IMI-Analyse 2013/027 (Update 08.10.2013) - in: AUSDRUCK (Oktober 2013)

Syrien: Giftgasangriffe und die Verstetigung des Bürgerkrieges

von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 27. September 2013

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Am 21. August 2013 kam es zu einem Giftgaseinsatz in Syrien, dem zahlreiche Menschen zum Opfer fielen[1], soviel ist nahezu sicher. Doch außerhalb dessen sind unzählige Fragen offen: Dies gilt vor allem für die nach wie vor ungeklärte Urheberschaft der Angriffe, mit der sich der erste Teil dieses Artikels beschäftigen wird. Dabei lässt sich zumindest sagen, dass die Fakten, die laut übereinstimmender westlicher Einschätzung zweifelsfrei nahelegen würden, dass Regierungstruppen verantwortlich zu machen seien, eine solch weitreichende Anschuldigung in keiner Weise hergeben. Stattdessen deuten mindestens ebensoviele Indizien darauf hin, dass die Angriffe von Rebellenseite verübt wurden, um so eine westliche Militärintervention zu ihren Gunsten herbeizuführen.

Auch die im zweiten Teil behandelte US-Reaktion auf die Giftgasangriffe sorgt auf den ersten Blick für eine Menge Irritationen. Schließlich hatte Washington (vor allem zusammen mit Frankreich, Großbritannien und den lokalen Komplizen Saudi Arabien und Katar[2]) viele Jahre lang gezielt auf den Sturz des syrischen Machthabers Baschar al-Assad hingearbeitet. Doch genau zu dem Zeitpunkt, an dem sich mit den Giftgasangriffen ein „idealer“ Anlass bot, den Bürgerkrieg[3] per Militärintervention zugunsten der Aufständischen zu entscheiden, vollzog die US-Regierung einen kompletten Kurswechsel. Schnell war nur noch die Rede von „begrenzten Luftschlägen“ und kurze Zeit später war ein militärischer Angriff ganz vom Tisch. Von einem Regimewechsel will – zumindest im Augenblick – in Washington anscheinend niemand mehr etwas wissen. Betrachtet man die verschiedenen Erklärungsmöglichkeiten für dieses Verhalten, so erscheint es am plausibelsten, dass die USA aktuell tatsächlich kein Interesse mehr an einem Sturz Assads haben, ebenso wenig aber an einem Sieg der Aufständischen und noch weniger an einer Verhandlungslösung. Das derzeit präferierte Szenario scheint darin zu bestehen, eine Verstetigung des Bürgerkriegs zu fördern, um hierdurch US-feindliche Kräfte – die Hisbollah und den Iran auf der einen und radikalislamistische Gruppen auf der anderen Seite – dauerhaft zu binden und zu schwächen.

Die US-Regierung scheint sich dabei ein Beispiel an der US-Strategie im ersten Golfkrieg genommen zu haben, als die USA alles dafür taten, dass sich der Iran und der Irak weiter bekämpften. Das damalige Kalkül scheint auch heute für Syrien zuzutreffen und wurde von Henry Kissinger, einem der Vorgänger Barack Obamas als Friedensnobelpreisträger, mit folgenden Worten bündig zusammengefasst: „Ich hoffe sie bringen sich gegenseitig um!“ (Counterpunch, 19.02.2013)

 

Teil I: Umstrittene Giftgasangriffe

Man muss kein Freund des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad sein und kann trotzdem anerkennen, dass er sich im bisherigen Verlauf der Auseinandersetzungen durchaus rational verhielt, indem er alles tat, um seine Herrschaft zu erhalten. So besehen müssten ihm die Giftgasangriffe eigentlich mehr als „ungelegen“ gekommen sein. In den Wochen und Monaten zuvor hatten die Regierungstruppen bedeutende Gebietsgewinne verzeichnet und waren eindeutig dabei, die Oberhand zu gewinnen. Vor diesem Hintergrund stellt sich insbesondere auch angesichts der von US-Präsident Barack Obama bekanntlich gezogenen „roten Linie“ die Frage, weshalb die Regierungsseite einen militärisch relativ sinnlosen Giftgaseinsatz angeordnet haben sollte. So schreibt etwa Uli Cremer auf der Homepage der Grünen Friedensinitiative (22.08.2013): „Welches Motiv sollte das Assad-Regime für den Einsatz von C-Waffen haben? Wir rekapitulieren: Im Sommer 2012 drohen Paris und Washington mit einer Militärintervention, sofern bzw. sobald C-Waffen eingesetzt würden. Daraufhin setzt das Assad-Regime dann immer wieder C-Waffen ein, um beide Regierungen zur Militärintervention einzuladen? Kaum sind die UN-Inspekteure im Land, schon ordnet er den nächsten Chemiewaffeneinsatz an?“

Angesichts dessen sollte man meinen, dass es besonders schlüssiger Beweise bedürfte, um die Assad-Regierung für die Urheberschaft der Giftgasangriffe vom 21. August 2013 verantwortlich machen zu können. Betrachtet man die Argumente aber genauer, so steht die Anklage auf tönernen Füßen und es spricht mindestens ebensoviel dafür, dass es Rebellen waren, die diese Tat verübt haben.

Wacklige westliche Beweislage

Bereits unmittelbar nach den Giftgasangriffen wussten die üblichen Verdächtigen schon ganz genau, dass die Schuld Assad anzulasten sei. Zunächst wurde deshalb teils gar argumentiert, weil die Sache so eindeutig sei, bedürfe der Vorfall überhaupt keiner Untersuchung seitens der Vereinten Nationen. Er sei “absolut davon überzeugt”, dass die syrische Regierung Giftgas eingesetzt habe, gab etwa US-Senator John McCain zu Protokoll: “Wir brauchen keine UN-Bestätigung, auch wenn es gut wäre, eine zu haben.” (Süddeutsche Zeitung, 26.08.2013)

