IMI-Standpunkt 2014/040
Hiroshima-Tag
Redebeitrag von Arno Neuber, Kundgebung und Mahnwache zum Hiroshima-Tag, Karlsruhe, 6. August 2014
(07.08.2014)
Liebe Friedensfreundinnen und –freunde!
Dieser 6. August steht natürlich unter dem Eindruck der Kriege in Syrien, in Gaza, in der Ukraine. Niemand kann die Bilder von explodierenden Granaten, von zerstörten Häusern und Schulen, von Toten, die auf Straßen und zwischen Trümmerbergen liegen, wie weggeworfene Gepäckstücke, von Menschen auf der Flucht, verzweifelt oder voller Hass, apathisch, gebrochen und voller Trauer – niemand kann diese Bilder, die wir jeden Tag am Fernsehbildschirm sehen, verdrängen oder vergessen.
Angesichts des Gemetzels mit sogenannten konventionellen Waffen scheint die Gefahr, die von Atomwaffen ausgeht, gering, fiktiv, kaum real.
Von dem Grauen des Atomkrieges haben wir keine täglichen Filmberichte. Wir kennen nur die Bilder aus Hiroshima und Nagasaki. Wir kennen sie aus Illustrierten und Schulbüchern. Sie scheinen uns aus einer längst überwundenen Vergangenheit zu stammen. Sie sind in schwarz-weiß und verblassen zusehends.
Eine einzige Bombe explodierte am 6. August um 08:16 Uhr in 600 Metern Höhe über der Innenstadt von Hiroshima. 43 Sekunden später hatte die Druckwelle 80 Prozent der Innenstadt dem Erdboden gleichgemacht. Ein Feuerball mit einer Innentemperatur von über einer Million Grad Celsius und einer Hitzewirkung von 6000 °C ließ noch in über zehn Kilometern Entfernung Bäume in Flammen aufgehen. Von den 76.000 Häusern der Großstadt wurden 70.000 zerstört oder beschädigt. Der Atompilz aus aufgewirbelten und verstrahlten Trümmern und Staub stieg 13 Kilometer in die Höhe und ging 20 Minuten später als radioaktiver Niederschlag auf die Umgebung nieder. 80.000 Menschen waren sofort tot. Bei den Menschen, die sich in der Innenstadt aufhielten, verdampften die obersten Hautschichten. Dann wurden sie von der Druckwelle fortgerissen. Tausende Menschen starben in den folgenden Wochen an den Folgen der Verstrahlung, verbluteten qualvoll an inneren Verletzungen. Ein Jahr später waren bis zu 166.000 Menschen tot.
Eine einzige Bombe hat damals eine Stadt und ihre Menschen ausgelöscht.
Heute lagern in den Arsenalen der Atommächte 16.300 Atomsprengköpfe. Jeder davon um ein Vielfaches wirksamer, als die Bombe von Hiroshima.
4.000 Sprengköpfe sind bereit für den Einsatz, bereit jeden Flecken auf dieser Erde zu vernichten.
Wir leben mit den Atomwaffen seit Jahrzehnten. Das scheint uns Sicherheit und Verlässlichkeit zu suggerieren. Der atomare Irrsinn ist Routine geworden.
Aber nichts ist gefährlicher als Routine. Jeder, der sich mit alltäglichen Sicherheitsthemen befasst, weiß das. Das Verhängnis kündigt sich nicht an. Es folgt auf die Routine.
Der Atomwaffensperrvertrag sollte dieser Routine, dem Leben mit dem Wahnsinn, eine andere Perspektive entgegensetzen. Er verpflichtet alle Staaten, die Atomwaffen besitzen, „in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen“, die das Ziel haben „zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle“ zu kommen.
Er trat am 5. März 1970 in Kraft, aber die atomwaffenfreie Welt ist nicht in Sicht. Seit nunmehr 44 Jahren wird die atomare Abrüstung von den Atommächten verschleppt und hintertrieben.
In den letzten Jahren haben Russland und die USA die Zahl ihrer Sprengköpfe um einige hundert verringert. Mit Abrüstung hat das aber nichts zu tun.
