IMI-Analyse 2014/021 - in: AUSDRUCK (Juni 2014)

Die Befriedung Rio de Janeiros

Ein Modell für die Aufstandsbekämpfung im urbanen Raum

von: Jonna Schürkes | Veröffentlicht am: 7. Juni 2014

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„Wir werden in den kommenden vier Jahren alle Gebiete, die von den Kriminellen kontrolliert werden, zurückerobern […] Wir werden den Gemeinden, die von der Parallelmacht beherrscht werden, den Frieden bringen“,[1] erklärte der heutige Gouverneur von Rio de Janeiro Sérgio Cabral vor vier Jahren. Was wie eine Kriegserklärung klingt, war wohl auch als eine gemeint. Die „Estrategia de Pacificação“ – die Befriedungsstrategie –, mit der die Armenviertel von Rio unter die Kontrolle des Staates gebracht werden, erinnert nicht nur begrifflich an den europäischen Kolonialismus, vor allem in Afrika: „[…] Befriedung kann nicht nur als eine militärische Aktion zur Niederschlagung des feindlichen Aufstandes, sondern als eine breitere und weitreichendere Maßnahme zur Errichtung einer neuen sozialen Ordnung verstanden werden“.[2]
Nicht von ungefähr setzte sich Cabral 2010 das Ziel, bis heute die Favelas in Rio befriedet zu haben, schließlich beginnt in wenigen Tagen die Fußball-WM der Männer in Brasilien. 2016 wird Rio der Austragungsort der Olympischen Spiele sein. Kurz nachdem die FIFA 2007 entschieden hatte, die WM in Brasilien austragen zu lassen, wurde die Befriedungsstrategie entwickelt, deren Herzstück eine Befriedungspolizei (Unidades de la Policía Pacificadora – UPP) ist.
Die Regierung von Rio ließ sich, eigenen Angaben zufolge, bei der Erarbeitung des Konzeptes von Strategien des Kampfes gegen die Guerilla und die Drogenkartelle in Kolumbien inspirieren.[3] Die US-Botschaft verglich die Strategie der UPP, in einer von Wikileaks veröffentlichten Depesche, mit der Aufstandsbekämpfungsstrategie des US-Militärs im Irak und in Afghanistan.[4]

Paramilitärische Besetzung…
Betrachtet man den Ablauf der Befriedung der Viertel, so ist der Vergleich mit einer militärischen Aufstandsbekämpfung nicht übertrieben. Die paramilitärische Polizeieinheit „Batalhão de Operações Policiais Especiais“ (BOPE) durchsucht wochenlang mit martialischem Aufgebot an schweren Waffen, Helikoptern und gepanzerten Fahrzeugen die Favelas nach Waffen, Drogen und Kriminellen. Da die Aktionen frühzeitig angekündigt werden, können die Drogen und Waffen vor Ankunft der Polizei aus dem Viertel entfernt werden. Dies bedeutet nicht – anders als es in der brasilianischen Presse lange dargestellt wird –, dass die Besetzung der Favelas ohne Kämpfe oder ohne massiven Gewalteinsatz vonstatten gehen. In den letzten Monaten haben die Berichte über willkürlich verhaftete, gefolterte, verletzte und getötete Favela-Bewohner zugenommen.[5] Immer wieder sterben Menschen, wenn die Spezialeinheiten in den eng bebauten Vierteln auf schwer bewaffnete Kriminelle treffen.[6]
Der Bevölkerung wird nicht nur durch die massive Zurschaustellung von Kriegsgerät klar gemacht, dass ihr Viertel besetzt ist. In vielen Favelas wurde die Fahne der BOPE gemeinsam mit der brasilianischen Nationalflagge gehisst, „gewissermaßen, um deutlich zu machen, dass ‚der Besitzer gewechselt‘ hat“.[7] Ist die militärische Besetzung des Viertels erfolgt, wird eine zivile „Befriedungspolizei“ (UPP) dauerhaft in der Favela stationiert. Um die notwendige Akzeptanz bei der Bevölkerung zu schaffen, soll zeitgleich das „UPP Sozial“ starten, dass die Infrastruktur innerhalb der Favelas verbessern soll – so das Konzept.
Inzwischen sind 38 Posten der UPP in Rio de Janeiro errichtet worden. Die Auswahl der Favelas, die von den UPPs kontrolliert werden, zeigt trotz anderslautender Behauptungen der brasilianischen Regierung, dass die Befriedungsstrategie in direktem Zusammenhang zu der bevorstehenden Fußball-WM und den Olympischen Spielen steht: „Die meisten der UPP-Posten befinden sich im Süden der Stadt oder um das berühmte Maracaña Stadion herum und schaffen so einen ‚urbanen Sicherheitsgürtel‘ um die Austragungsorte der FIFA Weltmeisterschaft und der Olympischen Spiele. Die übrigen Favelas, die sich in der Nähe von größeren Touristenattraktionen und Zugängen zu dem neu gebauten öffentlichen Transportsystem befinden, stehen auf der Liste der Gebiete, die demnächst im Rahmen des Programms pazifiziert werden sollen.“[8]