Nachdem der Untersuchungsbericht der entsendeten UN-Inspektoren dann am 13. September 2013 veröffentlicht wurde[4], wiederholte sich sofort dasselbe Spiel: Aus dem Dokument sei zweifelsfrei herauszulesen, dass syrische Regierungstruppen verantwortlich wären: „‘Die technischen Einzelheiten des Uno-Berichts machen deutlich, dass nur das Regime diesen großangelegten Chemiewaffenangriff unternommen haben kann‘, sagte Samantha Power, die Uno-Botschafterin der USA. […] ‚Es gibt nun keinen Zweifel mehr, dass das Regime Chemiewaffen eingesetzt hat‘, sekundierte auch der britische Uno-Botschafter Sir Mark Lyall Grant. Der Bericht habe bestätigt: ‚Das Regime war verantwortlich.‘ Ähnlich äußerte sich Frankreichs stellvertretender Uno-Botschafter Alexis Lamek.“ (Spiegel Online, 16.09.2013)

Auch wenn von vielen Seiten rasch Zweifel angemeldet wurden[5], wird an diesem Urteil unter Verweis auf den UN-Untersuchungsbericht unbeirrt festgehalten. Tatsächlich hatten die Inspektoren aber nie die Aufgabe, die Urheberschaft der Angriffe zu klären. Sie sollten lediglich untersuchen, ob überhaupt Giftgas eingesetzt wurde. Aufhorchen lässt in diesem Zusammenhang die bislang nicht dementierte Aussage des syrischen Außenministers Walid Muallem, der angibt, es seien die USA und ihre Verbündeten gewesen, die darauf gedrängt hätten, das Mandat in dieser Form zu erteilen: „Wir hatten vorgeschlagen, das Mandat der UN-Experten auch durch die Möglichkeit zu erweitern, die Schuldigen zu ermitteln. […] Aber die USA und andere Länder wie Großbritannien sträubten sich dagegen und ließen die Mission nur feststellen, ob Kampfstoffe eingesetzt wurden oder nicht.“ (Freitag Online, 02.10.2013)

Jedenfalls stützen sich die Anschuldigungen gegen Assad im Wesentlichen auf drei Aspekte des UN-Untersuchungsberichts.

Dabei handelt es sich erstens um die beiden Raketen, die im UN-Bericht identifiziert werden konnten und aus syrischen Armeebeständen stammen sollen. Dies ist aber sehr zweifelhaft, wie Ruslan Puchow, Direktor des Moskauer Zentrums für Strategie- und Technologieanalyse, argumentiert. Der eine Raketentyp sei schon lange nicht mehr Teil des syrischen Arsenals, der andere sei es noch nie gewesen: „‘Das erste Geschoss lässt sich leicht identifizieren: Es wurde im Bericht als 140mm-Rakete vom Typ М-14 für den alten sowjetischen Mehrfachraketenwerfer BM-14-17 aus dem Jahr 1952 bezeichnet‘. […] Die syrische Armee habe alle Mehrfachraketenwerfer BM-14-17 schon längst außer Dienst gestellt, auch die Geschosse des Typs М-14 haben ihre Haltbarkeit seit langem überschritten. […] ‚Das zweite Geschoss vom Kaliber 360 mm stammt offenbar aus einem Eigenbau‘, so der Experte weiter. Er bezweifelte, dass die syrische Armee ‚derart primitive Munition produziert und einsetzt.‘“ (RIA Novosti, 17.09.2013)[6]

Das zweite westliche Argument bezieht sich auf die Richtung, aus der die Raketen laut UN-Bericht abgefeuert worden sein sollen, ein Gebiet, das sich unter Kontrolle von Assads Truppen befunden haben soll. Allerdings weist etwa Tony Cartalucci in einem Beitrag für das Ron Paul Institute for Peace and Prosperity (18.09.2013) darauf hin, dass im UN-Bericht lediglich der Begriff „Nordwesten“ verwendet werde. Dies sei überaus vage und könne auch Gebiete außerhalb der Kontrolle von Regierungstruppen umfassen. Darüber hinaus arbeitet Uli Cremer in seiner Analyse für die Grüne Friedensinitiative (02.10.2013) die eklatanten Unterschiede der US-Einschätzung und des UN-Berichts heraus: „Für den Tathergang ist wichtig, von wo die Trägerwaffen gestartet wurden. Vergleicht man das US-Dokument mit dem UN-Inspektorenbericht im Detail, ergibt sich ein Widerspruch, der medial geflissentlich übersehen wurde: Während das US-Assessment einen Raketenangriff aus dem Nordosten behauptet (aus dem Ort Adra), ist seitens der Inspektoren von „Nordwesten“ die Rede […]. In dieser Richtung liegt der Kassiun-Berg: ‚Dort befindet sich das Hauptquartier von Assads Elite-Einheit.’ In gleicher Richtung liegt allerdings auch der von Rebellen kontrollierte Stadtteil Barzeh, den bis Ende September 2013 das Regime trotz massiver Versuche noch nicht zurückerobert hatte.“ Aus der Richtungsangabe lässt sich also in keinem Fall zweifelsfrei auf eine Abschussstelle schließen, die sich unter Kontrolle von Assad-Truppen befand (selbst das wäre von fraglichem Erkenntniswert, da sich Raketenwerfer relativ schnell bewegen lassen). Es scheint ja nicht einmal über die grobe Richtung – Nordost oder Nordwest – zwischen US- und UN-Einschätzung Einigkeit zu geben. Nicht zu Unrecht findet sich im UN-Bericht eine Passage, in der er selbst auf die fragwürdige Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit seiner Ergebnisse in diesem Zusammenhang hinweist: „Die erforderliche Zeit für eine detaillierte Untersuchung beider Schauplätze und um Proben entnehmen zu können, war sehr begrenzt. Die Schauplätze wurden umfassend von anderen Individuen aufgesucht, sowohl vor als auch während der Untersuchungen. Fragmente und andere mögliche Beweisstücke wurden eindeutig angefasst/bewegt, bevor das Team vor Ort ankam.“