Veraltete Sprengköpfe und Raketen wurden demontiert und gleichzeitig riesige Summen in die Modernisierung und Effektivierung der Atomwaffen gesteckt. Neue U-Boote werden gebaut, die Atomwaffen in alle Weltmeere tragen. Neue strategische Bomber werden geplant, die Atomwaffen über tausende Kilometer transportieren können. Neue Interkontinentalraketen werden in Dienst gestellt. 350 Milliarden Dollar werden allein die USA in den nächsten zehn Jahren für diese Zwecke ausgeben. Die USA planen ihre Atommacht bereits für die Jahre nach 2050.
Und die anderen Atommächte ziehen nach. Russland modernisiert sein Atomwaffenarsenal. China stockt seine Atomwaffenbestände auf. Frankreich und Großbritannien sehen atomare Abrüstung als Thema von Russland und den USA, halten eisern an ihren Waffen fest, modernisieren Sprengköpfe und Trägersysteme.
Vier Staaten haben den Atomwaffensperrvertrag nicht unterzeichnet und besitzen dennoch Atomwaffen: Indien, Israel, Nordkorea und Pakistan.
Andere Länder, wie der Iran oder Saudi-Arabien, könnten in relativ kurzer Zeit zu Atommächten werden.
Die Bundesrepublik hat den Atomwaffenverzicht erst nach massivem internationalen Druck erklärt und jahrzehntelang ein gespaltenes Verhältnis zum Atomwaffensperrvertrag an den Tag gelegt.
Die politische Garde dieses Landes hat den Nichtbesitz von Atomwaffen als Makel empfunden und alles unternommen, um sich doch noch Mitsprache- und Mitwirkungsmöglichkeiten zu erstreiten.
Daraus entstand die sogenannte nukleare Teilhabe.
Im Ergebnis lagern in Büchel, in der Eifel, bis auf den heutigen Tag bis zu 20 US-amerikanische Atombomben, von denen jede eine Sprengkraft besitzt, die ein Vielfaches der Bombe darstellt, die Hiroshima vernichtet hat.
Im „Ernstfall“ sollen diese Bomben nach Freigabe durch die USA von Bundeswehrpiloten und Bundeswehrjets im befohlenen Einsatzgebiet abgeworfen werden.
Nach jahrelangen Aktionen und Diskussionen wurde vor 5 Jahren im Koalitionsvertrag der schwarz-gelben Bundesregierung ihr Abzug aus Deutschland verlangt.
Alles gut also? Nichts ist gut.
Intern signalisierte Bundeskanzlerin Merkel damals der US-Regierung, dass man es mit dem Abzug nicht wirklich ernst meine. Die Bomben blieben.
Im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD 2013 liest sich das Thema nun ganz anders.
Die Koalitionäre betonen jetzt das deutsche Interesse, an strategischen Planungen und Debatten über Atomwaffen teilzuhaben, „solange Kernwaffen als Instrument der Abschreckung im strategischen Konzept der NATO eine Rolle spielen“.
Die NATO fasst aber regelmäßig Beschlüsse unter deutsche Beteiligung, in denen sie erklärt, dass sie eine Militärorganisation mit Atomwaffen ist und das auch nicht ändern will.
Im Juni hat nun der US-Kongress die Weichen für die Entwicklung von Atombomben mit völlig neuen Fähigkeiten gestellt. Die alten, ungelenkten Bomben sollen mit einer Präzisionssteuerung versehen werden. Statt Abzug der eigentlich veralteten Atomwaffen aus Europa könnten nun plötzlich neue Präzisionsbomben in Deutschland und anderen europäischen Ländern stationiert werden.
Die Bundesregierung redet sich damit heraus, dass „weder neue Waffen noch neue militärische Fähigkeiten“ geschaffen würden. Das ist ganz augenscheinlich falsch.
Und sie lenkt auf die USA ab. Es handele sich um ein „nationales Programm der USA“, über das es keine Verhandlungen zwischen Washington und Berlin gäbe.
