Quelle: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. - www.imi-online.de

[0436] Sicherheitskonferenz / Neuer AUSDRUCK / Opfer der Bundeswehr

(12.02.2015)

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Online-Zeitschrift "IMI-List"
Nummer 0436 .......... 15. Jahrgang ........ ISSN 1611-2563
Hrsg.:...... Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.
Red.: IMI / Thomas Mickan/ Jürgen Wagner / Christoph Marischka
Abo (kostenlos).. https://listi.jpberlin.de/mailman/listinfo/imi-list
Archiv: ....... https://www.imi-online.de/mailingliste.php3
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Liebe Freundinnen und Freunde,

in dieser IMI-List finden sich

1. ) Der Hinweis auf eine Analyse der diesjährigen Münchner
Sicherheitskonferenz (Siko);

2. ) Links auf alle Texte des neuen AUSDRUCK

3. ) eine Analyse darüber, wie viele Menschen die Bundeswehr in ihrem
Einsatz in Afghanistan getötet hat.


1. Münchner Sicherheitskonferenz
Die diesjährige Münchner Sicherheitskonferenz stand ganz im Zeichen des
Eskalationskurses gegenüber Russland. Draußen demonstrierten wieder
Tausende gegen das „Kriegstreibertreffen“, drinnen zeigte sich, dass
auch diese in Bezug auf die Ukraine nicht einig, aber allesamt auf dem
Holzweg sind. Eine erste Analyse hierzu hat Jürgen Wagner erstellt:

IMI-Analyse 2015/003
Münchner Sicherheitskonferenz
Alle gegen Alle oder Front gegen Russland?
https://www.imi-online.de/2015/02/09/muenchner-sicherheitskonferenz/
Jürgen Wagner (9. Februar 2015)


2. Neuer AUSDRUCK
Soeben wurde die neue Ausgabe des AUSDRUCK verschickt, wie immer stellen
wir das gesamte Heft sowie alle Einzelbeiträge auch online zur Verfügung:

Die gesamte Ausgabe zum Download:
https://www.imi-online.de/download/Februar2015web.pdf

FORSCHUNG UND KRIEG
Wissenschaft im Krieg – staatlicher Steuerung oder Ermöglichungsraum
(Christoph Marischka)
https://www.imi-online.de/download/IMI-Studie3_2015marischka_web.pdf
Friedensstadt Augsburg? (Thomas Gruber)
https://www.imi-online.de/download/Februar201502_gruber.pdf
Kongressankündigung: Krieg um die Köpfe. Der Diskurs um die
Verantwortungsübernahme )
https://www.imi-online.de/download/Februar201503_kongress.pdf

DEUTSCHLAND UND DIE BUNDESWEHR
Wie viele Menschen hat die Bundeswehr in Afghanistan getötet? (Thomas
Mickan)
https://www.imi-online.de/download/Februar201503_mickan.pdf
Wer wird Soldat? (Jonna Schürkes)
https://www.imi-online.de/download/Februar201504_schuerkes.pdf
In Treue fest… ? (Helmut Groß)
https://www.imi-online.de/download/Februar201505_gross.pdf
Die Sozialdemokratie und die Vereinigte Armee von Europa (Jürgen Wagner)
https://www.imi-online.de/download/Februar201506_wagner.pdf
Deutsche Firmen in Mexiko (Peter Clausing)
https://www.imi-online.de/download/Februar2015web.pdf
Die Bundeswehr zieht aus Sardinien ab (Carsten Albrecht)
https://www.imi-online.de/download/Februar201507_albrecht.pdf

PULVERFASS NORDAFRIKA UND MITTLERER OSTEN
Bahrein: Britische Militärbasis “Östlich von Suez” (Jürgen Wagner)
https://www.imi-online.de/download/Februar201508_wagner.pdf
Libyen: Clintons Kriegslügen (Jürgen Wagner)
https://www.imi-online.de/download/Februar201509_wagner.pdf
Der Irak im Vielfrontenkrieg (Joachim Guilliard)
https://www.imi-online.de/download/IMI-Studie2015-1gulliard_web.pdf


3. Analyse zu Opfern des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr

IMI-Analyse 2015/005 - in: AUSDRUCK (Februar 2015)
Wie viele Menschen hat die Bundeswehr in Afghanistan getötet?
https://www.imi-online.de/2015/02/12/wie-viele-menschen-hat-die-bundeswehr-in-afghanistan-getoetet/
mit Chronologie der bekannt gewordenen Fälle:
https://www.imi-online.de/download/Tabelle_Toetungen_Afghanistan_Stand04022015.pdf
Thomas Mickan (12. Februar 2015)