Bleibt noch das dritte Argumentationskonstrukt, nämlich dass nur Assad-Truppen über das entsprechende Giftgas verfügen würden. Dem hält Hans Springstein auf Freitag Online (16.09.2013) entgegen:  „Allgemein wird immer behauptet, die ‚Rebellen‘ seien gar nicht in der Lage, Sarin herzustellen oder einzusetzen. Dazu im Gegensatz gab es seit 2012 mehrere Meldungen, dass bei bewaffneten Extremisten chemische Kampfstoffe gefunden wurden.“ Belegt ist in diesem Zusammenhang etwa, dass türkische Sicherheitskräfte  am 30. Mai 2013 einen Wagen anhielten, in dem sie 2kg Sarin fanden und daraufhin 12 Mitglieder der Al-Kaida-nahen Al-Nusra-Front, die in Syrien aufseiten der Aufständischen kämpft, festnahmen (Global Research, 20.09.2013). Dass die Aufständischen zu einem Einsatz von Giftgas zumindest potenziell in der Lage sind, dafür haben laut  des Security Clearance Blogs von CNN (09.12.2012) die „USA und einige europäische Verbündete“ gesorgt. Dem Bericht zufolge hätten von diesen Ländern engagierte Militärdienstleister syrische Rebellen im Umgang mit Chemiewaffen ausgebildet – selbstverständlich offiziell lediglich, um diese bei Eroberung ordnungsgemäß sichern zu können.

Um es deutlich zu sagen: All diese Argumente entlasten keineswegs zweifelsfrei die syrische Regierung, es liegen aber zum jetzigen Zeitpunkt ganz sicher keine glasklaren Beweise vor, die eine Verantwortlichkeit Assads belegen würden.[7] Die Anklage gegen Assad steht also auf mehr als tönernen Füßen, weshalb der russische Außenminister zu einer gänzlich anderen Einschätzung als seine westlichen Kollegen gelangt: „Sergej Lawrow bleibt hingegen dabei: Die Rebellen hätten die Attacke ausgeführt, um einen internationalen Militärschlag zu provozieren.“ (Tagesschau Online, 17.09.2013)

Giftgasangriff unter falscher Flagge?

Während in den westlichen Medien die „Beweise“ dafür, dass Regierungstruppen für die Giftgasangriffe verantwortlich zu machen seien, in epischer Breite dargelegt werden, finden dem zuwiderlaufende Indizien vergleichsweise geringe Beachtung. Einer der Artikel, der in diesem Zusammenhang für am meisten Wirbel – und Kontroversen – gesorgt hat, wurde auf dem Nachrichtenportal Mint Press (29.08.2013) veröffentlicht, das dabei als Autoren den jordanischen Journalisten Yahya Ababneh und Dale Gavlak, Korrespondentin der US-Nachrichtenagentur AP, anführt (mehr hierzu später). Nach Befragung zahlreicher Personen vor Ort gelangt der Beitrag zu dem Ergebnis, für die Giftgastoten seien mit hoher Wahrscheinlichkeit Rebellen verantwortlich. Der Mannheimer Morgen (06.09.2013) fasste die wesentlichen Aussagen des Artikels folgendermaßen zusammen: „Nach Aussagen der befragten Rebellen seien diese von einem Saudi, der unter dem Decknamen Abu Ayesha ein Bataillon von Rebellen gegen Assad anführt, beauftragt worden, verschiedene Waffen, die die ‚Form von Rohren‘ und riesigen Gasflaschen gehabt hätten, in Tunnels zu verwahren. Sie seien nicht informiert worden, worum es sich bei diesen Waffen gehandelt hätte, noch wie man sie einsetzen würde. Dale Gavlak ist eine seriöse Journalistin, die seit zwei Jahrzehnten aus dem Mittleren Osten für AP, das amerikanische ‚National Public Radio‘ und BBC berichtet. AP allerdings weigerte sich diesmal, ihren Beitrag zu veröffentlichen. Der Artikel erschien erstmals im unabhängigen, im amerikanischen Minnesota stationierten Internetportal ‚Mint Press‘.“

Nachdem der Artikel zunächst zumindest im Netz hohe Wellen schlug, wurde es drei Wochen nach seiner Veröffentlichung dubios: Zunächst teilte Gavlak mit, ihr Ko-Autor Yahya Ababneh habe den Bericht komplett alleine verfasst, sie dränge deshalb über ihren Anwalt darauf, dass das Nachrichtenportal ihren Namen von dem Artikel entferne, was von diesem aber abgelehnt werde. Danach gab sie über ihren Anwalt an, sie habe zwar bei der Übersetzung der Interviews aus dem Arabischen ins Englische und bei der Anfertigung des Artikels geholfen und den Beitrag Mint Press angeboten, noch vor der Veröffentlichung jedoch in einer Mail darum gebeten, nicht als Autorin genannt zu werden (Global Research, 22.09.2013). Mint Press (21.09.2013) veröffentlichte daraufhin in einer ausführlichen Stellungnahme seine Sicht der Dinge. Man habe korrekt darauf aufmerksam gemacht, dass Gavlak die Interviews vor Ort nicht geführt habe, der Artikel selbst sei aber komplett von ihr verfasst worden, weshalb man sie als Ko-Autorin aufgeführt habe. Das ganze Problem bestehe vor allem deshalb, weil Gavlak, wie die AP-Autorin laut Mint Press in mehreren Mails angedeutet habe, unter „zunehmendem Druck Dritter“ stünde, ihren Namen von dem Artikel zurückzuziehen und so dessen Wahrheitsgehalt zu diskreditieren.

Was genau geschehen ist, bleibt bis zu einem gewissen Grad spekulativ. Phil Greaves erklärt sich die Sache in einem Artikel für Global Research (22.09.2013) so: „Will man eine hypothetische Erklärung anbieten, so scheint es wahrscheinlich, dass Gavlak den Bericht von einem vertrauenswürdigen Kollegen (Ababneh) erhielt und ihn anonym über ein kleineres Medium schleusen wollte, um mögliche Anfeindungen seitens ihrer Arbeitgeber aus dem Mediengeschäft zu vermeiden; zu dem Zeitpunkt hat Mint Press die kontroverse Natur des Artikels realisiert und Gavlaks Namen hinzugefügt, um seine Glaubwürdigkeit zu stärken (was durchaus sein Recht ist). Wie Gavlak richtig vorhergesehen hatte, wird sie nun unter Druck gesetzt, ihren Namen von der Geschichte zu entfernen und sie so zu diskreditieren. Ob der Bericht selbst wahr ist oder nicht, ist eine ganz andere Sache.“