… und Vermarktung der Favela
Während immer mehr Favelas von den BOPE besetzt und festungsähnliche Stationen der zivilen UPP eingerichtet werden, ist von der versprochenen Verbesserung der sozialen Infrastruktur in den befriedeten Favelas kaum etwas zu spüren. Vordergründig handelt es sich bei „UPP Sozial“ vor allem um ein Programm zur Verbesserung des Images der Polizei in den Favelas. Insofern erstaunt auch nicht, dass das Sozialprogramm den Namen der Polizeiintervention trägt. Das Programm dient ganz offensichtlich der Vermarktung einer Strategie, bei der es darum geht, die Favelas unter die Kontrolle des Staates zu zwingen. Dies führt zu  grotesken Bildern, auf denen Polizisten der UPP-Einheiten in schusssicheren Westen in einer Kinderkrippe Kinder betreuen oder in Uniform Schüler in „Computertechnologie“ unterrichten.[9]
Das Programm „UPP Sozial“ allerdings als wirkungslos darzustellen, wäre falsch. Vielmehr verändert sich das Leben in der Favela grundlegend. So ist die Favela „Santa Marta“, die als erste 2008 befriedet wurde, heute eine Vorzeigefavela, die inzwischen von Reiseführern als Touristenattraktion verkauft wird.[10] Schwerwiegender ist die Öffnung der Favela für private Dienstleistungsfirmen: „Mit der Errichtung der UPP kam bald, noch bevor es Investitionen im Bildungs-, Sanitär- und Gesundheitsbereich gab, die Regulierung und Formalisierung marktförmiger Dienstleistungen wie die Energieversorgung“.[11] Zuvor hatten die Bewohner vieler Favelas ihre Grundversorgung illegal bezogen, was nicht ungefährlich aber bezahlbar war. Die ärmsten Bewohner werden jetzt aus ihrem Zuhause verdrängt, weil sie die Rechnung für diese Grundversorgung nicht mehr bezahlen können.

Zivil-Militärische Zusammenarbeit
Die Spezialeinheit BOPE ist geradezu ein Symbol für eine zunehmende Vermischung militärischer und polizeilicher Aufgaben. Als Polizeieinheit untersteht sie dem Innenministerium, ist jedoch militärisch ausgebildet und ausgerüstet. Auch das Militär selbst spielt – fast 30 Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur – eine zunehmend wichtige Rolle bei der Gewährleistung der inneren Sicherheit. Olympia und die WM haben diese Entwicklung beschleunigt[12] und es besteht die berechtigte Befürchtung verschiedener brasilianischer Organisationen, dass das Militär auch nach dem Ende der Spiele nicht mehr vollständig zurückgezogen wird oder werden kann. Ganz offensichtlich ist dies auch nicht das Ziel der Regierung: „[…] es freut mich sehr zu sehen, wie Zivil- und Militärpolizei heute zusammenarbeiten“, erklärte Cabral während eines Besuchs in einer der elf Kommandozentralen, in denen die Daten unterschiedlicher Dienste zusammentragen werden, um die elf Großstädte in denen die WM-Spiele stattfinden zu überwachen[13]
Das Militär wiederum freut sich über zahlreiche neue, hochmoderne Rüstungsgüter. Das Verteidigungsministerium kaufte in den letzten Jahren u.a. vier Drohnen aus Israel – zur Überwachung des Luftraums über den Austragungsorten; 34 Flugabwehrpanzer aus Deutschland – zum Schutz der Stadionbesucher; 30 Bodenroboter aus den USA, die bisher vor allem vom US-Militär in Afghanistan und Irak zur Aufklärung unzugänglichen Geländes eingesetzt werden[14] .Bei der WM sollen die Roboter „Sicherheit herstellen“, „Bomben entschärfen“ und „Verdächtige identifizieren helfen“.[15] Zusätzlich werden während der WM mehr als hunderttausend Soldaten im Einsatz sein, eine Sondereinheit der Armee wurde geschaffen, die vor allem in der Kontrolle von Massenprotesten ausgebildet wurde.[16] Das Militär kontrolliert die Flughäfen, die Hotels und die einschlägigen Straßen in Hinblick auf die WM.[17]