Die Zahl der getöteten Feinde öffentlich preiszugeben, auszuschmücken
und damit die eigene militärische Potenz zu unterstreichen oder die
Moral der Truppe zu erhöhen, war seit Jahrtausenden Kriegspraxis.
Besondere Bekanntheit erreichte diese Praxis im Vietnamkrieg durch die
US-Armee, die damit ihre Fortschritte im Krieg kennzeichnen wollte
(„Body Count“), da sich etwa Gebietsgewinne gegen einen asymmetrisch
kämpfenden Feind als trügerisch erwiesen.[1] Ebenso trügerisch erwiesen
sich jedoch in Vietnam auch die so gemeldeten Zahlen, die mitunter viel
zu hoch oder zu niedrig übermittelt wurden, um entweder der eigenen
Karriere einen Schub zu verleihen, tote Zivilist_innen zu vertuschen
oder um schlicht die monatliche Tötungs-Quote zu erfüllen.[2] Auch in
den großen Kriegen in Irak und Afghanistan zählen die USA bzw. NATO ihre
getöteten Feinde, die Zahlen unterliegen jedoch der Geheimhaltung und
Tötungen werden nur in Einzelfällen veröffentlicht.[3] Das sogenannte
Battle-Damage-Assessment, also die Aufnahme und Auswertung der
verursachten Schäden, erfüllt so internen militärstrategischen Charakter
und gehört weiterhin zur aktuellen, auch deutschen Kriegspraxis.[4]
Während die USA im Vietnamkrieg ihre Tötungsraten als vermeintliche
Erfolgsmeldungen an die Bevölkerung weitergab, verhält sich der Fall auf
deutscher Seite für den größten deutschen Krieg der Gegenwart in
Afghanistan gegenteilig: Was die Tötungen durch deutsche Soldat_innen
betrifft, herrscht ein großes politisches Schweigen.

Opfer des Afghanistankrieges

Ohne Frage ist es unabhängig davon wichtig, die deutschen Opfer zu
benennen, auch wenn der Verzicht auf Pathos und mehr Nachdenken über die
Sinnlosigkeit dieses Todes bei Trauerfeiern und politischen
Sonntagsreden mehr als angebracht wären. Laut Angaben der Bundeswehr
sind beim Afghanistaneinsatz (Stand 07/2014) 55 deutsche Soldat_innen
gestorben, 35 von ihnen durch „Fremdeinwirkung“.[5] Unter anderem das
Magazin der Spiegel hat versucht, den Gestorbenen zur Erinnerung ein
Gesicht zu geben;[6] auf Wikipedia haben zahlreiche Nutzer alle Fälle
genau dokumentiert[7] und das Verteidigungsministerium hat einen Wald
der Erinnerungen sowie das Ehrenmal errichten lassen, um dieser
Kriegsopfer zu gedenken. Zudem wird versucht, eine eigene
Erinnerungskultur zu etablieren.[8]

Auch darüber hinaus zeichnet sich für Afghanistan ein trauriges Bild.
Wie unter anderem Lühr Henken im „IPPNW Body Count“ für Irak, Pakistan
und Afghanistan festhält, ist die Anzahl der Kriegstoten für Afghanistan
unvorstellbar hoch. Bis Ende 2013 zählt Henken nach der Auswertung und
Abschätzung zahlreicher Einzelstudien 184.000-248.000 direkt Getötete
auf allen Seiten. Die 55 deutschen Soldat_innen gehören zu den 3.409
getöteten ISAF- oder OEF-Soldat_innen. Bis Ende Dezember 2014 stieg
diese Zahl auf 3.485 Tote an.[9] Zudem starben bis Ende 2013 insgesamt
22 Journalist_innen, 281 Mitarbeiter_innen von NGOs, 3.000 private
US-Sicherheitskräfte, 1.700 zivile Mitarbeiter_innen der US-Regierung,
15.000 afghanische Sicherheitskräfte sowie zwischen 106.000-170.000
afghanische Zivilpersonen! Henken führt zudem noch 55.000 direkt
getötete Aufständische auf.[10] Es stellt sich insbesondere bei den
letzten beiden Zahlen die Frage nach dem Ausmaß deutscher Verantwortung.
Hier soll deshalb ein erster Versuch unternommen werden, eine
Größenordnung der durch deutsche Soldat_innen getöteten Menschen in
Afghanistan zu skizzieren.