Weitere Zeugen, die die Rebellen beschuldigen, sind der Lehrer Pierre Piccinin, ursprünglich Sympathisant der Aufstandsbewegung, und Domenico Quirico, Kriegsberichterstatter für die italienische Tageszeitung La Stampa. Sie wurden von verschiedenen Rebellengruppen in Haft gehalten und berichteten beide nach ihrer Freilassung, Gespräche belauscht zu haben, die belegen würden, dass die Giftgasangriffe von Aufständischen verübt worden seien. In Deutschland wurden diese Aussagen u.a. von Frontal 21 (17.09.2013) und dem Tagesspiegel (19.09.2013) aufgegriffen. Hier eine Zusammenfassung von Radio Utopie (10.09.2013): „So sagte Piccinin in einem Interview mit RTL Radio Belgien, dass es seine moralische Pflicht ist, darauf hinzuweisen, dass nicht die Regierung von Bashar al-Assad Sarin oder andere Arten von Gas in den Außenbezirken von Damaskus eingesetzt hat. Piccinin betonte, dass sie während ihrer Gefangenschaft von der Außenwelt abgeschnitten waren und keine Ahnung davon hatten, dass chemische Waffen eingesetzt wurden. Während diesem Zeitraum hörten sie ein englischsprachiges Skype-Gespräch zwischen ihren Entführern und andere Männern – Rebellen, nicht von der Regierung – über den Einsatz von chemischen Waffen am 21.August in der Nähe von Damaskus als einen strategischen Schritt der Opposition. In der italienischen Zeitung La Stampa sagte Quirico, dass in diesem Gespräch über einen Gasangriff auf zwei Wohnviertel von Damaskus als Provokation gesprochen wurde, um den Westen zu einer militärischen Intervention zu veranlassen. Quirico sagte, dass sie kaum etwas von der Situation im Land und somit nichts von dem Gasangriff in Damaskus erfuhren.“

Wenig Beachtung fand auch ein offener Brief an US-Präsident Barack Obama, der von zwölf ehemaligen, teils hochrangigen US-Geheimdienstmitarbeitern unterzeichnet wurde: „Wir bedauern Ihnen mitteilen zu müssen, daß – entgegen den Behauptungen Ihrer Regierung – Bashar al Assad für den Vorfall mit chemischen Substanzen nicht verantwortlich ist, bei dem am 21. August syrische Zivilisten getötet und verwundet wurden und daß britische Geheimdienstbeamte sich dessen bewußt sind. Mehrere unserer früheren Kollegen haben uns berichtet, daß absolut zuverlässige Geheimdienstinformationen dies eindeutig belegen. […] Unsere Quellen bestätigen, daß durch einen Vorfall mit chemischen Substanzen am 21. August in einem Vorort von Damaskus Menschen zu Tode kamen und verwundet wurden. Unsere Quellen betonen jedoch, daß dieser Vorfall nicht auf einen Angriff der syrischen Armee mit Chemiewaffen aus ihrem militärischen Arsenal zurückgeht.“ (junge Welt, 10.09.2013)

Ein letzter Hinweis, der die Rebellen belastet, stammt von einer Untersuchung Russlands, deren Ergebnisse von Außenminister Sergej Lawrow so zusammengefasst wurden: „Der Hauptschluss der Ermittlung durch russische Experten besteht darin, dass der Typ Sarin, der bei Aleppo angewendet wurde, primitiv ist. Wir haben auch Zeugnisse, dass das Sarin, das am 21. August bei Damaskus eingesetzt wurde, identisch war, nur in größerer Konzentration.“ (RIA Novosti, 26.09.2013) Diese Aussage ist insofern hochgradig brisant, als sie nahelegt, dass die Täter der Giftgasangriffe in Aleppo im März und in Damaskus im August 2013 entweder identisch waren oder zumindest mit extrem hoher Wahrscheinlichkeit demselben Lager angehören. Was die Angriffe in Aleppo – und damit wohl auch in Damaskus – anbelangt, so gibt es mit Carla del Ponte jedoch eine zumindest bis zu diesem Zeitpunkt im Westen als seriös und glaubwürdig geltende Person, die die Rebellen schwer belastete. Die ehemalige Chefin der Schweizer Staatsanwaltschaft geht als Mitglied der Uno-Sonderkommission für Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen in Syrien davon aus, dass die Giftgasangriffe von der Opposition verübt wurden: „In einem Interview für die Schweizer Fernseh- und Radioanstalt ‚Radiotelevisione Svizzera‘ stellte sie fest: Ausgehend von den Angaben, die die Kommissionsmitglieder nach ihren Besuchen in an Syrien angrenzenden Ländern bekommen haben, könne man den Schluss ziehen, dass ‚die Opposition und nicht die Regierung‘ C-Waffen, speziell Sarin, eingesetzt hätten. Entsprechende Zeugenaussagen haben die Mitglieder der Kommission von ‚Ärzten, Betroffenen und Mitarbeitern von Feldspitälern‘ bekommen.“ (RIA Novosti, 06.05.2013)

Auch hier handelt es sich keineswegs um glasklare Beweise für eine Täterschaft der Aufständischen, festzuhalten ist aber, dass dies mindestens ebenso wenig für eine Verantwortlichkeit der Regierungsseite zutrifft. Unverantwortlich ist es in jedem Fall zum aktuellen Zeitpunkt das weitere Vorgehen von der Annahme abhängig zu machen, man wisse zweifelsfrei, was in Syrien im Zusammenhang mit den Giftgasangriffen geschehen sei.

 

Teil II: Die US-Syrien-Strategie: Drei Erklärungsmodelle

Trotz aller ungeklärten Fragen halten die USA weiter an ihrer Einschätzung fest, die Giftgasangriffe seien von Assad-Truppen verübt worden. Wie erwähnt, hatte es dabei zunächst den Anschein, als sei die Entscheidung für einen militärischen Angriff bereits beschlossene Sache, bis die US-Regierung dann aber bereits wenige Tage nach den Giftgasangriffen von Präsidentensprecher Jay Carney verkünden ließ: „Die Optionen, die wir erwägen, drehen sich nicht um einen Regimewechsel.“ (Deutsche Welle, 27.08.2013) Für diese erstaunliche Entwicklung bieten sich im Wesentlichen drei Erklärungsmöglichkeiten an, die im Folgenden – nach Plausibilität geordnet – in den Blick genommen werden sollen.