Unterstützung kommt aus Deutschland
Zur Ausbildung der brasilianischen Soldaten, an den von der Bundeswehr ausrangierten, Flugabwehrpanzern entsandte die Bundesregierung 2011 fünf Soldaten.[18] Außer dem Militär wird auch die brasilianische Polizei unterstützt, so wie es Angela Merkel 2009 angekündigt hat. Anlässlich eines Staatsbesuchs des damaligen brasilianischen Präsidenten Lula erklärte sie auf die Frage eines Journalisten, was Deutschland Brasilien angesichts seiner Erfahrungen mit der Fußball-WM 2006 in puncto Sicherheit vermitteln könne, „Wir bringen natürlich nur das bei, was Brasilien sich auch wünscht. Also der Gastgeber kann sagen, welche Ratschläge er gern von uns haben möchte.“[19] Offenbar wünschte sich Brasilien die  Ausbildung in „verschiedenen Taktiken unter anderem bei Bus- und Flugzeuginterventionen im Falle von Geiselnahmen und das Personenschutzkonzept […] sowie Schießübungen […] und Selbstverteidigungstechniken […]“. Dies waren die Bereiche, in denen Einheiten der BOPE und der Militärpolizei Divisão de Operações Especiais (DOE) von SEK-Einheiten 2013 in Hannover ausgebildet wurden. [20] Kritik an der Fortbildung ließ die Bundesregierung nicht gelten, schließlich ginge auch es um die Sicherheit deutscher Fans.[21]
Neben der Ausbildung der Spezialeinheiten in Bereichen, die der Niederschlagung von Protesten dienlich sein können, fanden in den letzten Jahren auch zahlreiche weitere Fortbildungen statt. Polizisten (vor allem des BKA und der Bundespolizei) gaben ihre Erfahrungen im „Umgang mit Großsportereignissen“ weiter. Deutsche Polizisten werden während der WM in Brasilien sein, um die Absicherung der Spiele zu unterstützen.[22]

Befriedung – weit über die WM hinaus
Christopher Gaffnes beschreibt die Umwälzungen innerhalb der brasilianischen Gesellschaft im Zuge von WM und Olympia als Schock-, und die dahinterstehende Doktrin in Anlehnung an Naomi Klein als Schockstrategie: „Die Megaevent-Stadt befindet sich durch die jahrelangen Bauarbeiten, die Verschuldung, die Umwandlung des täglichen Lebens, die mediale Werbung, die Ankunft Hunderttausender reicher Touristen und die Militarisierung des urbanen Raumes in einem Schockzustand. Dieser Schock hallt in Zeit und Raum nach, während die Instrumente zu seiner Durchführung sich in der Erinnerung auflösen.“[23] Tatsächlich ist nicht vorgesehen, dass die quasi militärische Besatzung der Favelas wieder aufgehoben wird. Die marktwirtschaftliche Erschließung der Favelas wird ebenso wenig wieder rückgängig gemacht werden können wie die Verdrängung der Ärmsten.
Das Militär spielt erneut eine wichtige Rolle in der brasilianischen Innenpolitik und hat zahlreiche hochmoderne Rüstungsgüter erhalten, die es selbstverständlich auch unabhängig dieser Großeinsätze einsetzen wird. Auch die Kontrollzentren werden wohl kaum nach 2016 wieder abgebaut. Mehr noch, die „Estrategia de Pacificação“ macht Schule in Lateinamerika, auch in den Ländern, in denen keine Großveranstaltungen ins Haus stehen.[24]