Zivile Opfer oder Aufständische?

Schon seit Beginn des Afghanistankrieges wurde immer wieder auf den
Umstand hingewiesen, dass Zivilpersonen von sogenannten Aufständischen
(Opposing Militant Forces (OMF) in der Militärsprache) nur schwer zu
unterscheiden seien.[11] Auch wenn diese völkerrechtliche Unterscheidung
trotz der sehr weiten Auslegung etwa der USA, die alle Männer im
waffenfähigen Alter mitunter als Kombattanten betrachtet,[12] alles
andere als obsolet ist, so verstellt sie doch insbesondere den Blick auf
die vermeintlich völkerrechtlich „legal“ getöteten Menschen, ihre
Geschichten und deren Angehörige. So sind in der deutschen Debatte
meistens nur dann die Medien aktiv geworden, wenn Bundeswehrangehörige
Zivilist_innen erschossen haben – betraf dies jedoch wirkliche oder
vermeintliche Aufständische, war dies mitunter nur eine Randnotiz wert.

Auch die institutionelle Friedensforschung ist in dieser Frage ähnlich
untätig, wenn es um die Getöteten auf Seiten der Aufständischen geht.
Ein gutes Beispiel hierfür ist, in einer Reihe von Afghanistanbilanzen,
die Ende 2014 erschienene HSFK-Studie „Ziel verfehlt“. Darin untersuchen
die beiden Autoren, wie die „internationale Präsenz die Praktiken
gewaltbereiter Akteure und deren Umgang mit Zivilisten veränderte“ und
wie die NATO-Kräfte das kolportierte Ziel „Zivilist_innen zu schützen“
mit ihrer eigenen Politik unterliefen und damit das eigene Ziel eben
verfehlten.[13] Sie konzentrieren sich dabei auf Zivilist_innen und
schauen sich neben den direkten zivilen Opfern auch indirekte, nicht
beabsichtigte Folgen an und damit die Mitverantwortung der NATO an
weiteren zivilen Opfern. Den Tötungen von Aufständischen durch die
Bundeswehr gehen die Autoren nicht nach. Ferner reproduzieren sie das
öffentliche Bild, dass deutsche Soldat_innen nicht „hart genug
durchgegriffen“ hätten[14] und deshalb die US-Streitkräfte „frustriert
durch die unwillige Bundeswehr“ in die Bresche sprangen. Deshalb hätte
Deutschland zwar nicht viel erreicht, aber eben auch weniger direkte wie
nicht-beabsichtigte zivile Opfer zu verantworten.[15] Dieser Zugang
allein über die zivilen Opfer verschleiert jedoch – ob gewollt oder
ungewollt – die Tötungspraxis von deutschen Soldat_innen und ist damit
nur bedingt geeignet, die Dimension deutscher Verantwortung tatsächlich
zu umreißen.

Dem von Bundespräsident Joachim Gauck bei seinem Antrittsbesuch bei der
Bundeswehr angemahnten „Nicht-Wissen-Wollen“ durch Politik, Medien,
Wissenschaft und letztlich der Öffentlichkeit gesellt sich erschwerend
noch ein „Nicht-Wissen-Können“ hinzu.[16] Bei mehreren parlamentarischen
Nachfragen über direkte Opfer durch Bundeswehrangehörige hüllte sich die
Bundesregierung in Schweigen – es würden keine offiziellen Statistiken
geführt und aufgrund der kulturellen Begebenheit, dass die Toten noch am
gleichen Tag bestattet werden, wäre dies ohnehin kaum möglich.[17]
Handelt es sich um Aktionen und Tötungen durch Spezialkräfte wie der
Task Force 47, wird die mögliche Antwort gleich ganz unter Verschluss
gestellt.[18] Auch über die Folgen der deutlichen Erhöhung von deutschen
Scharfschützen zwischen 2006 und 2011 im Kampfeinsatz könne keine
Aussage getroffen werden. Unter anderem der Abgeordnete Christian
Ströbele bezweifelt den Wahrheitsgehalt dieses Nicht-Wissen-Könnens.[19]
Es drängt sich so der Eindruck auf, dass versucht wird, das Image der
brunnenbohrenden deutschen Soldat_innen nicht der kalten Kriegswahrheit
zu opfern.