Kritische Antikriegsmasse?

Durchaus denkbar ist, dass die US-Regierung schlichtweg entschied, dass die politischen Risiken eines Militärschlages zu hoch geworden waren. Dafür spricht zunächst einmal der heftige Widerstand Russlands, das mehr als deutlich angekündigt hatte, einen weiteren Regimewechsel per „Libyen-Option“ nicht hinnehmen zu wollen. Darüber hinaus ist Washington international zwar nicht vollkommen isoliert, an einer Militärintervention will sich außer Frankreich aber so gut wie kein Staat direkt beteiligen, nachdem sogar das traditionell fest an US-Seite stehende Großbritannien die Gefolgschaft verweigerte.[8] Dies trug dann auch nicht gerade zur Popularität einer Militärintervention bei, die von einer großen Mehrheit der US-Bevölkerung ohnehin abgelehnt wird. „Nur neun Prozent befürworten nach einer Reuters-Ipsos-Umfrage vom 23. August ein Eingreifen in Syrien, 60 Prozent sprechen sich dagegen aus. Selbst wenn dem Assad-Regime ein Giftgasangriff nachzuweisen wäre, wären nur 25 Prozent für eine Intervention und immer noch 46 Prozent dagegen.“ (Die Welt, 25.08.2013)

Träfe diese Einschätzung zu, so wäre das von US-Außenminister John Kerry vorgelegte Angebot, Syrien könne einem Militärschlag entgehen, wenn es bereit sei, seine Chemiewaffen zu vernichten, in sich schlüssig. Hierdurch wurde eine unliebsame Intervention vermieden, ohne trotz der roten Linien vollständig das Gesicht zu verlieren, indem argumentiert werden konnte, erst die Drohung mit Gewalt habe Assad in dieser Sache verhandlungsbereit gemacht.

Hiergegen spricht allerdings, dass sich die US-Regierung von völkerrechtlichen Bedenken, dem Widerstand anderer Staaten oder von der Skepsis der eigenen Bevölkerung bislang noch nie von einem Krieg hat abbringen lassen, sollte sie entschieden haben, dass er im nationalen Interesse liegt. Vor allem aber stellt sich die Frage, weshalb Washington weiter alles dafür tut, den Bürgerkrieg zu verstetigen (siehe unten). Denn wenn es wirklich darum ginge, „glimpflich“ aus der Sache herauszukommen, so würden sie dies tunlichst unterlassen. Generell deutet also wenig darauf hin, dass sich die Obama-Regierung ernsthaft für eine Deeskalation entschieden hat.

Betriebsunfall – Krieg weiter geplant?

Eine andere Erklärungsmöglichkeit für das Verhalten der US-Regierung könnte darin bestehen, dass sie nie wirklich die Absicht hatte, von einer Militärintervention und dem Ziel eines Regimewechsels abzurücken. Die Vehemenz, mit der seit Jahren hierauf hingearbeitet wurde, spricht eindeutig für diesen Verdacht. Auch die Zielstrebigkeit, mit der versucht wurde, Assad für die Giftgasangriffe verantwortlich zu machen und parallel dazu die „Notwendigkeit“ von Militärschlägen ins Spiel zu bringen, passt in dieses Bild. Zumal einflussreiche Regierungsmitglieder, allen voran die nationale Sicherheitsberaterin Susan E. Rice und UN-Botschafterin Samantha Power, nach wie vor massiv auf eine Militärintervention drängen.

Auch in der Ende September 2013 gehaltenen Rede von US-Präsident Barack Obama vor der UN-Generalversammlung gibt es wenig Hinweise darauf, dass die USA von dem Ziel, einen Regimewechsel in Syrien herbeiführen zu wollen, abgerückt wären: „Ein Führer, der seine Bürger dahingeschlachtet und Kinder zu Tode vergast hat, kann keinerlei Legitimität zurückgewinnen, ein schwer zersplittertes Land zu führen. Die Vorstellung, Syrien könnte zu einem Prä-Kriegsstadium zurückfinden, ist reine Fantasie. Es ist an der Zeit, dass der Iran und Russland realisieren, dass ihr Beharren auf Assads Herrschaft direkt zu dem Ergebnis führen wird, das sie fürchten: ein zunehmend gewaltsamer Raum, in dem Extremisten operieren können.“ (New York Times, 24.09.2013)

So besehen könnte es sich bei Kerrys Äußerung, eine Vernichtung der Chemiewaffen könne eine Intervention abwenden, um eine Art „Versehen“ gehandelt haben – dies legt zumindest die eilig nachgeschobene, aber zu späte Klarstellung des US-Außenministers nahe: „Der Durchbruch begann mit einer beiläufigen Bemerkung. US-Außenminister John Kerry war nach London gereist, um über die ausweglose Situation in Syrien zu beraten. Da sagte Kerry den Satz, der viel mehr veränderte, als der erfahrene Diplomat beabsichtigte. Die syrische Regierung, so Kerry, könne ihre Chemiewaffen unter internationale Kontrolle stellen und so einem Militärschlag entgehen. Das stiftete erst einmal: Verwirrung. Später betonte Kerry, das sei nur ‚rhetorisch gemeint‘ gewesen, doch da war es schon zu spät. Russlands Außenminister Sergej Lawrow hatte aus dem Satz bereits ein konkretes Angebot gemacht.“ (Süddeutsche Zeitung, 14.09.2013)

