine ähnlich verlässliche Seite wie airwars.org für die US-Luftschläge in Syrien gibt es für Russland bislang nicht. Es ist allerdings recht wahrscheinlich, dass zumindest ein Teil der vielen Berichte über Zivilopfer russischer Luftschläge zutreffen dürften.
[12] Was folgt auf die Vereinbarung von München? Deutschlandfunk, 12.02.2016.
[13] Rede von John McCain bei der Münchner Sicherheitskonferenz, München, 14.02.2016.
[14] Russlands Premier warnt vor „Weltkrieg“, Managermagazin, 12.02.2016.
[15] Marischka, Christoph: NATO steigt in Syrienkrieg ein, IMI-Standpunkt 2016/005. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch noch, dass die NATO in ihrem kürzlich veröffentlichten Jahresbericht vor „Russlands fortdauerndem militärischen Aufmarsch in Syrien und dem östlichen Mittelmeer“ gewarnt hat, also genau dort, wo die NATO nun ihrerseits Kriegsschiffe hin entsendet. Siehe The Secretary General’s Annual Report 2015, NATO 2016.
[16] Der Tag der Falken, Deutsche Welle, 13.02.2016.
[17] Türkei greift militärisch in Syrien ein, Tagesspiegel, 14.02.2016.
[18] Saudi-Arabien verlegt Jets in die Türkei, tagesschau.de, 14.02.2016.
[19] USA und Deutschland rufen zum Stopp der Kämpfe in Syrien auf, Kleine Zeitung, 14.02.2016.
[20] Russland warnt vor „neuem Weltkrieg“, Wirtschaftswoche, 11.02.2016.
[21] Rede von Jens Stoltenberg bei der Münchner Sicherheitskonferenz, München, 13.02.2016.
[22] Rede von John Kerry bei der Münchner Sicherheitskonferenz, München, 13.02.2016.
[23] U.S. Fortifying Europe’s East to Deter Putin, New York Times, 01.02.2016.
[24] Schüler, Nathalie: Aufrüstung der NATO-Ostflanke, in: AUSDRUCK (Dezember 2015), S. 7-17.
[25] „Grundakte über Gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der Nordatlantikvertrags-Organisation und der Russischen Föderation“, NATO 27. Mai 1997.
[26] Nato verlegt mehr Truppen nach Osteuropa, Spiegel Online, 10.02.2016.
[27] Russland sieht den Westen wieder als Feind, Bild.de, 13.02.2016.
[28] Dangerous Brinkmanship: Close Military Encounters Between Russia and the West in 2014, European Leadership Network, November 2014.
[29] Rede von Dmitri Medwedew bei der Münchner Sicherheitskonferenz, München, 14.02.2016
[30] Der Tag der Falken, Deutsche Welle, 13.02.2016.
[31] Wie der Kalte Krieg nach München kam, Süddeutsche Zeitung, 13.02.2016.