Dabei ist es ein fundamentaler Unterschied, ob Politiker wie der
ehemalige Verteidigungsminister Thomas de Maizière oder Joachim Gauck
auch in einem Nebensatz vermerken, dass auch deutsche Soldat_innen
töten; oder aber, ob die konkreten Umstände, Zahlen, Menschen mit ihren
Geschichten zu diesen Tötungen durch die Bundeswehrangehörigen
existieren. Lediglich die Getöteten zu zählen kann hier deshalb nur ein
kleiner Schritt zur Wahrheit und zum Verständnis der Komplexität von
Schuld und Unschuld sein. Die Ausstellung „Kunduz, 04. September
2009”[20] von Christoph Reuter und Marcel Mettelsiefen oder das Projekt
„Naming the Dead“[21] des Bureaus of Investigative Journalism haben
diesbezüglich Pionierarbeit geleistet, indem sie den durch westliches
Militär Getöteten und deren Angehörigen ein Gesicht geben und deren
Geschichten erzählen, die die Vereinfachung von schuldig und unschuldig
herausfordern.

Was gezählt wurde

Um einen ersten Anhaltspunkt für durch Bundeswehrangehörige Getötete zu
erhalten, egal ob schuldig oder unschuldig, Zivilist_in oder
Kombattant_in, ist das Zählen der durch Medien bekannten und
aufgegriffenen Fälle durch eine Internetsuche erfolgt. Besonders die
Bombardierung der Tanklaster bei Kunduz ist hier einschlägig, aber auch
einer der ersten Fälle, bei dem Bundeswehrsoldat_innen eine Mutter mit
ihren Kindern in einem Auto bei einem Checkpoint Ende August 2008
erschossen. Dies umfasst bereits bei vorsichtiger Zählung mehr als drei
Duzend Menschen, plus der wahrscheinlich 142 beim Kunduz-Bombardement
Getöteten. Zusätzlich wurden noch die öffentlich zugänglichen, da
geleakten und von der WAZ veröffentlichten „Unterrichtungen des
Parlamentes“ (alias „Afghanistan-Papiere“) bis September 2012
ausgewertet.[22] Es zeigt sich dabei, dass zwischen 2008 und 2010 neben
den presseöffentlich bereits bekannten Fällen noch mehrere Tötungen zu
finden sind. Obwohl jedoch die Unterrichtungen des Parlamentes auch für
die Jahre 2011 und 2012 verfügbar sind, lassen sich darin keine Belege
für Tötungen mehr finden. Offensichtlich wurde die Sprachregelung für
die bereits unter Verschlusssache gehaltenen und nur für die
Parlamentar_innen zugänglichen Dokumente verändert: wurden insbesondere
in den Jahren 2009 und 2010 genaue Zahlen für getötete Aufständische
genannt, gibt es in den Folgejahren nur noch Aussagen zu zivilen und
deutschen Opfern. Ein Auszug aus dem Jahr 2011 soll dies verdeutlichen:

„Am 28.12.2010 wurden deutsche Kräfte im Rahmen einer laufenden
Operation rund 13 Kilometer nordwestlich von Kunduz von OMF [Opposing
Militant Forces; Anmerkung T.M.] mit Handfeuerwaffen und
Panzerabwehrhandwaffen (Rocket Propelled Grenade RPG) angegriffen. Die
mit den eigenen Kräften operierende Luftnahunterstützung erwiderte das
Feuer. Im Rahmen der weiteren Operationsführung wurden drei Schuss
Mörserfeuer auf eine aufgeklärte Stellung der OMF abgegeben. Durch den
Mörsereinsatz entstand kein ziviler Personen- oder Sachschaden. Auf
deutscher Seite gab es keine Verwundeten und keine Schäden.“[23]

In engen Grenzen, da kaum ergiebig, wurde auch auf das Wikileaks „Afghan
War Diary“ zurückgegriffen bzw. auf die öffentlich zugänglichen
parlamentarischen Anfragen oder Vergleichbares.