Aus dieser Sicht war das Kind mit Kerrys unbedachter Äußerung im Brunnen, eine Intervention war nun nicht mehr ohne weiteres durchführbar. Auch die Versuche, in der betreffenden UN-Resolution die Tür für einen Militärschlag wieder weit aufzustoßen, scheiterten: „Einer internationalen Militärinvention in Syrien wird ein bedeutendes Hindernis in den Weg gestellt. Der ausgehandelte Entwurf für eine UN-Sicherheitsrat-Resolution sieht keinen Automatismus vor, wonach die syrische Regierung bei Nichteinhaltung der Abmachungen unweigerlich militärische Strafmaßnahmen auslöst. Dazu braucht es eine erneute Entscheidung des UN-Sicherheitsrates. Diese kann nur mit Zustimmung Russlands und China erfolgen. So wurde eine weitere Eskalation des Krieges in Syrien zunächst verhindert.“ (Telepolis, 27.09.2013)

Gegen diese Interpretation spricht allerdings vor allem eines, nämlich dass die USA allem Anschein nach tatsächlich kein Interesse mehr an einem Sturz Assads haben. Dies hängt maßgeblich mit der „Radikalislamisierung“ der Aufstandsbewegung zusammen, über die seit Kurzem recht konkrete Erkenntnisse vorliegen. So kommt eine neue Studie der Beratungsfirma IHS Jane’s (Spezialgebiet Militärfragen) zu dem Ergebnis, insgesamt bestünde die Aufstandsbewegung aus 100.000 Kämpfern. Diese würden sich allerdings auf etwa 1.000 unterschiedliche Gruppen verteilen, die gegen die Regierung (und zunehmend auch untereinander[9]) kämpfen. Etwa 10.000 Aufständische würden direkt von Al-Kaida kontrolliert und 30.000-35.000 weitere seien als „Dschihadisten“ einzustufen, die Al-Kaida nahestünden. Moderaten islamischen Fraktionen werden schließlich etwa 30.000 Kämpfer zugeordnet (Antiwar.com, 15.09.2013). „In der bewaffneten Opposition dominieren Gruppen, die die Ideen der Islamisten in diesem Konflikt zumindest teilen. Die Idee, dass weltliche Oppositionsgruppen in diesem Konflikt kämpfen, ist unbegründet“, wird Charles Lister, der Verfasser des Berichts, zitiert (RIA Novosti, 16,09.2013).

Die von Jane’s diagnostizierte Radikalislamisierung der Aufstandsbewegung dürfte sich durch die am 25. September 2013 verkündete Abspaltung von dreizehn bewaffneten Gruppen, die laut Washington Post (25.09.2013) rund 75% der bewaffneten syrischen Aufständischen repräsentiert, noch weiter verschärfen. Die Gruppen haben sich zu einer Art „Islamistischen Allianz“ (IA) zusammengeschlossen und mit der vom Westen gestützten Nationalen Syrischen Koalition (und ihrem militärischen Arm, der Freien Syrischen Armee) gebrochen, die – so heißt es in einer IA-Erklärung – “uns nicht repräsentiert und die wir nicht anerkennen.” Stattdessen fordern die IA-Gruppen in ihrem ersten Internetvideo, das als „Kommuniqué Nr. 1“ bezeichnet wurde, “alle militärischen und zivilen Gruppen auf, sich in einem eindeutig islamischen Kontext zu vereinigen, der auf dem Scharia Recht als einziger Quelle der Rechtsprechung basiert.“ (Strategic Culture Foundation, 30.09.2013) Die Gründung der IA sei, wie Dmitry Minin plausibel argumentiert, ursächlich darauf zurückzuführen, dass die Versuche gescheitert sind, den Westen zu einer Militärintervention zu bewegen, was die besagten IA-Gruppen dazu veranlasst habe, nun die Masken und damit auch jeglichen pseudodemokratischen Anstrich fallenzulassen (ebd.).

Faktisch sind die mutmaßlich als „moderat“ geltenden pro-westlichen Kräfte der Nationalen Koalition bzw. der Freien Syrischen Armee stark geschwächt und marginalisiert, weshalb davon auszugehen ist, dass nach einem Sturz Assads radikalislamistische Gruppen die Kontrolle im Land übernehmen würden. Dies erklärt wiederum die Tatsache, dass die US-Regierung in den letzten Wochen und Monaten eine zunehmende Skepsis gegenüber der Aufstandsbewegung an den Tag legte, deren Sieg inzwischen nicht mehr im Interesse Washingtons zu liegen scheint. So erklärte US-Generalstabschef Martin Dempsey am 19. August 2013: „In Syrien geht es nicht darum, sich für eine von zwei Seiten, sondern für eine von vielen Seiten zu entscheiden. […] Ich bin der festen Auffassung, dass die Seite, die wir wählen, in der Lage sein muss, sowohl ihre als auch unsere Interessen zu verfolgen, sollte sich die Balance zu ihren Gunsten verändern. Gegenwärtig ist sie es nicht.“ (CBSNews, 21. August 2013)

Verstetigung des Bürgerkrieges als präferierte Option

Einen Sieg der Rebellen wollen die USA also ebenso wenig, wie dass sich Assad durchsetzt – was bezwecken sie aber dann?

Um diese Frage zu beantworten, gilt es zunächst zu klären, wie realistisch die jüngste Ankündigung der USA und Russlands ist, im November 2013 mit Friedensverhandlungen beginnen zu wollen – schließlich ist es nicht die erste Absichtsbekundung dieser Art. Wie außerdem erst kürzlich bekannt wurde, wurde eine bereits vor über einem Jahr von Kofi Annan vermittelte Einigung mit Russland, in Kürze Friedensverhandlungen aufzunehmen, von den USA systematisch hintertrieben: “Frühere Mitglieder von Annans Verhandlungsteam geben an, dass es – nachdem die damalige Außenministerin Hillary Clinton und Russlands Außenminister Sergei Lawrow am 30. Juni 2012 ein von Annan verfasstes Kommuniqué unterzeichnet hatten, das eine politische ‚Transition‘ in Syrien forderte – ein ebenso großes Momentum gab, einen Deal zu erreichen, wie ihn Kerry ein Jahr später über chemische Waffen erzielte. Danach flog Annan von Genf nach Moskau und gewann etwas von dem er glaubte, es sei die Zustimmung des russischen Präsidenten Wladimir Putin, damit zu beginnen, hinter den Kulissen auf Assads Abtritt hinzuarbeiten. Aber urplötzlich gaben beide, die USA und Großbritannien, öffentliche Stellungnahmen ab, in denen Assads Abtritt gefordert wurde, wovon sich Annan überrumpelt fühlte. Unmittelbar danach, legte die damalige US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Susan Rice, gegen Annans Rat eine ‚Kapitel-7-Resolution‘ vor, die die Tür für Gewaltanwendung gegen Assad aufstieß, was Annan für voreilig hielt. Annan trat einen Monat später zurück.“ (National Journal, 03.10.2013) Vor diesem Hintergrund lässt sich die Skepsis von Annans Nachfolger als Syrien-Sondergesandter der Uno, Lakhdar Brahimi, wohl besser nachvollziehen, der erklärte er sei skeptisch, ob es gelinge die Gespräche auf den Weg zu bringen (Spiegel Online, 06.10.2013).