Das ist eine Täuschung. Es gab nämlich sehr wohl Gespräche innerhalb der NATO über Sprengkraft und Präzision der künftigen Atomwaffen. In einem Bericht des US-Rechnungshofes kann man es nachlesen:
„Das US-Verteidigungsministerium und die NATO-Verbündeten einigten sich auf die zentralen militärischen Merkmale der Bombe.“
Die Bundesregierung betreibt hier ein gefährliches Spiel, das in eine weitere Runde des atomaren Wettrüstens mit Russland münden kann.
Es ist auch schon wieder vom kalten Krieg zwischen Russland und der NATO die Rede. Und es wird fleißig daran gearbeitet, das Misstrauen zwischen beiden atomar bewaffneten Seiten zu schüren.
Inzwischen sind nicht nur kritische Friedensbewegte beunruhigt, sondern Leute, die pazifistischer Gesinnung völlig unverdächtig sind. Ende Juli warnte ein Netzwerk von europäischen Außen- und Militärpolitikern (das Londoner European Leadership Network) vor einem Krieg aus Versehen.
„Wir glauben, dass der Konflikt in der Ostukraine die Sicherheit von ganz Europa gefährdet“, schreiben die Experten. „Es gab bereits mehrere Beinahe-Zusammenstöße. Es muss dringend etwas getan werden, um deren Wahrscheinlichkeit zu verringern. Die Führungen der Länder brauchen zudem mehr Entscheidungszeit, insbesondere vor dem Hintergrund, dass immer noch Tausende Atomwaffen auf beiden Seiten in Alarmbereitschaft sind“.
Alle Seiten sollten politisch und militärisch Zurückhaltung üben und auch ihre Verbündeten dazu anhalten, mahnt die Gruppe.
Zu den Unterzeichnern der Erklärung zählen der frühere Bundesverteidigungsminister Volker Rühe sowie ehemalige Außen- und Verteidigungsminister aus Großbritannien, Frankreich, Polen, Russland und der Türkei.
Wollen wir 24 Jahre nach dem Ende der Blockkonfrontation in Europa nicht in einen Konflikt geraten, der täglich das atomare Inferno heraufbeschwören kann, muss die Politik endlich auf Kooperation statt Konfrontation schalten.
In Europa brauchen wir gemeinsame Sicherheit statt Wettrüsten gegeneinander.
Der Abzug aller Atomwaffen aus Deutschland wäre ein wichtiges Signal für eine solche Politik. Dafür müssen wir verstärkt Druck entwickeln.
Deutschland muss auf die Verfügungsgewalt über Atomwaffen verzichten, ohne wenn und aber, ohne europäische Hintertürchen und ohne Tricks wie die atomare Teilhabe.
Machen wir Druck auf die Firmen, die mit Atomwaffen Profite machen. Das sind nicht nur Rüstungskonzerne wie EADS/Airbus, sondern auch Banken wie die Deutsche und die Commerzbank oder Versicherungskonzerne wie die Allianz.
Machen wir Druck auf eine Bundesregierung, die öffentlich über den Stopp von Waffengeschäften mit Russland redet, wenn sich das gut macht, aber U-Boote nach Israel liefert, die mit Atomwaffen bestückt werden können.
Streiten wir für die Abschaffung der Atomwaffen, bevor die uns abschaffen.
Wir setzen uns ein für atomwaffenfreie Zonen in Europa und im Nahen Osten.
Unser Ziel ist die Abschaffung der Atomwaffen weltweit.
Das ist nicht naiv, liebe Friedensfreunde. Halten wir es mit Brecht:
„Sage keiner: Erst müssen wir darüber sprechen, was für ein Friede es sein soll.
Sage jeder: Erst soll Friede sein. Dulden wir da keine Ausflucht, scheuen wir nicht den Vorwurf, primitiv zu sein! Seien wir einfach für den Frieden!
Diffamieren wir alle Regierungen, die den Krieg nicht diffamieren.
Erlauben wir nicht, dass über die Zukunft der Kultur die Atombombe entscheidet.“