Die verwendeten Quellen müssen daher so eingeschätzt werden, dass sie
nur ein Minimum der tatsächlich Getöteten abbilden. Das betrifft nicht
nur die parlamentarischen Anfragen, bei denen offensichtlich mehrere
Fälle verschwiegen wurden.[24] Auch die geheimen Unterrichtungen des
Parlaments entsprechen nicht immer der vollen Wahrheit. Wie bereits
angesprochen, ist 2011 und 2012, vermutlich auch 2013 und 2014, keine
direkte Nennung mehr von getöteten Aufständischen dort vorzufinden.
Zudem zeigt die Geschichte des traumatisierten Soldaten Daniel Lücking,
dass auch dieser in Kenntnis der Unterrichtungen des Parlamentes für
einen Vorfall, den er selbst beobachtet hatte, in den Unterrichtungen
entscheidende Lücken in Bezug auf Aufständische erkennt.[25] Auch bei
einem Fall vom 5.2.2010 sind die Unterrichtungen über einen getöteten
Aufständischen lückenhaft, bei dem in der Unterrichtung zwar ein
weiteres ziviles Opfer, nicht jedoch der getötete Aufständische genannt
wird.[26]

Zudem muss auch an der Glaubwürdigkeit der Angaben durch Soldat_innen
für die jeweiligen Frontberichte mitunter gezweifelt werden. Ein unter
Verschluss gehaltener Bericht des Wehrbeauftragten Helmut Königshaus vom
28.11.2011 über den Fall Shahabuddin macht dies deutlich. In ihm wurde
von Soldat_innen ohne hinreichenden Feindkontakt und somit unter dem
Vorspielen falscher Tatsachen, die die Einsatzregeln verletzten,
Luftnahunterstützung angefordert.[27] Auch der Fall „Halmazag“, bei dem
das Magazin Monitor zahlreiche weitere Tötungen aufdeckte, ist noch ein
weiteres Beispiel, bei dem das Berichtswesen der Bundeswehr falsche
Aussagen weitergab.[28]

Bereits im Vietnamkrieg gab es zudem eine ähnliche Praxis des
Geschehenlassens wie in Shahabuddin durch Vorgesetzte und Soldat_innen
im Gefecht, um die eigenen Handlungsspielräume zu erweitern, indem immer
wieder Grenzen ausgetestet und überschritten wurden. In Vietnam geschah
dies auch „zur Besänftigung der Wut und Rachebedürfnisse überforderter
GIs.“[29] Auch bei deutschen Soldat_innen ist bekannt, dass nach eigenen
Verlusten die eigene Überforderung sich diesbezüglich ausdrückte. So
berichtete etwa ein Soldat, dass er mit seinen Kamerad_innen nach den
Gefallenennachrichten vereinbarte, auch auf vermeintlich gefährliche
Zivilist_innen zu schießen, „die während eines Gefechtes telefonieren
oder schreiend zwischen Gehöften hin und her laufen.“[30]

Was nicht berücksichtigt wurde

Für die Aufzählungen der Tötungen durch die Bundeswehr konnten aufgrund
der schlechten Quellenlage zahlreiche Fälle nicht berücksichtigt werden.
Die oben zitierte Stelle aus den Unterrichtungen des Parlamentes floss
beispielsweise nicht mit in die Fälle ein, obwohl es klare Indizien
gibt, dass auch Aufständische getötet wurden. Nicht berücksichtigt
wurden auch die Fälle, in denen Bundeswehrsolat_innen andere
Kamerad_innen erschossen haben. Auch keine (meist Verkehrs-)Unfälle mit
der Bevölkerung, bei der Afghan_innen starben, wurden berücksichtigt,
wie am 21.9.2008, als ein afghanisches Kind überfahren wurde.[31]
Zwischen 2002 und 2010 gab es eine Aufstellung der Bundesregierung, der
zufolge 66 Personen bei Unfällen mit Bundeswehrbeteiligung verletzt und
sechs getötet wurden.[32]

Besonders problematisch sind aber die Fälle, bei der die Bundeswehr über
Luftunterstützung durch RECCE Tornados agierte,[33] bei der sie
Spezialkräfte einsetzte,[34] über die Panzerhaubitze 2000 schwere
Geschütze benutzte[35] oder bei der sie bei der Erstellung von
Tötungslisten half, wie Weihnachten 2014 bekannt wurde.[36] Diese Fälle
konnten aus Mangel an Quellen nicht im größeren Umfang berücksichtigt
werden. Besonders offensichtlich wird dieser Mangel an Informationen in
einem groß angelegten Bericht in der Reservist_innen-Zeitschrift loyal,
in dem über die Operation „Jadid“, eines der größten Gefechte der
Bundeswehrgeschichte, militärbejahend berichtet wird: „Der Krieg der
Bundeswehr in Afghanistan geht im vorigen Oktober in eine neue, heiße
Phase. Im Tal des Baghlan-Flusses treten 600 Soldaten aus Bayern gegen
200 Aufständische an.“ Über durch die Bundeswehr getötete Aufständische
wird kein Wort verloren, es erscheint jedoch unwahrscheinlich, dass auf
der Seite der Aufständischen niemand getötet wurde.[37]