Sicher lässt sich argumentieren, dass sich die Bedingungen vor Ort seit Sommer 2012 radikal verändert haben und die USA hierdurch ein gestiegenes Interesse an Friedensverhandlungen haben könnten. Wenn dem aber so wäre, weshalb um alles in der Welt wurden dann die Waffenlieferungen an Teile der Rebellen nach den Giftgasangriffen noch einmal deutlich intensiviert (Washington Post, 11.09.2013)?

Offiziell heißt es dazu, nur so könne Assad zu Gesprächen gezwungen werden. Doch die Aussichten auf Friedensverhandlungen verschlechtern sich durch die Lieferung von Waffen, weil sie die Gesprächsbereitschaft der Rebellen massiv unterminiert, worauf etwa eine Analyse des European Council on Foreign Relations (24.05.2013) warnend hingewiesen hat: „Das Problem der mutmaßlichen Genf-2-Anstrengungen ‚für den Frieden aufzurüsten‘ besteht darin, dass selbst eine begrenzte westliche Militärunterstützung das Streben der Opposition nach einem vollständigen Sieg verstärkt (was auch für die fortgesetzte Aufrüstung der Regierung zutrifft; beides muss enden), was innerhalb der Opposition gegen eine Akzeptanz für die Notwendigkeit arbeitet, Kompromisse und Machtteilung zu suchen. […] Begierden werden befördert, dass, wenn der Westen erst einmal direkt im Spiel ist, der Grad der Intervention sich unweigerlich erhöhen wird.“ Konsequenterweise will selbst die – im Vergleich zu den Radikalislamisten – als „moderat“ geltende Freie Syrische Armee von Verhandlungen derzeit dem Vernehmen nach nichts wissen. Ihr Generalstabschef Selim Idriss erklärte in Reaktion auf die Option zur Zerstörung der syrischen Chemiewaffen: „Wir werden den Vorschlag vollständig ignorieren und bis zum Sturz des Regimes weiterkämpfen.“ (Zeit Online, 14.09.2013)[10]

Für Friedensgespräche sind Washingtons Waffenlieferungen also kontraproduktiv – ebenso wenig tragen sie jedoch zu einem Sieg der Aufständischen bei, wie US-Generalstabschef Martin Dempsey betonte. Damit könne lediglich die gegenwärtige Übermacht der Assad-Truppen ausgeglichen werden, wodurch die Auseinandersetzung aber drohe in eine „Sackgasse“ zu geraten (junge Welt, 19.04.2013). Und womöglich ist es genau diese „Sackgasse“, in die man die Auseinandersetzung hineinsteuern möchte. Denn wenn die USA durch die Intensivierung der Waffenlieferungen an Teile der Rebellen lediglich noch weiter Öl ins Feuer gießen, sie den Bürgerkrieg damit verstetigen und jede Aussicht auf Friedensverhandlungen zunichtemachen, so liegt der Verdacht nahe, dass genau dies das Ziel der aktuellen US-Politik ist.

Gemäß diesem – wohl plausibelsten – Erklärungsversuch der gegenwärtigen US-Strategie stellt derzeit eine Art „Abnutzungsbürgerkrieg“ die bevorzugte Option dar. Denn ein fortdauernder (Bürger)Krieg bindet und schwächt auf der einen Seite Kräfte der feindlichen „Schiitischen Achse“ (Hisbollah, Syrien, zunehmend auch Irak, vor allem aber der Iran), die sich hauptsächlich im Kampf mit den ebenfalls anti-amerikanischen radikalislamistischen Gruppen gegenseitig aufreiben sollen. So wird etwa auf Time.com (14.06.2013) spekuliert, Ziel der USA sei es, „gerade einmal genug zu tun, dass beide Seiten weiterkämpfen. Das Assad-Regime stützt sich für die Kämpfe im Land zunehmend auf die Hisbollah. Die Rebellen stützen sich wiederum auf Dschihadisten und Al-Kaida-Verbündete, um zurückzuschlagen. Manche Kreise mögen es als nicht die schlechteste Sache sehen, die beiden aktivsten anti-amerikanischen Terrororganisationen dazu zu bewegen, sich weiterhin gegenseitig zu bekämpfen.“ In etwa dieselbe Richtung geht die nachvollziehbare Einschätzung des gewöhnlich gut informierten Nachrichtendienstes Strategic Forecast (14.06.2013): „Das strategische Interesse der USA besteht darin, nicht tiefer in einer weiteren uralten sektiererischen Blutfehde zu versinken, die die US-Fähigkeit ihre Position in anderen Ecken der Welt zu halten, beeinträchtigt. Der Iran kann aufgrund der jüngsten Erfolge der Loyalisten in Syrien Zuversicht an den Tag legen, aber hierbei handelt es sich nicht um einen Konflikt, der bald enden wird. Er wird deshalb immer größere Opfer von Syriens Verbündeten fordern, um zu verhindern, dass die Alawiten an Boden gegenüber der sunnitischen Mehrheit einbüßen. Aus Sicht der USA ist das keine schlechte Sache.“[11]

  

Anmerkungen


[1] Die genaue Zahl der Todesopfer ist vollkommen unklar und wird sehr unterschiedlich angegeben: „Die Amerikaner sprechen von 1429, darunter 426 Kindern, der britische Geheimdienst von mindestens 350 und die Franzosen von 281 Toten.“ (Mannheimer Morgen, 06.09.2013)

[2] Die Aufzählung dieser Protagonisten soll nicht bedeuten, dass Deutschland keine unrühmliche Rolle bei der Unterstützung der Eskalation gespielt hätte, allerdings war die der oben benannten Länder deutlich größer. Siehe zur deutschen (und europäischen) Rolle etwa IMI-Studie 2012/12.