Anmerkungen
[1] Favelas: de la guerra a la paz, El Mundo, 01.10.2010.
[2] Neocleous, M. (u.a.): On Pacification, in: Socialist Studies/Études socialistes 9(2) Winter 2013, S.1.
[3] A UPP veio para ficar – Histórico. Vor allem die, als Operación Orión bekannt gewordene militärische Besetzung von Armenvierteln in der kolumbianischen Stadt Medellín 2002 durch Polizei und Militär wird als Vorbild des UPP-Konzeptes gesehen (Halais, F.: Pacifying Rio, 12.03.2013). Auch wenn schwere Menschenrechtsverletzungen der staatlichen Sicherheitskräfte nachgewiesen sind (die Regierung selbst spricht von 14 Toten, mehr als 200 Verletzten und 74 Verschwundenen), gilt diese Operation als Erfolg, brachte sie doch die Viertel wieder unter die Kontrolle des Staates.
[4] La contrainsurgencia aplicada en Afganistán se utiliza en Brasil, La Journada, 08.12.2010.
[5] UPP Security Crisis As World Cup Approaches, Rio on Watch, 16.05.2014.
[6] Número de mortes em ações da polícia cresce quase 70% no Rio, Radio Globo, 26.03.2014.
[7] Die neuen Bosse der Hügel, Le Monde diplomatique 8.2.2013.
[8]Saborio, Sebastian (2013): The Pacification of the Favleas: Mega Events, Global Competitiveness, and the Neutralization of Marginality, in: Socialist Studies/Études socialistes 9(2) Winter 2013, S. 130 – 145.
[9] Tackling Urban Violence in Latin America, Washington Office on Latin America, Juni 2011.
[10] s. z.B. Favela Tour in Rio de Janeiro, Lonely Planet.
[11] Light’s Abusive Billing and Questionable Service in UPP Favelas, Rio on Watch, 02.04.2014.
[12] Die Militarisierung der inneren Sicherheit scheint in den letzten Jahren Teil der Durchführung von Großereignissen zu sein (vgl. Giulianotti, R. / Klauser, F.: Security Governance and Sport Mega-events: Toward an Interdisciplinary Research Agenda, in: Journal of Sport and Social Issues, 34(1), 2010, S. 49-61.).
[13] Brasiliens WM-Überwachungstempel, Deutschlandfunk, 04.03.2014.
[14] Daniljuk, M./ Russau, C.: Brasilien rüstet für Olympia und WM auf, Amerika 21, 02.06.2013.
[15] Los robots que cuidarán al Papa en Brasil, BBC, 24.05.2013.
[16] Brasiliens WM-Überwachungstempel, Deutschlandfunk, 04.03.2014.
[17] Após falha no Rio, Exército assume segurança de aeroportos, hotéis e deslocamentos, O Globo, 29.05.2014.
[18] BT-Drs 18/1410, S. 8.
[19] Pressestatements von Bundeskanzlerin Merkel und Staatspräsident Lula da Silva, Pressekonferenz, 03.12.2009.
[20] Weitere mündliche Frage zu Ausbildungsinhalten deutscher Spezialkräfte für brasilianische Terrorpolizei BOPE im Rahmen der Fußball-WM 2014, Pressemitteilung Andrej Hunko, 05.06.2014.
[21] Ebd.
[22] BKA lädt brasilianische Terrorpolizei nach Hannover: Vorfall muss im Parlament behandelt werden, Pressemitteilung, Andrej Hunko, 28.05.2014.
[23] Gaffnes, Christopher: Mega-events and socio-spatial dynamics in Rio de Janeiro 1919-2016, in: Journal for Latin America Geography 9 (1), 2010, S. 27.
[24] Rio de Janeiro exporta modelo da Unidade de Polícia Pacificadora, Governo Do Rio de Janeiro, 13.12.2012.