Eine erste Schätzung und große Zahlen

Nach Auswertung der Quellen und der Abwägung, in welchem Umfang diese zu
berücksichtigen sind, muss von mindestens 126-132 getöteten Menschen
durch die Bundeswehr ausgegangen werden, plus die veranschlagte Zahl von
142 Opfern des Kunduz-Bombardements. Bei den so insgesamt rund 270
getöteten Menschen sind auch jene mit erfasst, bei denen die Bundeswehr,
wie auch bei den Tanklastzügen, Luftnahunterstützung erhalten hat.[38]
Diese Zahl ist allerdings äußerst konservativ und beschränkt sich
lediglich auf die öffentlich zugänglichen Quellen, insbesondere im
Zeitraum 2009-2010. Sie ist nur eine vorläufige erste Schätzung, die
sich im Rahmen einer weiteren Aufarbeitung des Afghanistankonfliktes mit
großer Wahrscheinlichkeit noch um ein Vielfaches erhöhen wird.

Ein erstes Indiz für eine bessere Schätzung liefert eine psychologische
Untersuchung an der TU-Dresden über posttraumatische
Belastungsstörungen.[39] Unterstützt und begleitet durch die Bundeswehr
– es kann also von transparenter, bundeswehrnaher Forschung gesprochen
werden – befragten die Psycholog_innen Soldat_innen, die in Afghanistan
gekämpft haben. Die Stichprobe wurde repräsentativ aus der
Grundgesamtheit von 9617 Soldat_innen des 20. und 21.
Einsatzkontingentes aus den Jahren 2009/2010 gezogen. Der Umfang der
Stichprobe betrug 1599 Fälle, von denen 1483 Fälle einen Fragebogen zu
ihren möglicherweise traumatisierten Erlebnissen in Afghanistan
ausfüllten.[40] Aufgrund der hohen Rücklaufquote kommen die Forschenden
zu dem Ergebnis, dass sie „keine bemerkenswerten Einschränkungen für die
Repräsentativität der Studie für die Soldaten des ISAF-Einsatzes
2009/2010“ erkennen können.[41] Die Soldat_innen wurden beispielsweise
befragt, ob sie während ihres Einsatzes mindestens einmal „zerstörte
Häuser oder Dorfer gesehen“ haben. Von den 1483 Befragten beantworteten
dies 1131 Personen mit Ja. Dies schließt nicht aus, dass sie nicht auch
mehrmals diesem Einsatzereignis begegnet sind.

Für die Frage nach der Tötungshäufigkeit durch deutsche Soldat_innen
sind insbesondere drei Items besonders interessant. Erstens wurde
gefragt, wie viele Soldat_innen „auf einen Gegner gezielt oder
geschossen haben“. Das beantworteten von den 1483 Personen insgesamt 432
mit Ja. Zweitens wurde gefragt, ob die Person den „Beschuss des Gegners
befohlen“ hatte – von den 1483 beantworteten 197 Personen dies mit Ja.
Die diskussionswürdigste Zahl ist allerdings die Frage, ob die
Soldat_innen „verantwortlich für den Tod eines Gegners“ waren. Von den
1483 Befragten beantworteten 131 Personen diese Frage mit Ja. Ob zivile
Personen getötet wurden, oder ob Soldat_innen mehrfach töteten, wurde
nicht erfasst! Ebenso muss ein gewisser Zweifel angemeldet werden, was
die Aussagekraft der Beantwortungen für jedes Item angeht, da
Soldat_innen etwa im Zweifel darüber sein könnten, ob der tödliche
Schuss tatsächlich von ihnen ausging. In der Summe zeigt jedoch die
Untersuchung, dass im 20. und 21. Einsatzkontingent in der
repräsentativen Stichprobe knapp jede/r 11. Soldat_in für den Tod eines
Gegners ggf. auch mehrerer Gegner sich verantwortlich fühlt. Für das 20.
und 21. Einsatzkontingent wären dies fast 1000 Tötungen. Diese Aussage
ist dabei jedoch mit großer Vorsicht zu betrachten und entspricht eher
einer schlechten Schätzung als einer konkreten Zahl. Noch viel weniger
kann diese Zahl auf die folgenden Einsatzkontingente übertragen werden,
etwa wenn sie anhand der Sicherheitsrelevanten Zusammenstöße oder der
Anzahl der angeforderten Luftnahunterstützungen extrapoliert werden
würde. Am wichtigsten ist jedoch, dass die gefundenen Opferzahlen keine
Aussagen über die Geschichten und das Leid ausdrücken können, die die
Tötungen auch insbesondere für die Hinterbliebenen bedeuten.