[3] Ob angesichts der vielfältigen Einflussnahmen von außen mit Blick auf Syrien wirklich von einem Bürgerkrieg gesprochen werden kann, ist zumindest fraglich. In Ermangelung eines treffenderen Begriffs wird er hier jedoch ebenfalls verwendet.

[4] United Nations Mission to Investigate Allegations of the Use of Chemical Weapons in the Syrian Arab Republic, Report on the Alleged Use of Chemical Weapons in the Ghouta Area of Damascus on 21 August 2013.

[5] So schrieb etwa Clemens Ronnefeldt auf der Homepage des Versöhnungsbunds (17.09.2013): „Nach intensiver Lektüre des Dokumentes […] konnte ich keinen einzigen Satz oder Abschnitt im UN-Dokument finden, der die Interpretation rechtfertigt, ‘dass Truppen des Regimes von  Präsident Baschar al-Assad die Urheber sind.‘“

[6] Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass Spiegel Online (16.09.2013) unter Verweis auf Aussagen der amerikanischen UNO-Botschafterin Samantha Power angibt, ausgerechnet die „professionelle“ Machart der Waffen belege die Verantwortlichkeit von Regierungstruppen. Tatsächlich handelt es sich aber um vollkommen veraltete und ungenaue Waffen. Nachdem die allgemein als bestens ausgerüstet geltende syrische Armee über deutlich modernere und zuverlässigere Systeme verfügt, stellt sich zu Recht die Frage, weshalb sie für den Einsatz auf ein solches Equipment zurückgegriffen haben sollte.

[7] In diesem Zusammenhang geisterte bereits kurz nach den Giftgasangriffen die u.a. von Bloomberg (28.08.2013) kolportierte Mitteilung durch den Raum, eine (anonyme) UN-Quelle habe bestätigt, die USA hätten Telefonate abgefangen, die belegen würden, Maher Assad, der jüngere Bruder von Baschar al-Assad, habe den Einsatz autorisiert. Auch diese Meldung erscheint mittlerweile mehr als fragwürdig, nachdem der renommierte Journalist Robert Fisk im Independent (19.09.2013) schrieb, er stünde in Kontakt mit einem aus seiner Sicht glaubwürdigen Augenzeugen, der diese Aussage widerlege und zur fraglichen Zeit mit den infrage kommenden Einheiten vor Ort unterwegs gewesen sei.

[8] Der britische Premier David Cameron hatte eine Beteiligung an einer möglichen Syrien-Intervention von einem positiven Votum des Parlaments abhängig gemacht, was zur Folge hatte, dass das britische Unterhaus dies knapp (285 zu 272 Stimmen) ablehnte.

[9] Berichte, denen zufolge es zu vermehrten Kämpfen unter den Aufständischen kommt, gibt es schon länger. Bislang dominierten allerdings Auseinandersetzungen zwischen radikalislamistischen und kurdischen und/oder säkularen oder als „moderat“ islamisch geltenden Gruppen. So wurde im September 2013 die nahe der Türkei gelegene Stadt Azaz von radikalislamistischen Kräften erobert und die Freie Syrische Armee vertrieben, wie u.a. die BBC (20.09.2013) berichtete. Nun scheinen aber besagte radikalislamistische Gruppen auch begonnen zu haben, sich untereinander zu bekämpfen, wie das Nachrichtenportal NOW (23.09.2013) berichtet. Demzufolge sei es am 20. September 2013 in der Stadt Shaddadi zu Kämpfen zwischen den beiden Al-Kaida nahen Gruppen Islamic State of Iraq and al-Sham (ISIS) und Jabhat al-Nusra (JN) gekommen.

[10] Die zunehmende Marginalisierung der Freien Syrischen Armee könnte allerdings dazu führen, dass sie in absehbarer Zeit die Ablehnung von Verhandlungen überdenken – zumal sie zunehmend in Kämpfe mit radikalislamistischen Gruppen verwickelt ist. Jedenfalls berichtete Robert Fisk im Independent (30.09.2013), es habe bereits ein Treffen einer Delegation der Freien Syrischen Armee mit einem hochrangigen Regierungsmitglied stattgefunden, in der die Möglichkeiten für die Aufnahme von Friedensverhandlungen erörtert worden seien.

[11] Dies scheint auch im Interesse Israels zu sein, wie der bereits zitierte Brief ehemaliger US-Geheimdienstler unter Verweis auf einen Artikel der New York Times (05.09.2013) betont: „In einem wichtigen Artikel in der […] New York Times widmet sich die Jerusalem Korrespondentin Judi Rudoren in ungewöhnlich offener Weise den israelischen Beweggründen. In dem Artikel ‚Israel Backs Limited Strike Against Syria‘ (Israel unterstützt begrenzten Militärschlag gegen Syrien) berichtet sie, daß die Israelis etwas weniger hörbar argumentieren, daß kein Ergebnis das beste Ergebnis des zweieinhalbjährigen syrischen Bürgerkriegs wäre, zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Rudoren fährt fort: ‚So schrecklich er – unter humanitären Gesichtspunkten – auch sein mag, für Jerusalem ist der Status quo besser als ein Sieg der Assad-Regierung und seiner iranischen Unterstützer oder die Stärkung der Rebellengruppen, die zunehmend von den sunnitischen Dschihadisten dominiert werden. ›Dies ist ein Entscheidungsspiel, in dem beide Teams verlieren sollten, oder zumindest, in dem keines gewinnen sollte – wir würden uns mit einem Unentschieden zufriedengeben‹, sagte Alon Pinkas, der ehemalige israelische Generalkonsul in New York. ›Beide sollten bluten, sich zu Tode bluten: das entspricht dem strategischen Denken hier. Solange es so weitergeht, geht von Syrien keine wirkliche Gefahr aus.‹“ (junge Welt, 10.09.2013)