Deutsche Verantwortung?

Es bleibt so festzuhalten, dass hier über das tatsächliche Ausmaß einer
direkten Tötungsverantwortlichkeit durch deutsche Soldat_innen im
Kriegseinsatz in Afghanistan nur eine sehr grobe erste Annäherung
erfolgen kann. Ein besserer Zugang zu weiterem Quellenmaterial und
weiterführende Studien, wie die an der TU-Dresden, könnten hier mehr
Aufschluss geben. Es muss jedoch, wenn auch mit großer Vorsicht,
wahrscheinlich eine deutlich höhere Zahl an Tötungen durch die
Bundeswehr in Afghanistan angenommen werden, als wohl allgemein vermutet
wird. Dies stellt jedoch noch keinerlei Aussagen darüber dar, unter
welchen Umständen die Soldat_innen getötet haben, das heißt, ob es aus
Notwehr oder sonstigen Motivlagen geschah, und wie dieses rechtlich und
moralisch zu beurteilen ist. Eine Aussage des ehemaligen Kommandeurs des
deutschen Regionalkommandos Nord unterstreicht jedoch die ganze
Unwirklichkeit und Paradoxie des Einsatzes und der Tötungen: „Wir setzen
den Taliban massiv zu. Sie haben erkannt, dass es ums Ganze geht. Wir
bleiben in den Dörfern und schützen die Bewohner vor den Aufständischen.
Wenn die den Kampf suchen, endet er für sie meist tödlich. Deshalb
reagieren sie wütend und brutaler, auch der eigenen Bevölkerung
gegenüber.“[42] Der Weg der deutschen Aufarbeitung des Kriegseinsatzes
in Afghanistan wird noch lang sein. Dies ist eine Verantwortung, der
sich die deutsche Politik und auch die Öffentlichkeit jedoch als
allererstes stellen sollte, bevor immer mehr Soldat_innen in weitere
Einsätze geschickt werden.

Anmerkungen

[1] Graham, Bradley: Enemy Body Counts revived, Washington Post, 24.10.2005.

[2] Greiner, Bernd (2007): Krieg ohne Fronten. BpB: Bonn, S. 424.

[3] Ebd.

[4] Das dabei auch deutsche Soldat_innen sterben, zeigt der Fall des
getöteten KSK Soldaten am 4.5.2013, Bundeswehr: 5.5.2013, Afghanistan:
Deutscher Soldat gefallen. Sowie Antwort der Bundesregierung auf die
Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE, Drucksache 17/1813, Opfer des
Krieges in Afghanistan, Frage 16 und 2, 20.5.2010.

[5] Bundeswehr.de: Todesfälle im Einsatz, Stand Juli 2014.

[6] SPON: Tode in Afghanistan, 2009.

[7] Wikipedia: Todesfälle bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr, Version
8.1.2015.

[8] Brendle, Frank (2013): Krieg um die Köpfe: Das Feld der Ehre.
IMI-AUSDRUCK, 6/2013, S. 14-17.

[9] Die Website iCasualities.org dokumentiert diese Fälle.

[10] U.a. Lühr, Henken (2014): IPPNW-Body Count, Opferzahlen nach 10
Jahren „Krieg gegen den Terror“, 3. aktualisierte und erweiterte
Auflage, Oktober 2014, S. 76.

[11] Hierzu etwa Egon Ramms, einst verantwortlicher Kommandeur für den
ISAF-Einsatz in Afghanistan, zu dieser Frage, in: IMS: Die NATO in
Afghanistan, 2008.

[12] Shane, Scott/Becker Jo (New York Times, 29.5.2012): Secret ‘Kill
List’ Proves a Test of Obama’s Principles and Will.

[13] Bell, Arvid/Friesendorf, Cornelius (2014): Ziel verfehlt. Die
Mitverantwortung der NATO für zivile Opfer in Afghanistan.
HSFK-Standpunkt 6/2014.

[14] Vgl. Seliger, Marco (2011): Operation „Jadid“, in: loyal 03/11, S. 34.

[15] Ebd., S. 10.

[16] Zur Verschlusssachenpolitik des Verteidigungsministeriums siehe
Mickan, Thomas (2014): Die Sache mit der Verschlusssache, IMI-Analyse in
AUSDRUCK April 2014.

[17] Bundestag: Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Thomas
Kossendey vom 23.9.2010 auf eine schriftliche Anfrage des
Bundestagsabgeordneten Wolfgang Neskovic, Bundestagsdrucksache 17/3114,
S. 38.

[18] Bundestag: Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Thomas
Kossendey vom 18.1.2011 auf eine Schriftliche Frage des
Bundestagsabgeordneten Paul Schäfer, Drucksache 17/4494 (Auszug), via
Bundeswehr-Monitoring.

[19] SPON (29.3.2011): Scharfschützen in Afghanistan: „Bundesregierung
sagt nicht die volle Wahrheit“, Interview mit Christian Ströbele.

[20] Kunstausstellung „Kunduz, 04. September 2009”.

[21] Projekt Naming the Dead.

[22] WAZ: Afghanistan-Papiere. Nur noch über den Download erhältlich.

[23] Unterrichtung des Parlamentes 01/11, S. 7. Hervorhebung T.M.

[24] Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE
LINKE, Drucksache 17/1813, Opfer des Krieges in Afghanistan, Anlage 2,
20.5.2010.

[25] Lücking, Daniel (2014): Offener Brief: Umgang mit Angreifern in
Afghanistan.

[26] Unterrichtung des Parlamentes 06/10, S. 6.

[27] Bericht des Wehrbeauftragten. Geleakt bei den Recherchen zur
„Afghanistan-Connection“ des Tagesspiegels und Fakt.

[28] Zeidler, Markus/Thörner, Marc: Zivile Opfer im Afghanistan-Krieg:
Was verschweigt die Bundeswehr? Monitor Nr. 663 vom 10.7.2014.

[29] Greiner, Bernd (2007): Krieg ohne Fronten. BpB: Bonn, S. 32.

[30] RP (25.10.2010): Deutsche schossen auf Zivilisten.

[31] Unterrichtung des Parlamentes 39/08, S. 6

[32] Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE
LINKE, Drucksache 17/1813, Opfer des Krieges in Afghanistan, Anlage 1,
20.5.2010.

[33] Wiegold, Thomas (Focus, 17.12.2007): Im Zweifel töten. Vgl. auch
Bundestag: Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Thomas
Kossendey vom 14.9.2010 auf die Schriftliche Fragen des
Bundestagsabgeordneten Paul Schäfer, Drucksache 17/2963 (Auszug), via
Bundeswehr Monitoring.

[34] U.a. Bundeswehr Monitoring (26.5.2010): Empfindsame Spezialkräfte
töten regelmäßig.

[35] Bundeswehr, 18.6.2012, Afghanistan: Einsatz der Panzerhaubitze 2000
in Kundus.

[36] U.a. Mayntz, Gregor (RP, 31.12.2014): Bundeswehr lieferte Daten für
„Tötungsliste“ in Afghanistan.

[37] Seliger, Marco (2011): Operation „Jadid“, in: loyal 03/11, S. 26-37.

[38] Eine entsprechende tabellarische Auflistung aller Fälle mit Quellen
ist entweder beim Autor zu erfragen, oder wird über die Homepage der
Informationsstelle Militarisierung verfügbar gemacht.

[39] Wittchen HU, Schönfeld S, Kirschbaum C, et al.: Traumatic
experiences and posttraumatic stress disorder in soldiers following
deployment abroad: how big is the hidden problem? Dtsch Arztebl Int
2012; 109(35–36): 559–68. DOI: 10.3238/arztebl.2012.0559.

[40] Die genaueren Details zur Methodik können der frei verfügbaren
Studie entnommen werden.

[41] Ebd.

[42] Interview mit Generalmajor Hans-Werner Fritz 2011, in: Seliger,
Marco (2011): Operation „Jadid“, in: loyal 03/11, S. 36-37.
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